vonSabine Schiffner 11.09.2024

fremdeln

Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Am Abend ist ein Konzert im Cennet Bahce. Das ist türkisch und heißt auf Deutsch so viel wie Paradiesgarten. In diesem Paradiesgarten auf der Prinzeninsel Burgazada tritt heute Abend Cinan Mürtezaglo auf. Wir haben die Karten für das Konzert online gekauft. Mein Sohn kommt zu Besuch nach Burgazada, er wird meinen Liebsten und mich dorthin begleiten. Mürtezaoglu ist so eine Art Liedermacher, er begleitet sich selber auf der Gitarre. Von unserem Platz im Paradiesgarten aus können wir wunderbar in die Ferne und Richtung des Asiatischen Kontinentes und in dramatische Wolkenkonstellationen sehen, während die Sonne untergeht. Ein paradiesisches Ambiente also. Die ca. 100 Zuschauer*innen liegen halb hingegossen auf großen Kissen und singen alle Lieder mit, was wir leider nicht können. Mürtezaglo stoppt zwischendurch immer mal wieder mit seinem Gesang, um seine Fans singen zu hören. Er schreibt auch Songs für andere Bands, unter anderem meine Lieblingsband Ezginin Günlügü. Sein größter Hit mit 70 Millionen Klicks heißt weiße Orchidee https://www.youtube.com/watch?v=Dgzs3FhOZ7Q

Diesen Song, den man sich auf Youtube anhören kann, singt er mit für meine Ohren ziemlich arabesker/orientalischer Gesangsart. Genau über diese Art des Gesanges macht er sich während des Konzertes in Burgazada seltsamerweise etwas lustig. Die Songs, die er heute Abend singt, klingen eher westlich als orientalisch.

Als wir auf dem Rückweg vom Konzert sind, sehen wir plötzlich eine winzig kleine Katze am Rand der Straße sitzen. Mein Sohn, der eine Bekannte aus Istanbul namens Mariam mitgebracht hat, die Kurdin ist, hatte uns schon bei seiner Ankunft erzählt, dass eine türkische Freundin von ihnen am Morgen auf der Straße in Istanbul fünf gerade neu geborene Kätzchen gefunden, anderthalb Stunden gewartet und diese dann mit nach Hause genommen hatte.

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Sie hat heute Abend schon mehrmals bei Mariam angerufen, die sich mit Katzen auskennt, um zu fragen, wie sie es machen soll, damit die Kätzchen überleben, womit sie sie füttern kann, ob sie irgendwo eine Milchmutter finden kann. Daran müssen wir denken, als wir das winzige Kätzchen sehen, das schwach wirkt, aber die Augen schon geöffnet hat. Ich nehme es auf den Arm, es zittert. Wir können sie nicht mitnehmen, sage ich zu meinem Sohn. Was sollen wir mit ihnen machen? Wir können hier auf Burgazada keine Kätzchenmilch besorgen und selbst wenn, wo sollten wir die Kleine hinbringen? Nach Deutschland können wir sie nicht mitnehmen. Also setzen wir sie schweren Herzens wieder auf den Boden. Wir bringen unsere Besucher zur Fähre, die heute ausnahmsweise später fährt, um 1 Uhr nachts setzt sie noch ans Festland über.

Am nächsten Morgen regnet es in Strömen. Als wir zu unserem Lieblingsfrühstückslokal gehen, werden wir wie immer von unserem Lieblingskellner Hamid bedient, der schon weiß, was wir bestellen möchten. Nicht nur ich weiß das, alle hier im Lokal wissen es, sagte er uns vorgestern, nachdem wir zum dritten Mal zum kurdischen Frühstück kamen. Wieso kurdisch? Sein Großvater, der auch im Lokal mit anpackt und eigentlich viel zu jung ist für den Großvater eines Mannes wie Hamid, hat dieses Lokal vor vielen Jahren gegründet, sagt Hamid. Er stammte aus Erzincan, wie so viele Kurden hier auf dieser Insel. Sie kamen nach der Vertreibung der letzten Griechen von den Inseln hierher, alevitische Kurden aus Erzincan, die 1992 dort vor einem verheerenden Erdbeben geflüchtet und hier angesiedelt wurden. In Erzincan hatte es schon 1936 ein schlimmes Erdbeben gegeben, aber die Häuser waren danach nicht erdbebensicher aufgebaut worden, so dass 1992 schon wieder fast 700 Menschen starben und Tausende Häuser zerstört wurden.

Wir aber sitzen sicher und warm unter dem Vordach des Restaurants. Nicht nur wir und einige andere Menschen, die das trockene Obdach aufgesucht haben. Auch die Straßenhunde und Katzen von Burgazada haben sich hierhin geflüchtet und liegen zwischen den Menschen und nehmen den einen und anderen Leckerbissen entgegen. Menschen und Tiere wie immer in friedlicher Koexistenz: Typisch Türkisch!

Straßenhund in Burgazada
Katzen beim Frühstück

Eine Stunde später hat sich der Regen verzogen. Wir werden mit Handschlag und großem Bedauern von unseren neuen kurdischen Freunden aus Erzincan verabschiedet und fahren wieder zurück nach Istanbul.

Kaum sind wir wieder zurück in Istanbul, vermissen wir die Insel. Wie ruhig, wie entspannt, wie nah an der Natur sind wir doch dort gewesen. Und das alles nur eine Stunde Fährfahrt von Istanbul entfernt, für den uns lächerlich gering vorkommenden Preis von ca. 1,50 Euro. Hier in Istanbul hingegen ist schon wieder Stau angesagt, Gehupe, Benzingestank, Menschenmassen, aufgespritzte Lippen, haartransplantierte Köpfe, das Schrillen der Straßenbahn, Menschenmengen, Menschenmengen, Menschenmengen. Typisch Istanbul eben. Aber etwas fehlt, das in den letzten drei Jahren, seit ich regelmäßig hierhergekommen bin, die Geräuschkulisse wenigstens manchmal schön gemacht hat: Die Straßenmusik!!! Darüber habe ich schon einmal geschrieben, als ich im Februar dieses Jahres in Istanbul war. Seit damals ist es nicht besser geworden:

https://blogs.taz.de/fremdeln/fremdeln-in-der-fremde-2/

Die Straßenmusik ist spurlos aus Istanbul verschwunden! Angeblich müssen die Straßenmusikanten jetzt Gebühren zahlen, hörte ich von Freunden und auch, dass sie auf der Istiklal gar nicht mehr spielen dürfen. Aber ich sah in den letzten Tagen unseres Aufenthaltes auch an keinem anderen Ort irgendwelche Straßenmusikanten, weder am Kai in Eminönü und Karaköy, wo sie sonst immer waren, noch oben in Beyoglu. Viele dieser Musiker haben ihre Karriere auf der Straße begonnen, auch diese Sängerin hier, die einen kometenhaften Aufstieg genommen hat und die ich sehr mag:

https://www.youtube.com/watch?v=SIyDCyiN3v0

Wo sind sie bloß hin, all die vielen wunderbaren Musiker, die Trommler, die Sänger, Gitarristen, die Flötenspieler, die ich vor drei Jahren noch Tag und Nacht und überall habe spielen hören? Auch die undefinierbare Instrumente spielenden Menschen gibt es hier jetzt nicht mehr und auch nicht die Bellaciao spielenden Roma, all ihre sehnsüchtige, rebellische, traurige Musik hat keinen beglückenden Effekt mehr in all dem Lärm- und Geräuschchaos der Großstadt. Ich poste hier ein Video von einem Sänger, dem ich früher so gerne zugehört habe. Wo ist er geblieben?

https://www.instagram.com/p/C3x6usGrtB8/?hl=de

Während ich an diesem Blog schreibe, klingelt mein Telefon. Mein Sohn ist dran. Er erzählt mir von seiner Rückfahrt aus Burgazada. Wie sie auf dem Schiff noch den Sänger Cihan Mürtezaoglu trafen und mit ihm redeten und dass sie gesagt hätten, dass sie gedacht hätten, er würde mit einer Privatyacht fahren, woraufhin er wohl gesagt habe, er sei doch ein Mann des Volkes und wolle es bleiben und würde deshalb immer mit der Fähre fahren. Und wie er dann noch etwas gespielt und die vielen jungen Menschen auf dem Schiff angefangen hätten, zu tanzen und zu singen, und zwar die ganze Überfahrt lang. Und dass er plötzlich eine Frau gesehen habe, die das kleine Kätzchen, das wir nicht mitgenommen hatten, bei sich getragen habe. Sie wollte versuchen, es groß zu ziehen, habe sie ihm erklärt. Und wie geht es den fünf kleinen Kätzchen der Freundin von Mariam, frage ich. Gut, sagt er, sie trinken fleißig und werden es wohl überleben. Überlebenskünstler eben. Nicht nur die Katzen. Auch viele Menschen in der Türkei.

 

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