vonSabine Schiffner 23.04.2024

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Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Aus der Geschichte lernen: Als ich vor sechs Jahren in Auschwitz war, war mein erster und wichtigster Gedanke: Das hier sollte jedes deutsche Kind zu sehen bekommen! Alle Schüler sollten verpflichtet werden, einmal während ihrer Schulzeit nach Auschwitz zu fahren, meinte ich damals. Damit würde sich das Antisemitismusproblem zumindest für den deutschen Nachwuchs erledigt haben. Wenig später war ich selber als Lehrerin tätig, unterrichtete Praktische Philosophie in einer Klasse, in der nur muslimische Schüler waren. Die christlichen Schüler dieser Jahrgangsstufe an einer Realschule in Köln besuchten nämlich den Religionsunterricht. Da unter diesen auch ein jüdischer Junge war und ich genug hatte von den antisemitischen Anfeindungen und dem dauernden „Du Jude!“, wenn dem einen oder anderen das Gesicht des einen oder anderen nicht passte, buchte ich eine Führung durch die Kölner Synagoge und schaute anschließend mit meinen lieben Schülern den Film „Schindlers Liste“.

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Das führte dazu, dass sie alle weinten. Sie ließen sich berühren und schworen, dass sie ihren „Cousins“, den jüdischen Menschen, die so viel erlitten hatten, nichts mehr zu Leide tun wollten. Sie bezogen außerdem das Thema sofort auf sich und stellten sich voller Entsetzen vor, wie es wohl wäre, wenn sie selber in ein Ghetto eingesperrt und in den Tod verfrachtet würden. Eine Auschwitzfahrt wäre auch aus finanziellen Gründen damals mit ihnen nicht möglich gewesen. So etwas fand nur in Gymnasien statt. In Geschichte waren meine Realschüler in der zehnten Klasse mal gerade bis zum Ersten Weltkrieg gekommen und würden sowieso bald in die Lehre bzw. auf Fachoberschulen entlassen werden, wo sie nie wieder etwas vom dritten Reich hören würden.

Gestern bin ich zum ersten Mal nach Bergen-Belsen gefahren – dem Konzentrationslager, das meiner Heimatstadt Bremen am nächsten ist. Anlass war ein Ausflug meiner evangelischen Kirchengemeinde in Horn, in der gerade eine Reihe mit Veranstaltungen zur Aufarbeitung des NS-Terrors in unserem Stadtteil läuft. Das Wetter war schon am Morgen furchtbar, es regnete und war eiskalt. Im Bus saßen vierzig Menschen, der Älteste schon 95. Er erzählte, dass er in seinem Leben schon in vielen Lagern und auch in Auschwitz gewesen sei und wurde von seiner wenig jüngeren Frau begleitet. Der jüngste Mitfahrer war 14, denn eine Gruppe von Schülern hatte sich auch der Fahrt angeschlossen. Die meisten Mitfahrer*innen waren aber in meinem Alter, wir, die Babyboomer, sind 20 Jahre nach Ende des letzten Krieges geboren. Seltsamerweise habe ich als Schülerin von Bergen-Belsen wenig bis gar nichts gehört. Nie war während meiner Schulzeit, während der wir sehr viel über das dritte Reich erfuhren, davon die Rede, dass es so nahe an Bremen ist, nämlich nur 100 Kilometer.

Als wir am Morgen los fuhren, hatte ich eine schlaflose Nacht hinter mir, weil ich mir am Vorabend zur Vorbereitung auf die Fahrt einen Film im Internet angesehen hatte. Dieser Film wurde in den Tagen der Befreiung des Lagers gemacht. Zehntausend verhungerte Leichen fanden die Briten dort vor und sechzigtausend Menschen in elendem Zustand, von denen viele auch nicht überlebten. Die Aufnahmen mussten sich nach 1945 viele Menschen ansehen, von denen dann später viele immer noch so taten, als hätten sie nichts davon mitbekommen. Auch meine Mutter hatte den Film als Jugendliche gesehen, war nach Hause gekommen und wurde von ihrem Vater geohrfeigt, als sie fragte, ob das denn wahr sei. Alles Lüge, hatte mein Großvater gemeint. Er hatte selber Dreck am Stecken.

Wie nahe die Häuser von manchen Städten an den Vernichtungslagern waren, konnte ich in Auschwitz sehen. Bergen-Belsen ist kein Vernichtungslager gewesen und es war doch so eine Art Vernichtungslager, angesichts der vielen Menschen, die dort ermordet wurden. Wir fuhren gestern von Bremen aus kommend nach einstündiger Fahrt von der A 27 ab. Die Fahrt ging durch ein weitläufiges militärisches Sperrgebiet. Panzerwaschanlage, las ich auf Schildern und sah die Panzer neben alten Bauernhäusern stehen. Hier wohnte schon lange kein Mensch mehr. An dem Platz, an dem wir erstmals anhielten, ein weiteres Schild: Verladerampe! Die Rampe am Bahnhof Bergen-Belsen war keine Selektionsrampe wie die in Auschwitz. Aber auch hierher, in das abgelegene Gebiet wurden fast alle Menschen per Bahn gebracht. Erst kurz vor Ende des Krieges, als kaum noch Züge fuhren, kamen die Todesmärsche aus den anderen Lagern zu Fuß. Die Rampe ist bis heute die Verladerampe des Militärs, aktuell der Nato. Sie darf nicht betreten werden, wurde uns gesagt.

Daneben steht ein kleiner hölzerner Waggon, vor dem nun wir standen und sehen konnten, wie viele Menschen damals in einen solchen Waggon gequetscht wurden, eigentlich ein Viehwaggon, die Lüftungsschlitze reine Attrappe. Anfangs nur 40-60 Menschen, sagt unser Guide, später dann bis zu 100. Wir standen in strömendem Regen, während uns erzählt wurde, dass die Menschen hier teilweise bis zu 15 Tage stehend unterwegs waren, so qualvoll eng war es. Diejenigen, die starben, wurden von den lebenden Stehenden gestützt, bis die Türen endlich aufgingen. Schrecklich, was wir erfuhren. Die beiden Jungen, mit denen ich im Waggon stand und die sich auf die Markierungen stellten, die anzeigen, wie eng die Menschen dort gestanden haben, waren ebenso wie ich erschüttert. Mit fassungslosen Augen schauten sie sich um, als ich von ihnen ein Foto machte. Ja, dachte ich. Jedes Kind in Bremen und Niedersachsen und auch in Schleswig-Holstein sollte einmal während seiner Schulzeit hierherkommen. In den anderen Bundesländern gibt es auch Lager wie dieses.

Als Nächstes fuhren wir die sechs Kilometer per Bus zum Lagereingang. Sechs Kilometer waren für die völlig entkräfteten Menschen, die vor achtzig Jahren per Zug gekommen waren, kaum zu schaffen. Im Eingang stehen heute blühende Birken, damals standen hier die Häuser der SS-Männer und Frauen. Dazu gehörten unter anderem drei später hingerichtete weibliche Aufseherinnen, von denen eine erst Anfang zwanzig war. Alle drei waren vorher in Auschwitz tätig und dort ihrer Grausamkeit wegen berühmt-berüchtigt gewesen, wovon unser Guide uns aber nichts erzählte.

Er zeigte uns das Foto vom Lagerkommandanten, der neben seinem Haus einen Swimming-Pool erbauen ließ und erzählte, dass dieser Kommandant später angab, er habe doch nur für Ordnung sorgen wollen. Als er gefragt wurde, ob er ein guter Vater gewesen sei, habe er gesagt, ja, das sei er gewesen. Er habe auch bei seinen Kindern für Ordnung gesorgt, das sei das Wichtigste. An der Seite dieses Kommandanten auf der Aufnahme während ihrer Festnahme steht eine kleine schlanke Frau mit Zöpfen und im Jungmädellook, mit Bluse und Rock. Bei ihr handelt es sich um eine der grausamen KZ-Aufseherinnen aus Auschwitz, die alle im Januar 1945, als Auschwitz befreit wurde, nach Bergen-Belsen kamen und dort noch bis Ende April ihr schreckliches Tun fortführten.

Dann ging es durch Regen und Wind weiter in Richtung des Museums, in dem die Geschichte von Bergen-Belsen erzählt wird. Was ich nicht wusste: Das Lager war anfangs als Austauschlager konzipiert. Dort wurden Juden gefangen gehalten, die man gegen Geld und Waffen ins Ausland verkaufen konnte. Das dritte Reich entmenschlichte die jüdischen Menschen, machte sie zu Ware. Es machte sich über sie lustig, indem es neben dem Lager Schweine hielt, es demütigte sie, indem es den jungen Frauen bei der Ankunft die Haare abschnitt und die ermordeten Menschen verbrannte, damit nichts von ihnen übrig blieb, worüber sie trauern konnten, erzählte uns der Guide und entließ uns dann zu einem langen Spaziergang durch das beeindruckende Gebäude, das an Yad Vashem erinnert. Die vielen Fotos von den Häftlingen, die Erinnerungsstücke, es ist gut, dass auf diese Weise wenigstens etwas von den vielen ermordeten Menschen übriggeblieben ist. Die russischen Kriegsgefangenen, die nicht in Baracken untergebracht wurden, sondern einfach auf dem freien Feld „ausgesetzt“ wurden und die sich seit 1941 mit Löffeln Erdhaufen gruben, in denen sie lebten und starben, waren die größte Gruppe an Häftlingen und diejenigen, von denen die meisten ums Leben kamen.

Die Schüler*innen unserer Gruppe sah ich nach einer Weile still mit der sie begleitenden Sozialpädagogin auf einer Bank sitzen. Auch mir war überhaupt nicht mehr zum Reden zumute. Die einzigen Fotos, die nicht zum Weinen sind, sind Fotos von sehr mutig und siegessicher in die Kamera schauenden Häftlingsfrauen, die laut Aufschrift polnische Soldatinnen waren. Es sind, las ich, Abzüge von Negativen, die ein französischer Häftling rausgeschmuggelt hat. Ich hatte noch nie von diesen polnischen Soldatinnen gehört und lese später, dass sie beim Warschauer Aufstand beteiligt waren. Angehörige der Polnischen Widerstandsarmee hatten im Jahr 1944, nach der Auflösung des Ghettos, gegen die deutschen Besatzer revoltiert. Sie wurden gefangen genommen, 9000 von ihnen, darunter viele Frauen, sind damals nach Deutschland gebracht worden. Zwei der Biografien lese ich nach, zwei junge Frauen die mich besonders beeindrucken, die von Wanda Chrusciel und die ihrer Schwester Jadwiga, beide Töchter des Generals Antoni Chrusciel, der den Aufstand angeführt hatte und der ebenso wie seine Töchter überlebte. Über die beiden Frauen ist nichts im deutschsprachigen Internet zu finden. Aber über die KZ-Aufseherinnen gibt es sehr viel Material. An sie sollte eigentlich nicht erinnert werden.

Anschließend gingen wir noch zu den Massengräbern, in denen nach der Befreiung des Lagers die ehemaligen KZ-Aufseher*innen unter Aufsicht der Briten die Leichen der von ihnen Ermordeten werfen mussten. Mahnmäler, unter anderem auch für die hier ermordeten türkischen Staatsangehörigen, stehen am Ende des Gräberfeldes. Etwas abseits dann das älteste Mahnmal für die ermordeten jüdischen Menschen in Deutschland, es ist von 1946 und es wurde von Häftlingen errichtet. Gleich daneben der Gedenkstein für Anne und Margot Frank, die beiden Schwestern, die auch hier in Bergen-Belsen ermordet worden sind. Wir standen davor, der Himmel war jetzt endlich aufgerissen, die Sonne kam hervor, aber wir froren, während unser Guide uns die Details von Anne Franks Sterben erzählte.

Was für ihn am eindrucksvollsten gewesen sei, frage ich einen der Schüler, mit dem ich mich auf dem Rückweg unterhalte. Auf dem Gräberfeld die Gegenwart der vielen ermordeten Menschen zu spüren, war furchtbar, sagt er zu mir. Im Bus sammeln wir noch Geld. Für unseren Busfahrer und für unseren Guide. Das Geld ist aber nicht für ihn persönlich, sondern für das nahe Anne Frank-Haus, eine Begegnungsstätte des CVJM, für das dieser heute ehrenamtlich gearbeitet hat. Es ist nämlich von der Schließung bedroht, hat er uns eben noch gesagt. Anscheinend gibt es nicht mehr genug Unterstützung dafür. Aus der Geschichte lernen?

 

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