„Mach das Fenster zu, der Muezzin singt“. Es ist sechs Uhr morgens und direkt neben unserem Fenster ist das Minarett der Şahkulu Camii. Die ersten Sonnenstrahlen kommen gerade eben aus dem Osten und der Himmel fängt an, sich rosérot zu färben. Aber für uns ist es gefühlt noch vier Uhr morgens, viel zu früh, um sich schon wecken zu lassen. Es dauert noch ein wenig, bis wir uns an die zwei Stunden Zeitunterschied gewöhnen werden. Drei Stunden Flug von Bremen bis Istanbul, zwei Stunden Zeitunterschied, aber gefühlt mindestens tausendundeine Stunden Entfernung; Istanbul ist wieder einmal überwältigend. Seit 2021 bin ich insgesamt fast 11 Monate hier gewesen und fühle mich schon ein wenig wie zu Hause, aber so richtig zu Hause fühlen kann ich mich auch nicht; hier ist jedes Mal wieder etwas ganz anders. So zum Beispiel, dass es jetzt so gut wie gar keine westlich aussehenden Touristen, aber dafür noch viel mehr sehr islamisch aussehende Konditoreien gibt, die neuerdings am Freitag, zur Gebetszeit, mittags schließen. Das gab es vor drei Jahren, als ich das erste Mal hier war, noch nicht. Aber auch damals saßen in diesen Konditoreien vor allem Menschen aus arabischen Ländern, rauchten vor der Tür ihre Shishas, aßen bunte süße Kuchen, genauso wie heute immer noch.
Zum Frühstück ging ich mit meinem Liebsten in eine traditionell türkische Konditorei, von der aus man einen fantastischen Blick über Istanbul hat, aber in der es (muslimische) Gebetsräume gibt, weshalb man dort auch keine alkoholischen Getränke bekommt. Am Nachbartisch saßen vier für uns sehr fremd aussehende Menschen, drei mit Kopftuch, einer war wohl der Sohn einer der Frauen. Türk*innen waren die jedenfalls nicht, die meisten Türk*innen können sich die enorm gestiegenen Preise in diesen Läden doch auch gar nicht mehr leisten, hörte ich gestern. Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal hier frühstückte, bezahlte ich weniger als die Hälfte von dem, was wir heute zahlen. Kaum waren wir fertig mit frühstücken, sprachen die Frauen, die mich vorher schon immer neugierig angelacht hatten, uns an, fragten, woher wir denn wohl kämen. Aus Deutschland! Wie toll! Sie seien Saudis, im Urlaub hier. Das fanden wir sehr interessant.
Saudis trifft man ja doch sonst eher sehr selten, musste ich denken. Ich wusste auch gar nicht, dass die so nett sind, musste ich auch denken und erschrak über meine eigenen Gedanken. Ob sie zum ersten Mal hier seien, fragte ich. Ja, sagten sie. Und wie es ihnen gefallen würde?, fragte ich dann noch und fühlte mich so, als sei ich schon fast eine Art Istanbulerin und würde sie hier willkommen heißen. Ach, die Türken würden sie überhaupt nicht mögen, nein, Türken sind sehr unsympathisch, sagte mir die älteste der Frauen. Ich zuckte zusammen, denn solche groben Verallgemeinerungen macht man doch nicht! Deutsche Menschen seien viel netter, sie seien so warm, fuhr sie fort, viel freundlicher auch und Deutschland sei überhaupt so schön, viel schöner als die Türkei. Aha. Mein Liebster fand das sehr kurios. So etwas hatte er im Urlaub über Deutsche noch nie gehört. Ich hingegen war nicht erstaunt, denn ich habe in den letzten Jahren in der Türkei oft so etwas gehört. „Wir Türken hassen die Araber“ erzählte mir gestern Abend beim Rakitrinken in der Meyhane eine Tischnachbarin, mit der ich darüber sprach. Das war schon immer so, die Araber passen einfach nicht zu uns Türken, die sind verglichen mit uns Barbaren.
Am nächsten Tag fuhren wir mit der Fähre auf die Prinzeninseln. Uns gegenüber saß ein junges Pärchen. Die beiden sprachen uns irgendwann auf Deutsch an, sprachen sehr langsam, aber ausgewählt und erzählten, dass sie aus dem Iran seien und im Sommer nach Deutschland auswandern würden. Die Frau sei Intensivkrankenschwester und habe schon einen Job, und zwei Kinder würden sie auch mitbringen. Das fanden wir sehr gut und lobten besonders ihr Deutsch, das sie sich schon per Onlinekurs beigebracht hatten. Auch sie fanden wieder Deutschland so herrlich, verglichen mit dem Iran. Es sei doch so schön, dass es dort so oft regnen würde.
Für die Menschen hier ist Deutschland das Paradies, sagte mein Liebster, als wir vom Schiff gingen. Stell dir mal vor, was die ewig über Deutschland mäkelnden Deutschen sagen würden, wenn sie so etwas hören! Dass das Erstaunen hervorrufen würde, die Vorstellung, dass die Menschen hier Deutschland für das Paradies halten, das konnte ich mir in dem Moment gut vorstellen. Im Ausland sieht man die Heimat oft mit ganz anderen Augen. Und ich musste plötzlich an die kleine Katze denken, die ich heute morgen gesehen hatte, diese gepflegte hübsche Straßenkatze mit ihrem bezaubernden Halstuch, die jeden Morgen vor der Tür des Geschäftes sitzt, dessen Besitzer sich um sich kümmert. Und dann dachte ich sofort, dass die tierliebenden Deutschen das doch sicherlich auch sehr mögen würden, wenn sie denn hierher kommen würden. Aber wir sind seit vier Tagen hier und haben immer noch keine*n Deutsche*n getroffen.
Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, dass die meisten Menschen hier in der Türkei kein Englisch sprechen, was für mich kein Problem ist, weil ich Türkisch spreche und es fällt uns nicht mehr auf, dass wir fast alle Menschen hier überragen, weil sie kleiner sind als wir und dass es in den Gegenden in Istanbul, in denen wir herumlaufen, außer uns meist keine Touristen gibt, weshalb wir oft sehr erstaunt beäugt werden. Im Anschluss an das Frühstück fuhren wir heute nach Ortaköy und trafen meine ehemalige Austauschschülerin Zeynep. Sie, die Schülerin des Deutschen Gymnasiums in Istanbul, hatte mal wieder keine Lust, Deutsch zu sprechen, wie so oft, sie behauptet, sie habe ihr Deutsch vergessen und so taten wir es wie so oft, ich sprach deutsch, sie antwortete auf englisch. Als sie uns anschließend zum Bus brachte, sagte auf einmal eine Mädchenstimme hinter uns Wir sind auch Deutsche! Als ich mich umdrehte, erblickte ich zwei in meinen Augen sehr türkisch aussehende junge Mädchen mit wunderschönen schwarzen Haaren und dunklen Augen. Hatten sie uns angesprochen? Ja. Sie lachten uns an und wir fühlten uns sofort wohl, weil wir endlich mal jemanden getroffen hatten, mit dem wir ein paar Worte auf Deutsch wechseln konnte und der nicht erstaunt guckte, wenn er uns sah. Wir kamen ins Gespräch und fragten die beiden nach dem Woher und dem Wohin. Sie erzählten, dass sie ein Auslandssemester machen hier in Istanbul, aber schon öfter hier waren, nur immer bei ihren Familien. Aber jetzt sei alles ganz anders, ohne die Familie seien sie jetzt endlich mal ganz frei und würden alles hier in Istanbul viel mehr genießen können, die tollen Ausgehmöglichkeiten, die Clubs, die freiheitliche Stimmung. Die beiden sahen, während sie das sagten, richtig glücklich aus. Und ich stellte mir vor, dass ich bestimmt auch glücklich gewesen wäre, wenn ich in ihrem Alter die Möglichkeit gehabt hätte, ein halbes Jahr in der Türkei zu leben. Es ist gut, dass sie hier so frei leben und ihr Leben genießen können. Ich wünsche ihnen sehr, dass das in der Türkei noch lange möglich sein wird.