farklı
ist ein türkisches Wort und heißt anders. Und anders ist so etwas wie das Gegenteil von normal. Vergeblich nach Normalität sehnen sich die Freund*innen in Istanbul, der Stadt, in der sich ständig etwas verändert, umgebaut wird, zerstört wird. Auch ich entdecke bei meinem Aufenthalt hier nur wieder Neues, wo ich nach dem Altvertrauten suche, das vor einem Dreivierteljahr, bei meinem letzten Besuch, noch so und so war. Zum Beispiel ist das so mit der Sache mit den Straßenmusikanten. Wo sind denn auf einmal all die Straßenmusikanten geblieben, die sonst auf der İstiklal-Straße, die täglich von hunderttausenden Menschen besucht wird, zu finden waren? Wo sind der blinde Blockflötenspieler mit seiner blonden Frau? Wo die auf dem Boden hockenden trommelnden Romakinder? Die kurdischen Männergruppen mit ihren schwarzen Bärten und kriegerischen Rhythmen? Die Akkordeonisten, die immer und immer wieder ihr Bella Ciao spielen, das ganz sicher kein Widerstandslied ist? Und auch all die anderen Musiker*innen, die ich dort in den letzten Jahren immer gesehen habe, sind spurlos verschwunden.
Auf der anderen Seite des Bosporus, im asiatischen Teil von Istanbul, im liberalen Stadtteil Kadiköy, sitzt ein singender Gitarrist am Ufer, vor sich hat er ein Schild mit seinem Instagramnamen. Viele Menschen hocken auf den Pollern und Bänken und gucken aufs Meer und hören ihm zu und wir auch! Denn er singt mit so einer wunderschönen Stimme, mit starkem orientalisch klingenden Vibrato! Als ich nach Hause gehe, gucke ich gleich auf Instagram nach, was er dort so gepostet hat und stelle hier einmal etwas rein, damit Ihr, meine Leser*innen, daran teilhaben könnte, wie wunderbar Straßenmusik in Istanbul klingt.
https://www.instagram.com/p/C3x6usGrtB8/?hl=de
Von den blinden Blockflötenspielern, den Akkordeonisten und den sich die Seele aus dem Leib trommelnden Romakindern habe ich leider keine Aufnahme. Sie sind verschwunden und nur noch in meinem Kopf vorhanden und wenn ich jetzt durch die Istiklal gehe, glaube ich schon selber, dass ich sie mir vielleicht eingebildet habe, aber nur so lange, bis ich hier in meinem Computer darüber schreibe und sie mir wieder deutlich vor Augen stehen.
Gestern Abend waren wir in einer kleinen Bar bei mir um die Ecke. Ich gehe immer dann in Bars, wenn mal gute Musik herausdringt. Auch aus dieser Bar dringt oft gute Musik, allerdings ist es drinnen ziemlich dunkel, und es sitzen meist auch noch dunkel gekleidete Menschen dort, weshalb ich froh war, dass mein Liebster mich begleitete. Auf der Bühne saß ein langhaariges junges Mädchen in einem eng gegürteten weißen Mädchenkleid und weil sie so klein war, trug sie hochhackige Schuhe und begleitet wurde sie von einem Saz-Spieler und einem Pianisten und sie sang mit sehr viel Vibrato, das mich wieder an das Vibrato von Kerim dem Straßenmusiker erinnerte und sie brachte die zahlreichen Männer, die hier saßen und Rakı tranken, den typischen türkischen Anisschnaps, der inzwischen der hohen Alkoholsteuern wegen so unglaublich teuer ist und die sentimental zu ihr hinguckten und nickten, dazu, mitzusingen. Auch wir tranken Rakı und wurden sentimental und bewunderten das Tremolo in ihrer Stimme.
Heute waren wir im AKM. Das AKM ist ein Kulturcenter am Taksim, dem Platz, an dem vor 11 Jahren die Unruhen begannen, die die Türkei sehr verändert haben, weil der Präsident sie zum Anlass nahm, die Zügel anzuziehen. Das alte AKM war ursprünglich mal ein Ort, wo sich Oppositionelle trafen. AKM bedeutet Atatürk Kultur Center. Obwohl Atatürk alles anderer als ein Oppositioneller war, kommen sich die wirklichen Fans von ihm in der heutigen Türkei inzwischen vielleicht auch ein wenig farklı vor, anders, fast so wie Oppositionelle. Das AKM war nach Gezi jahrelang geschlossen und wurde dann an gleicher Stelle neu erbaut, vom Sohn des alten Architekten, und vor zwei Jahren wiedereröffnet. Damals war ich auch schon hier, bei einem sehr heroischen Abend, an dem alle im Saal aufstanden und die Nationalhymne sangen und ich stand auch auf und tat so, als sänge ich mit. Dabei erwartet das niemand. Alle sehen doch, dass ich Deutsche bin. Deutsch spricht im AKM keiner. Auch Englisch spricht so gut wie niemand. An der Kasse schon mal gar nicht. Ohne Türkisch zu können, hätte ich für die heutige Vorstellung gar keine Tickets kaufen können. Die Tickets für die Oper kosten 15 Euro das Stück, das ist die teuerste Kategorie. Wir sitzen ganz vorne und so sehen alle im Saal, dass vorne zwei Yabancı (Ausländer) sitzen, die sie wohl auch als farklı bezeichnen würden, nämlich als fremd bzw. anders. Sonst sitzen hier heute, wenn ich mich nicht täusche, fast nur Türk*innen in der Aufführung der Oper Maometto II. von Rossini. Der Stoff handelt u. a. von dem Eroberer Konstantinopels, den hier jeder kennt, er heißt Mehmet Fatih Sultan. Das Ganze ist sehr dramatisch und eine Liebesgeschichte. Denn Mehmet Fatih Sultan verguckt sich inkognito in die Tochter des Statthalters von Venedig, das er wenig später angreift und erobert. Das Ganze geht ungut aus, zumindest hier in Istanbul, wo man sich dazu entschloss, die Originalfassung zu spielen, bei der sich Anna, die sich entscheiden musste zwischen ihrer Liebe zum Sultan und zu ihrem Vaterland, am Schluss erstach. Eine spätere Version, die so genannte venezianische, wäre hingegen gut ausgegangen.
Die Zuschauerin aus Deutschland, die sich immer gerne vorstellen möchte, was die anderen Zuschauer*innen aus der Türkei sich wohl so denken, wenn sie so etwas sehen, fragte sich während der Vorstellung, ob sie wohl dachten, dass die Oper davon handelt, dass die Liebe zwischen Muslim*innen und Christ*innen nicht gut ausgehen kann. Die Inszenierung in schönem Bühnenbild war ein wenig steif, was aber die ergreifend singenden Darsteller*innen und der herrlich große Chor wieder wett machten. Insbesondere den Belcanto mit Tremolo und Vibrato beherrschten die rein türkischen Sänger*innen ganz wunderbar (was die Zuschauerin aus Deutschland wieder an ihren Straßenmusiker denken ließ), so dass die türkischen Zuschauer*innen zwischendurch begeistert applaudierten. Kurios war es schon, dass der Sultan auf einem Schimmel auf die Bühne gebracht wurde und fast hinfiel, als er vom Pferd gehoben wurde. Auch die Kostümwechsel des Chores von Venezianern hin zu Osmanen und zurück hatten etwas kurioses. Der Chor war streng nach Geschlechtern getrennt. Auch der Grund und Boden am Taksim, auf dem das AKM steht, war lange Jahrhunderte italienisch/genuesisch/venezianische Kolonie. Hier ist also etwas, das die Istanbuler*innen im Saal wiedererkennen könnten, wenn sie sich denn daran erinnern würden, dass bis in die Neuzeit in ihrem Stadtviertel Beyoğlu sehr viele Italiener gelebt haben, die seit dem 13. Jahrhundert, also schon vor der Ankunft von Mehmed Fatih Sultan, in Konstantinopel gesiedelt hatten, heute aber schon ein paar Jahrzehnte fast alle fortgegangen sind, weil es für sie ungemütlich worden ist. Auch etwas, was mir als farklı aufgefallen ist an den gestrigen Tagen: Die italienischen Kirchen an der İstiklal werden neuerdings ebenso wie die nahen Synagogen Tag und Nacht von Polizeiautos bewacht. Dem heutigen Zeitgeist geschuldet waren wohl auch die eher züchtigen Kostüme der Inzenierung. Aber erstaunlich ist es schon, dass eine solche Oper erstmalig nach 30 Jahren jetzt wieder aufgeführt wird. Denn die Osmanen mit ihrem Anführer Maomett, den hier doch alle verehren sollen und nach dem ein ganzer Stadtteil – Fatih – benannt ist, kamen dabei nicht nur gut weg.
In der Pause liefen sehr viele Zuschauer*innen in eine Richtung und wir folgten ihnen und sahen, dass sie in einen Hof gingen, wo geraucht werden durfte. Das ist hier so anders als in Deutschland, sagte mein Liebster. In Deutschland siehst du in der Pause einer Opernaufführung vielleicht drei oder vier Leute vor der Tür rauchen. Aber hier rauchen sie alle. Das mit dem Rauchen ist schon immer so, sagte ich ihm. Das ist nicht anders geworden, seit ich das letzte Mal hier war. Vielleicht rauchen die Leute noch mehr als beim letzten Mal. Aber das kann man wohl nicht als farklı bezeichnen!