vonSabine Schiffner 26.03.2024

fremdeln

Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Von Bremen aus bin ich vor 40 Jahren nach Köln gegangen, wo ich seitdem (fast ausschließlich) als Schriftstellerin gelebt habe. Während der letzten 3 Jahre war ich aber auch oft in Istanbul, insgesamt 12 Monate habe ich dort verbracht und nach einer türkischen Austauschschülerin gesucht (s. Blogroman Zeynep Suchen, Dagyeli Verlag, 2024). Dabei habe ich manchmal auch an die Zeit von vor 40 Jahren gedacht, als ich noch in Bremen lebte. In Istanbul verändert sich alles rasant, hörte ich oft während meines Aufenthaltes dort. Daran muss ich denken, als ich gestern wieder nach Bremen fahre. Ob sich dort wohl auch viel verändert hat? Ich bin es inzwischen schon gewohnt, immer danach Ausschau zu halten, was sich verändert hat und wie ich es in Worte fassen kann. Eine Stadt, die man sehr gut kennt, daran zu messen, wie sie sich nach 40 Jahren verändert hat, ist nicht leicht. Ich nahm mir vor, Bremen mit meinen Eindrücken aus Istanbul zu vergleichen. Schon bei der Anfahrt in den Bremer Bahnhof wurde im Zug vor Trickdieben gewarnt. Das Wort Trickdiebe regte mich irgendwie auf und setzte seltsame Phantasien in Gang. Irgendetwas ist sehr unschön daran…ich guckte nach, ob das Wort überhaupt noch gebraucht werden darf.

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Als ich ankam, hielt ich nach Trickdieben Ausschau, aber die Menschen sahen irgendwie harmlos aus. Meinen großen schweren Koffer mit Gepäck aus der Türkei hätte wohl auch kein Trickdieb gerne entwendet. Dass der Aufzug ausgerechnet an meinem Gleis kaputt war, damit war zu rechnen. Aber ich regte mich darüber nicht auf, mein Zug war immerhin pünktlich. In der Türkei sind alle Züge pünktlich, das habe ich oft feststellen können. Fernzugfahren ist dort wie bei uns Flugreisen; das Ticket wird vorher bestellt, auf den Bahnsteig kommt man nur mit Ausweis und Ticket und die Gleise erlauben sehr schnelles reibungsloses Fahren. Auch der Nahverkehr in Istanbul selber ist unkompliziert, die Metro ist, da unterirdisch gelegt, immer pünktlich, erst recht die vielen Fähren, mit denen ich tagtäglich unterwegs war, gemeinsam mit Zehntausenden Istanbulern.

Aufregend war gestern nach meiner Ankunft der Gang durch den Bremer Bahnhof, bei dem ich gut daran tat, auf einer Seite rechts in Reihe zu gehen, weil auf der anderen Seite die Menschen in die andere Richtung gingen. Und gegen den Strom wollte ich nicht gehen, das habe ich auch in Istanbul nie getan, auch dort gab es in den langen Gängen der U-Bahn eindeutige Festlegungen, wer in welche Richtung zu gehen hatte und wer sich nicht daran hielt, wurde ganz bestimmt angepflaumt. Die meisten Menschen hier in Bremens Hauptbahnhof gingen gestern in Richtung der Osterwiese, die so eine Art Jahrmarkt ist. Ich aber ging Richtung Vorderausgang, d. h. Richtung Überseemuseum, wohin nicht ganz so viele Menschen strömten und hatte die Sache mit den Trickdieben schon wieder vergessen. Mir fiel auf, dass zwischen den vielen Menschen manche Menschen saßen und die Passanten um Geld baten. Auch das gibt es in Istanbul, aber eigentlich immer weniger, die bettelnden Menschen trauen sich erst nach Mitternacht in die belebten Zonen, dann wenn die Polizei und auch die Zivilpolizei nicht mehr dauernd Streife geht. Vor den Moscheen sitzt aber auch tagsüber der/die eine oder andere, erst recht jetzt, zur Zeit des Ramadans, wo es doch zu einer der fünf Säulen des Islams gehört, mildtätig zu sein. Diese Menschen, die vor religiösen Kultstätten betteln, werden nicht vertrieben, Fast immer sind die Menschen, die in Istanbul die Hand aufhalten, Mitglieder der Roma, die in der Stadt in elenden Verhältnissen leben.

Ich habe in Istanbul bei meiner türkischen Freundin gesehen, dass sie fast allen Bettler*innen etwas gibt. Ich habe von dieser Freundin auch gelernt, dass sie nicht nur Menschen, die gar nichts haben und betteln müssen, um zu überleben, etwas gibt, sondern dass sie auch darauf achtet, Menschen, die wenig haben, wie Kinoanweiser*innen und den vielen Bedienungen, ein gutes Trinkgeld in die Hand drückt. Sie lässt auch, wenn sie Brot einkauft, in Bäckereien Extra-Geld, damit die Bäcker Brot an Bedürftige ausgeben können. Denn eine soziale Unterstützung durch den Staat gibt es in der Türkei so gut wie gar nicht.

Aber es kam mir gestern trotzdem so vor, als seien in Istanbul längst nicht so viele bettelnde Menschen wie in Bremen. Die Polizei passt in der Türkei wohl auf, dass die Straßen „sauber“ sind. Anders kann ich es mir nicht erklären. Angeblich soll ja die Korruption bei der Polizei in Istanbul inzwischen abgeschafft sein. Knöllchen kann man nicht mehr mit einem Bakschisch loswerden, erzählte mir meine Freundin, wer zu schnell fährt, wird geblitzt und bekommt schon zwei Minuten später das Knöllchen per Mail zugeschickt. Überhaupt ist die Türkei viel durchdigitalisierter als Deutschland. Neulich sah ich am Taksimplatz einen Verkehrspolizisten, der einen Ferrari fuhr. Den hat er wohl von einer inhaftierten Influencerin, die einen ganzen Stall voller Ferraris hatte und vor laufender Kamera Geldscheine verbrannte. Sie ist nun wegen Geldwäsche inhaftiert. Und die Istanbuler Polizei darf jetzt mit ihren Autos Streife fahren und nach Bettlern und Geldwäschern Ausschau halten. Verkehrte Welt?

Ich bin froh, dass ich nicht in Istanbul leben muss, wo die Bettler*innen und auch die Straßenmusikant*innen, wie ich auf meinem taz-Blog vom 3.3.2024 berichtete https://blogs.taz.de/fremdeln/fremdeln-in-der-fremde-2/, neuerdings auf unerklärliche Weise verschwunden sind und überlegte mir auf meinem Weg raus aus dem Bahnhof, welchem der vielen bettelnden Menschen hier in Bremen ich etwas geben wollte. Heißt das korrekte Wort überhaupt noch betteln? Ich guckte nach, denn das Wort kam mir auf einmal falsch vor. Dann nahm ich mir vor, zu zählen, wie vielen bettelnden Menschen ich begegnete: Die Menschen, die gestern im und um den Bremer Bahnhof herum saßen und um Geld bettelten, waren: Ein dicker Mann, der in Osnabrück in den Zug einstieg, durch die Gänge ging und lautstark um Geld bat. Dann ein ganz normal aussehender junger Mann, der mich auf dem Bahnsteig in Bremen ansteuerte und ansprach. Als ich die Treppe hinunterging, saß dort ein kleinwüchsiger Mann. Er hielt einen Becher in der Hand. Dann war dort inmitten der Menschenmenge eine sehr kindartig wirkende junge Frau, die auf dem Boden in hingeworfener Stellung lag. Vor ihr ein leerer Becher. Drei nach Drogenkonsum aussehende knapp zwanzigjährige Menschen mit zerfilzten Haaren und Hunden saßen mit ihrem Gepäck in der Nähe des Eingangs, daneben eine junge Frau mit schmutzigem Gepäck und schmutzigem Gesicht, die ein Schild hochhielt. Ein offensichtlich auch der Drogenszene zugehöriger Mann trat zu ihr, sprach sie an, schien sie zu kennen, lachte über das, was auf ihrem Schild stand. Ich konnte es nicht lesen. Eine ältere  Frau in weiten Röcken, die lautstark und mit fremdem Akzent Danke sagte und einen Pappbecher hinhielt, saß neben dem Tabakladen. Ein Schlafsack lag an der Seite, darin jemand schlafend. Davor ein leerer Pappbecher. Als ich vorüberging und überlegte, etwas zu geben, sah ich, dass in dem Schlafsack doch niemand lag.  Ich dachte daran, dass, als ich von hier, von Bremen aus, im Jahr 1985 zum Studium nach Köln ging, meine Großeltern noch lebten und was sie wohl sagen würden, wenn sie das Alles hier sehen könnten. Und begann auf einmal, es mit ihren Augen zu sehen. Und dann fiel mir ein, dass ich damals in einer Produktion der Dreigroschenoper mitgespielt habe, in der es ja ums organisierte Bettlertum geht und ich fragte mich, ob einer wie der Bettlerkönig Peachum den vielen Bettlern hier ebenso wie in der Dreigroschenoper die Kleider und die Schmutzschminke zum Betteln ausgeliehen hat und abends vielleicht in sein Haus in einem Villenvorort geht, das er sich mit dem vielen erbettelten Geld erarbeitet hat. Dass die Bettler im Grunde reiche Menschen sind und viel Geld verdienen, ist eine absurde Mär, die ich oft von meinen deutschen Freunden höre. Von den türkischen Bettler*innen denkt niemand in der Türkei so etwas. Auch mein Berufsstand hat dort einen sehr viel besseren Ruf. Erzählte ich in Istanbul, dass ich schreibe, leuchteten die Augen meiner Gesprächspartner immer auf. Jetzt denke ich wieder an die vielen elend und krank aussehenden Bettelnden im Bremer Hauptbahnhof und daran, dass mir dort die Dreigroschenoper einfiel und  dann bekomme ich auf einmal ein ganz irres irreales Gefühl, so als wenn das alles hier rund um den Bremer Hauptbahnhof gar nicht wirklich wäre und ich gestern nur eine Darstellerin in einem Stück, in dem es um Bettler, das sind die Anderen und Nichtbettler, dazu gehöre ich zurzeit (auch wenn ich jedesmal, wenn ich einem Bettelnden etwas gebe, denke, dass ich selber es eines Tages sein könnte, die betteln ehen muss), geht. Aber diese Szenerie am Bremer Bahnhof, die ich gestern und wohl auch in Zukunft immer häufiger beobachten werde, ist kein Theaterstück, sondern traurige Realität und der erkennbarste Unterschied zu meinem Abschied von Bremen im Jahr 1985.

Als ich gestern den Bahnhofsvorplatz überquerte und zur Straßenbahn ging, traf ich auf eine Gruppe sehr junger queerer Menschen aus Syrien, die in ihrem Land nicht auf die Straße gehen dürften, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Sie steckten mich an mit ihrer guten Laune und Fröhlichkeit. Gleich danach kam ich an schwarz angezogenen und sehr aggressiv wirkenden jungen bärtigen Männern vorüber, die einen anderen jungen Mann festhielten und anschrieen. Ich wollte mich nicht einmischen und womöglich in eine Schlägerei hineingezogen werden und ging schnell weiter.

Und schon wurde ich wieder angesprochen, von einer älteren Frau mit Kopftuch, die ein Schild in der Hand hielt und traurig guckte. Ich muss mir überlegen, dachte ich, wem ich etwas gebe und beschloss, in Zukunft nur Frauen etwas zu geben. Ein Stück weiter saß wiederum eine ältere Frau ohne Zähne und mit schmutzigem Gesicht, die wahrscheinlich viel jünger war, als sie aussah, die mich anstrahlte und sich freute, als ich mein Portemonnaie öffnete. Dann sagte sie mir noch, dass ich schöne Beine habe, was nun wiederum mich freute. Geben macht doch irgendwie glücklich und kostet nicht viel, dachte ich und war meiner türkischen Freundin, die mich irgendwie auch darauf gebracht hat, sehr dankbar dafür.

Zum Abschluss noch ein Gedicht aus meinem Gedichtband „wundern“ (Quintus Verlag, 2022), erstmalig erschienen ist es in der Kölner Obdachlosenzeitung „Draussenseiter“ im Dezember 2021

eine frau ungefähr mein alter und

sie ist nur halb

so groß wie ich oder ein ganz klein bisschen

größer und sie entschuldigt sich jetzt

tausendmal dass sie mich angesprochen hat

das ist nicht nötig sage ich sie sagt sie sei in not müsse

nach bonn wo ihre koffer stünden im hotel

sie suche heute noch einen platz zum schlafen hier in köln

habe jedoch kein geld für eine unterkunft dann sagt

sie sie sei blindentherapeutin und wolle menschen helfen

deshalb sei sie hierher

gekommen aber ein zimmer koste zwanzig euro

das sei zuviel für ihr budget und ihre story

ist so wie es klingt erfunden ausgedacht

erlogen unwahr aber sie rührt mich doch ich

zücke schnell bevor ich mir´s noch anders überlege

mein portemonnaie in dem genau zwanzig

euro sind da dankt sie mir viel tausendmal

für mein erbarmen

das ist nicht nötig sage ich sie sei schließlich in not

da sagt sie ja so ist es und

schaut mir nochmal lange

in die augen und sagt dann

immer geben nur die armen

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