vonSabine Schiffner 07.11.2025

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Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Der Feiertag anlässlich des 101. Gründungstages der Republik Türkei ist gerade vorbei und die vielen Bilder des Staatsgründers Atatürk wurden größtenteils abgehängt. Nur in der U-Bahnstation Tünel (die zweitälteste U-Bahn der Welt, 60 Meter lang/hoch)  hängen noch Bilder des ab Mitte der 1930er Jahre immer kränker werdenden Staatschefs, der hier insbesondere von der türkischen Bevölkerung (weniger von Kurden und einigen Anderen) immer noch sehr verehrt wird. Vor allem heutzutage erscheint er vielen modernen fortschrittlichen und westlich ausgebildeten und orientierten Menschen, die mit Religion nichts am Hute haben, wie eine echte Lichtgestalt. Die meisten bezeichnen sich als Kemalisten. Immer wieder sagen sie es: Er ist viel zu früh gestorben, wie viel Gutes hätte er noch für die Türkei ausrichten können!!

Wir machen uns am Abend auf ins Konzert im ICEC, dem Kongresszentrum zwischen dem Taksim und Sisli/Nisantasi, der Hochburg der Reichen und Schönen in Istanbul. Hier sind jede Menge Hiltonhotels und Kongresszentren beheimatet, aber auch Veranstaltungsräume für Konzerte und das große städtische Theater, ein Amphittheater im Maskapark und eine Konzerthalle für das Borusan Symphonie Orchester. Dasselbe haben wir erst vor ein paar Wochen in der Elbphilharmonie gehört, sie traten dort mit dem großartigen Fazil Say auf, auch er ein überzeugter Kemalist und Erdogangegner und vor allem ein phantastischer Pianist. Atatürk, der Förderer der Künste, hat schon früh in den dreißiger Jahren fünf junge begabte Musiker nach Paris geschickt und in Komposition ausbilden lassen. Dabei herausgekommen sind tatsächlich fünf sehr gute türkische Komponisten. Mein besonderer Favorit ist: Acim Kocabiyik, hier in einer großartigen Interpretation durch ein Kammerensemble der Borusan Symphonie Orchesters https://youtu.be/4n-3_z3_PTY?si=EseSLXJ5nz7Mo8vT

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Dass das Orchester heute Abend spielt, ist ein glücklicher Zufall, es werden Stücke eines türkischen Komponisten namens Adnan Saygun gespielt, der auch von Atatürk nach Paris verschickt wurde und von Bela Bartok, der in die USA gehen musste. Auffällig ist die Fülle an Theatern und Konzerthäusern rund um das sehr bürgerliche Viertel Sisli schon. Brot und Spiele? Mir fällt ein, was unser kurdischer Taxifahrer uns vorhin erzählte, als wir am Stadion von Besiktas vorbeifuhren und ihn fragten, ob er sich für Fußball interessiere. Er sagte, er sei ein Junge gewesen, als er einmal in den 80er Jahren in der kurdischen Türkei ins Haus seines Onkels gekommen sei. Und dort wären zwei PKK-Kämpfer gewesen, die ihn gefragt hätten, woher er komme. Er habe gesagt: Vom Fußball. Daraufhin hätten sie zu ihm gesagt: Fußball wird von Diktatoren genutzt, um die Menschen abzulenken, guck mal, wie Franco das gemacht hat: Brot und Spiele, damit die Spanier ruhig sind. Und das versuchen die Machthaber auch hier in der Türkei. Ob man das bürgerliche Publikum mit viel Theater und klassischer Musik ruhig halten will?

Das Publikum im Konzerthaus ist jedenfalls sehr bürgerlich, man sieht viele Frauen mit blonden Haaren und im schicken Hosenanzug und im 2000 Plätze fassenden Saal nur eine einzige Frau mit Kopftuch. Dass am Schluss des Konzerts der ungemein beliebte und schon recht alte „honorary“ Dirigent Gurer Aykal das letzte Stück, das Atatürk gewidmet war und vom Türkischen und seinen Vorfahren handelte, dreimal wiederholt, mit einem letzten gemeinsam mit dem Publikum gerufenen Atatürkcü, kommt richtig gut an und reißt das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.

Ich weiß schon jetzt, dass mich einige meiner Freunde, denen ich, zurück in Deutschland, von dem Konzert erzähle, ungläubig angucken werden: Was? Klassische Musik und Konzerte und dann auch noch Politik im Konzertsaal in der Türkei? Wir wissen in Deutschland wenig darüber, was hier abgeht und das Interesse daran in Deutschland ist auch nicht groß. Und selbst ich, die ich ja seit 2021 schon fast ein Jahr in der Türkei verbracht habe, bin immer wieder überrascht, wieviel man hier noch dazulernen kann…

Am nächsten Morgen verlassen wir unser Büyük Otel de Londres, von dem aus man so einen phantastischen Blick über das Goldene Horn und auf die jahrtausendealte Hauptstadt Ostroms, das alte Byzanz hat, und gehen nach links ein paar Schritte, bis wir am Pera Palace Hotel sind.

Hier verbrachte Atatürk angeblich viel Zeit. Angeblich, weil es auch noch ein anderes Hotel gibt, das für sich reklamierte, Atatürks Lieblingshotel zu sein, das Tokatliyan, aber darüber werde ich im nächsten Blog berichten. Heute jedenfalls betreten wir die überaus prächtige Lobby vom Pera Palace, die ähnlich üppig in rot und Gold und mit Kronleuchtern ausgestattet ist wie unser Hotel, aber das ganze Hotel ist noch viel prächtiger als unser Hotel, das ein wenig wie sein etwas ärmerer Bruder wirkt, der die Zeit verschlafen hat. Trotzdem spricht das Preis-Leistungsverhältnis eindeutig für das Büyük Hotel de Londres. Der Raum, in dem Atatürk einen Teil seiner Zeit verbrachte, ist heute ein Heiligtum für alle Kemalisten. Als wir die 2 Euro Eintritt gezahlt haben und nach oben gehen, kommen uns ganze Schulklassen entgegen, die hier etwas vom Mythos des Staatsgründers mitbekommen wollen. Oben erwarten uns Fotos des attraktiven Präsidenten von Kostümbällen und auf kriegerischer Expedition. Interessant auch die ausgestellte Kleidung, die heute noch durchaus modern wirkt.

Aber wo ist der Agatha Christie Raum? Der trage die Nummer 411 und sei belegt, sagt man uns, ebenso wie die Hemingway-Suite, die nur nach ihm heißt, denn hier gewesen ist er nachweislich nicht. In unserem Hotel soll er ja angeblich gewesen sein, aber bis heute weiß ich nicht, in welchem Raum, der Portier, der mir versprochen hat, nachzugucken, war nicht mehr zu sehen. Agatha Christie aber war ebenso wie Atatürk nachweislich hier, zwischen 1926 und 1932 sogar mehrmals. Sie schrieb hier den „Mord im Orientexpress“. Eines Tages im Dezember 1926 verschwand sie spurlos aus ihrem Zuhause in England, hinterließ einen Brief, in dem sie sagte, sie sei in Yorkshire. Später fand man ihren Pelzmantel neben ihrem Auto an einem See. Man suchte sie vergeblich, setzte sogar einen Wahrsager auf die Suche an. Nach 11 Tagen war sie dann plötzlich wieder zurück, und konnte sich an nichts erinnern. Dieses Ereignis hat nie Einzug in ihre Bücher gefunden, auch wenn es nach einem Stoff für einen Krimi klingt. Eine Filmfirma, die nach Christies Tod mit dem Wahrsager sprach, erfuhr, dass er wisse, dass die wahre Geschichte von Christies Verschwinden in einem Tagebuch im Pera Palace aufbewahrt werde und den Schlüssel dazu könne man im Hotel finden. Letztendlich gab es ein Hin- und Her mit der Filmfirma und am Ende landete der Schlüssel landete in einem Banksafe, wo er heute noch liegt.

Ich bekomme eine Mail von einem Freund, der mir Fotos vom Lippenstiftset von Agatha Christie schickt, das er auf einer Auktion gesehen hat. Die Firma Revlon hat zweimal ein eigenes Lippenstiftset entworfen, eines für Agatha Christie und eines für Marilyn Monroe. Diese beiden hätte ich nicht unbedingt in einem Atemzug genannt… und doch haben sie dieselben Lippenstifte aufgetragen!

Atatürk hätte wohl Marilyn lieber gemocht als Agatha. Er war ja bekanntlich ein Womanizer. Aber auch ein Unterstützer der Selbständigkeit von Frauen und des Feminismus in der Türkei. Ob das der Grund dafür ist, dass Abtreibungen hier bis heute straffrei sind und noch nicht mal rechtswidrig so wie bis heute in Deutschland? Als ich mich eben mit einer Freundin unterhalte und merke wie verwundert meine Gesprächspartnerin darüber ist, dass das so ist und dass in Deutschland Richterinnen nicht auf höhere Ämter berufen werden, weil sie sich nicht gegen Abtreibung aussprechen, bin ich doch arg beschämt… manchmal ist das Selbstverständnis von uns als einem besonders fortschrittlichen Land ja doch mehr als wackelig! Da können wir (Frauen) von den Türken etwas lernen!

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