vonSabine Schiffner 10.11.2025

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Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Gib der Frau einen Kuss! Ich wende mich zur Seite, denn von einem Araschnabel möchte ich nicht geküsst werden. Ein wenig Angst ist aber auch dabei, ich fürchte, dass er doch zuhacken könnte. Für das Foto mit dem Ara auf der Brücke muss ich dem Besitzer des Aras, der eine osmanische Uniform trägt, etwas zahlen. Aber ich freue mich über das Foto.

Denn ich habe in den letzten Tagen öfter an die Zeiten gedacht, als ich mich noch mit Papageien unterhielt, früher, das war im Haus meiner Großeltern, die auch einen Papageien besaßen, der zuweilen, wenn wir beim Mittagstisch saßen, von seinem Käfig aus losflog und sich auf der Schulter meiner Großmutter niederließ, der einzigen Person, die er liebte. Im Grand Hotel de Londres gibt es nämlich auch einen Papageien, allerdings einen Graupapageien, der arg gerupft aussieht. So sah er jedoch schon vor vier Jahren aus, als ich zum ersten Mal hier war. Tierschützer bemängeln die Haltung und auch ich finde es irgendwie nicht mehr richtig, einen solchen Vogel in einem Käfig zu halten. Aber dieser so schöne und prächtige Ara hier auf meinem Arm wird doch auch irgendwie unfrei gehalten, auch ohne Käfigstangen.

Und genauso fühlen sich hier in der Türkei wohl viele Menschen. Unfrei, ohne dass man die Stäbe direkt sieht. Nur einige wenige werden eingesperrt, dafür aber sehr gründlich und für lange, so wie der überaus beliebte ehemalige Bürgermeister von Istanbul, Imamoglu, der Präsident hätte werden können. Dass hingegen andere angeblich freikommen sollen wie der liberale Kurdenführer Demirtas, kann ich kaum glauben. Aber auch der Dichter Ilhan Sami Comak, auf dessen Schicksal ich so oft auf social media hingewiesen habe und der 30 Jahre in türkischen Gefängnissen saß, ist vor kurzem aus der Haft entlassen worden. Es gibt also vielleicht ja doch ein wenig Hoffnung… oder ist das nur wieder ein neuer Schachzug, um kurdische Wählerstimmen zu beommen für die nächste Wahl 2028?

Heute gehe ich in Richtung des Hotel Tokatliyan, das sich direkt an der Istiklal-Straße befindet, schräg gegenüber vom Galatasaraygymnasium und gleich neben der historischen Cicek-Passage gelegen. Das Hotel war eines von drei Grand-Hotels, erbaut 1897 von Mıgırdiç Tokatlıyan und gedacht zur Beherbung von Passagieren des Orientexpress. Aber seit Beginn der 1940er Jahre konnte es nicht mehr an seinen alten Ruhm anknüpfen. Der bestand vor allem darin, dass Atatürk hier sehr gerne zum Essen und zum Tanzen hinging.

Es gibt aber so gut wie gar keine Unterlagen und kaum alte Fotos von dem prächtigen Grandhotel, das heute eine unauffällige Fassade und ein total entkerntes Inneres hat, schmutzige halb verlassene Flure mit Marmorböden, leere Geschäfte, einen Schneider, der nur Fracks und Smokings näht und dessen Öffnungszeiten ich nicht kenne, drei Aufzüge, die niemand freiwillig mehr nimmt und ein total verstaubtes Buchgeschäft mit angegilbten Ausgaben vergriffener Bücher. Auch Trotzki wohnte hier während seines Aufenthaltes in der Türkei.

Unvorstellbar, dass hier einmal große Speise- und auch Tanzsäle waren, in denen der so gut gekleidete Atatürk aß und tanzte und illustre Gäste aus Politik und Kultur empfing, denn er war fast täglich hier. Der war doch nur eine Marionette der Engländer, sagt mir ein kurdischer Freund aus Deutschland, mit dem ich über das Thema spreche. Eine Marionette, eingesetzt von den Engländern, um den Kurden eines auszuwischen. Der Kolonialismus zeigt seine Spuren auch hier und heute, in der Türkei, die es so lange nicht schaffte, auf die Beine zu kommen und mit der Moderne Hand in Hand zu gehen.

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Spaziert man allerdings wie wir und eine Million (so wird geschätzt) andere am Wochenende durch die Hauptstraße, die Istiklal und schaut in die Hunderte von gut besetzten Restaurants und Bars und Discotheken, sieht man sehr viel Geld, das ausgegeben wird. Und das, obwohl auch hier in Istanbul inzwischen die Preise sehr hoch sind, noch nicht ganz so wie in Deutschland, aber fast. Die Inflation galoppiert und trotzdem wird hier scheinbar noch viel mehr Geld für Ausgehen ausgegeben. Das ist anders als in Deutschland, wo das Restaurant- und Diskothekensterben alltäglich ist und niemand mehr als Kellner arbeiten will. Ist diese Ausgehwut hier der Tanz auf dem Vulkan? Die Türken scheinen auf Teufel komm raus feiern zu wollen und kümmern sich nicht viel um die Misere in ihrem Land.

Und um die Vergangenheit wird sich auch nicht gekümmert. Das ist bei Bauwerken besonders auffällig in Bezug auf nichtmuslimische Häuser. Eines der markantesten Beispiele dafür ist das ehemalige Grandhotel Tokatliyan, das so zentral gelegen ist, zwischen all den anderen historisch bedeutsamen Häusern mit Passagen, die auch nicht gepflegt werden. Das Tokatliyan, einst von armenischen Architekten und Besitzern erbaut und gelegen vor der versteckt stehenden großen armenischen Kirche, ist in der heutigen Zeit nicht genehm. Denn den großen Präsidenten Atatürk, der es liebte, im Frack und Smoking aufzutreten, der gerne tanzte und sich amüsierte, mit Armeniern in Verbindung zu bringen, ist tabu. Die „türkischen“ Armenier, die früher vor allem Anatolien bevölkerten, das bis zu ihrer Vertreibung Westarmenien hieß, wurden 1915 von der türkischen Armee unter Beteiligung deutscher Soldaten und Offiziere fast ausgerottet. Wenige Überlebende und Nachfahren leben seitdem nur noch sehr versteckt und unauffällig, über sie wird in der heutigen Türkei so gut wie gar nicht gesprochen. Der Genozid an ihnen, von anderen europäischen Ländern anerkannt, wird hier von der Regierung negiert.

Auf den Völkermord an den Armeniern wies schon Franz Werfel in seinem 1929 erschienenen Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ hin, dessen Lektüre mich sehr bewegt hat. Er beginnt mit einem authentischen Besuch, den 1915 ein deutscher Pastor namens Johannes Lepsius unternahm. Er kam nach Istanbul und logierte im „Hotel Tokatliyan“, um von dort aus den damaligen Kriegsminister und Armenierhasser Enver Pascha aufzusuchen und ihn zu bitten, das voraussehbare schlimme Schicksal der christlichen Armenier abzuwenden und in die Hände der deutschen Kirche Hände zu legen. Die im Buch wiedergegebenen Aufzeichnungen des Gesprächs hat Lepsius, der bei seiner Mission erfolglos war, persönlich niedergeschrieben. Statt dass die Kirche hätte helfen können, fanden die Todesmärsche und die Ermordung der Armenier unter Beteiligung deutscher Truppen statt, die im ersten WK mit den Deutschen verbündet waren. Die Beschreibung und das Buch ist bis heute erschütternd, kündet sie doch den deutschen Genozid an den Juden an. Aber sie ist nur ein Beispiel für die Verfolgung andersgläubiger Menschen in der Türkei. Auch die sefardisch-jüdische Minderheit, die hier in Istanbul seit Jahrhunderten so gut wie unbehelligt gelebt hat, tut seit dem Gazakrieg gut daran, sich nicht mehr öffentlich zu zeigen. An allen möglichen Stellen sind Gaza-Plakate. Wird es denn nie Frieden zwischen den unterschiedlichen Religionen geben?

Dabei ist es doch gar nicht so schwierig: Ein Besuch auf dem Markt von Tarlabasi macht es vor. Ich ging dorthin, um Oliven zu kaufen. Der Mann am Olivenstand hörte laut Radio und sah mich nicht. Ein Mann vom Nebenstand wies ihn auf mich hin: Abi, guck mal! Ich fragte ihn, ob er Fußball höre und er sagte: Ja, Galatasaray! Bist Du Fan, fragte ich? Ja, sagte er. Und fragte mich, welchen Club ich am meisten mögen würde. Werder Bremen, sagte ich. Nein, antwortete er: Welchen türkischen Club? Besiktas, sagte ich da! Oh, er rang die Hände. Glücklicherweise spielte heute Galatasaray nicht gegen Besiktas, sondern auswärts. Der Mann vom Nebentisch mischte sich ein und sagte, er sei Fenerbahce-Fan! Und es sei doch toll, dass wir drei hier zusammen seien, jeder Fan von einem anderen Club und uns so gut verstehen würden!! So geht es eben auch. Schade, dass die Politiker das nicht auch so sehen können!

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