vonSabine Schiffner 11.11.2025

fremdeln

Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Es ist 9.04h. Draußen gehen die Sirenen los. Aber wir erschrecken nicht, denn wir sind gestern vorgewarnt worden: Morgen früh ist der Todestag von Atatürk. Er starb viel zu früh mit nur 57 Jahren.  Atatürk, die große Hoffnung der jungen Republik Türkei, erlag wohl den Folgen von zu exzessivem Leben, seine Leberzirrhose war unheilbar. Nie wieder hat es seitdem solch einen charismatischen Führer hier in der Türke gegeben wie ihn. Ich laufe aus dem Fenster und schaue hinaus. Draußen steht die Welt still. Auf der Straße verharren die Menschen und schauen nach oben, so wie ihr vor 87 Jahren verstorbener Präsident auf den meisten Fotos. Auch Autos stehen, die Fahrer steigen aus, stellen sich neben ihre Fahrzeuge, verharren. Das ist sehr berührend. Nur ein paar wenige Passanten gehen weiter, das sind bestimmt keine Türken.

Aus der Parteizentrale der von Atatürk gegründeten CHP, der heutigen Oppositionspartei, der auch Imamoglu  angehört, der zurzeit inhaftierte Bürgermeister Istanbuls und Präsidentschaftskandidat, erschallt sehr traurige klassische Musik, die nur unterbrochen wird von laut nach draußen übertragenen  Aufnahmen von Reden Atatürks. Die Partei ist 1919 von Atatürk als Widerstandspartei gegründet worden und sieht sich bis heute als Wächterin der Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks und dessen „Revolutionen“ nach Ausrufung der Republik der Türkei im Jahr 1923. Ich frage mich, ob all diese Leute, die auf der Straße still stehen und nach oben gucken, sich vorstellen, wie die Türkei wohl aussehen würde, wenn Atatürks Politik der Öffnung zum Westen weitergeführt worden wäre? Und ich stelle mir vor, wie es dann wohl heute hier aussehen würde….Die ganze Türkei ist heute auf halbmast geflaggt und Porträts des ehemaligen Präsidenten hängen überall. Und gleichzeitig sind die Gefängnisse voller politischer Gefangener, unter denen vor allem viele Politiker der CHP sind.

Am Vortag sind wir mehrmals auf den Todestag von Atatürk hingewiesen worden. Auch auf der Prinzeninsel Heybeli, die wir besuchten, und wo er sehr beliebt ist, war sein Porträt überall überlebensgroß zu sehen. Wir machten eine Tour mit einem winzig kleinen Elektroscooter über die Insel. Der Onkel eines Freundes fuhr und erklärte uns alles. Diese Art privater Touren sind seit einiger Zeit auf den Inseln verboten, aber wenn man Freund von Freunden ist, ist hier immer noch alles möglich. Auf dem Weg hoch zur Ausbildungsschule der griechisch orthodoxen Christen, die gerade renoviert und wohl demnächst wiedereröffnet wird, kamen wir auch am Inönü-Museum vorbei, dem Haus, das Atatürks bester Freund Ismet Inönü für seine Familie gekauft hatte. Er war Ministerpräsident unter Atatürk und wurde später sein Nachfolger. Unser Fahrer, der Onkel, schaute ganz ehrfürchtig, als er vor dem Haus hielt und uns darauf hinwies, wer hier gewohnt hat.

Wir besichtigten auch das Geburtshaus von Hüseyin Rahmi Gürpınar, dem berühmen türkischen Schriftsteller und fuhren zu einem kleinen Kloster, von wo aus man einen herrlichen Blick Richtung der Dardanellen hat. Hier auf der Insel herrscht Ruhe und Frieden, hier erst merkten wir, wie laut und chaotisch es in Istanbul doch ist. Unser Fahrer, der Onkel, setzte sich mit uns zu ein paar älteren Männern auf eine Wiese vor dem Kloster, dann tranken wir türkischen Kaffee und betrachteten ergriffen das Meer und das Spiel der Wolken. Kein Land ist so schön wie die Türkei, sagte er. Und uns kam es plötzlich auch (fast) so vor. Anschließend fuhren wir wieder im Sausetempo weiter, durch steile Straßen, vorüber an blühenden Bougainvilleen und schlummernden Katzen, bis wir wieder unten am Anleger waren. Dort kehrten wir in einem Restaurant ein, das der Onkel, der es in seiner Jugend als Matrose bis Bremen geschafft hatte, empfahl, und aßen ganz wunderbare Mezze. Hier auf Heybeli halten fast alle Fähren, aber die meisten Passagiere fahren weiter zur großen Insel Büyükada. Der Onkel hatte es uns so erklärt: 20 Menschen kommen, 1 steigt hier in Heybeli aus. Viel los ist hier also glücklicherweise nicht.

Am frühen Nachmittag fuhren wir mit der ersten Fähre wieder zurück nach Istanbul, 1,50 kostet die anderthalbstündige Fahrt. Unterwegs tranken wir den heißen Tee, den man in kleinen Gläsern serviert bekommt und beim Schwanken der Wellen vorsichtig balancieren muss und warfen den uns begleitenden Möwen Sesamkringel zu.

Zurück in Istanbul gingen wir direkt zu unserem Hotel. Dort ließ sich gerade eine Braut mit ihrem Bräutigam ablichten. Ob das für Modeaufnahmen ist? Auffällig hübsch war die Braut, trug ein phantastisches Kleid mit Schleppe. Aber es waren wohl doch keine Modeaufnahmen, sondern es war ein wirkliches Brautpaar, wie uns der Portier auf Nachfrage sagte. Und in den nächsten Stunden kamen immer mehr Bräute mit ihren Bräutigamen, die sich an verschiedenen Stellen im Haus aufstellten, um sich vor der plüschig-altmodischen Kulisse fotografieren zu lassen. Alle Bräute waren auffallend hübsch und jung, alle trugen bombastische Kleider mit Schleppen. Ob das für Insta-Reels ist oder für Fotos? Was Atatürk dazu gesagt hätte, dass mindestens die Hälfte von ihnen zwar ein westlich weißes Hochzeitskleid, aber auch ein weißes Kopftuch trug? Atatürk selber hatte bei seiner Hochzeit mit Latife im Jahr 1922 die bis dahin übliche religiöse Hochzeit abgeschafft und durch staatliche Hochzeiten ersetzt. Auch das Kopftuch wurde unter seiner Führung wenig später verboten und die Scharia durch ein bürgerliches Gesetzbuch ersetzt.

Was Atatürk wohl gedacht hätte, wenn er heute von irgendwo aus nach unten auf seine Türkei geguckt hätte und all das gesehen hätte, was wir heute gesehen haben?

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