vonSabine Schiffner 26.08.2024

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Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Wo liegt eigentlich Krefeld? Für den Bremer ist es genauso weit weg oder unwirklich wie für manch anderen Menschen Bielefeld. Das hat einerseits mit seiner geografischen Lage im äußersten Westen Deutschlands zu tun, der schon sehr lange so arg vernachlässigt wirkt, andererseits damit, dass seine Bedeutung als Samt- und Seidenstadt der einstmals als einzige Stadt der Millionäre im Ruhrgebiet bezeichneten Perle am Niederrhein leider lange schon keine Rolle mehr spielt in der öffentlichen Wahrnehmung.

Als ich vor zehn Monaten den Auftrag bekam, ein paar Gedichte über Krefeld für ein Poesiefestival zu schreiben, war ich das erste Mal dort. Und ich war bezaubert und schockiert zugleich. Bezaubert angesichts Schönheit, Reichtum, Historie und Ausdruck der Stadt, schockiert anlässlich von Hässlichkeit, Armut, Geschichtszerstörung und schlechtem Eindruck, den die Stadt auf mich machte. Solch einen krassen Ersteindruck habe ich noch nie bei einer Stadt gehabt, die ich nicht kannte.

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Dieser Eindruck bestätigte sich gestern, als ich bei Temperaturen um die 30 Grad mit meinen vier Gedichten im Gepäck wieder nach Krefeld fuhr, um sie im Rahmen des Poesiefestivals vorzutragen.

Mein erster Besuch führte mich damals in die Innenstadt, das alte Krefeld, das sich innerhalb von vier Wällen befindet, die so angelegt sind, wie es sich für eine prosperierende bürgerliche Stadt gehörte. Man kann an ihnen entlang flanieren, entlang grüner Alleenbäume. Kann heißt heute allerdings Könnte… denn die Wälle sind schmutzig und versüfft, die Bänke besetzt, viele der prächtigen Häuser entlang der Wälle mit ihrem Jahrhundertwendecharme verlassen. Blickt man nach oben, sieht man schönste Türmchen, Erkerchen, Stuck vom Feinsten, Jugendstil allerorten, blickt man nach unten, sieht man die schmutzigen Straßen, Geschäfte mit Billigprodukten, Poser-Autos, auch Menschen mit traurigem und traurigmachendem Blick.

In der Einkaufsstraße, die hinter dem Bahnhof beginnt, setzten wir uns gestern vor der Lesung in ein Eiscafé. Hier bringt man uns anstelle des bestellten Frappés ein Zitroneneisgetränk mit Vodka. Das Eis selber, das ich bestellt habe, ist zwar grün und rotweiß, wie die bestellten Pistazie und Amarena, schmeckt aber nach nichts. Dafür kostet eine Kugel nur 1,50. Ein Mann mit einem Jungen tritt auf uns zu. Ob er uns gleich fragen wird, ob wir einen Euro haben, so wie die anderen Menschen, die uns heute schon nach Geld gefragt haben. Ich schäme mich für meine Gedanken, als ich höre, dass er danach fragt, wo Deichmann sei? Wir können ihm leider nicht helfen, sind nicht von hier.

Hinter uns, für all diese Passanten hier unsichtbar, weil von einem Block von Häusern umschlossen und ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs gelegen, befindet sich das Stadtbad, um das es heute während des Poesiefestivals gehen soll. Fünf Dichter*innen lesen, davon haben zwei Gedichte über Krefeld geschrieben, ich bin eine von diesen beiden. Das Stadtbad, um die letzte Jahrhundertwende für 900 000 Mark gebaut, besteht heute noch aus einem sehr großen Gebäude, in dem sich das ehemalige Herren- und das Damenbad und auch das Kaiserbad befinden, die alle nicht mehr mit Wasser gefüllt sind und zu einem Kulturzentrum umgewidmet werden sollen. Außerdem gehört zu diesem historischen Gelände ein altes Freibad.

Auf dem Freibadgrundstück, das malerisch verwunschen wirkt, ist gleich neben dem ehemaligen Schwimmbecken, das eher wie ein Seerosenteich aussieht, ein hölzernes Gebäude, in dem die Mitglieder des “Freischwimmer”-Vereins, die sich seit einigen Jahren erfolgreich um den Erhalt des historischen Geländes kümmern, das um ein Haar zu einem Parkplatz planiert worden wäre, heute Getränke verkaufen. Eine ganze Reihe von Menschen hat sich versammelt, mehr als hundert junge und ältere Poesieliebhaber*innen, die wohl genauso wenig mit der gruseligen Innenstadt, die unser Terrain umgibt, anzufangen wissen wie ich.

Sie bleiben drei Stunden und hören interessiert zu, was wir Dichter*innen über Wirklichkeit und Schein zu sagen haben. Besonders beeindruckt mich die junge afghanische Autorin Mariam Meetra mit ihren Gedichten, die vom Verlust der Heimat handeln und die einen Teil ihrer Gedichte auf Farsi vorträgt. Tim Holland liest Auszüge aus seinem Langgedichtband, Adrian Kasnitz, Kölner und Verleger wie Holland, seine Krefeldgedichte und aus seinem neuen Band “Im Sommer hatte ich eine Umarmung”, Hung-Min Krämer reflektiert in ihrem bei Elif erschienenen Gedichtband “Das ergibt sich dann” philosophisch und humorvoll über die Aspekte des täglichen Lebens und ihren Mann und ich lese meine Krefeldgedichte in der atmosphärisch wunderbaren Sporthalle neben dem alten Kaiserbad, in der Moderator Thomas Hoeps als Schulkind furchtbare angstgeplagte Stunden verbracht hat, wie er berichtet. Es ist für ihn eine herrliche Genugtuung, dass er heute hier nicht mehr über den Bock oder das aufgestellte Pferd springen muss, sondern selber das Sagen hat und so empathisch und klug moderieren kann.

Überhaupt sind wir Dichter*innen uns am heutigen Abend einig, dass uns alle miteinander die Abneigung gegen Turnhallen und Sport in der Kindheit verbindet.

Als ich mich während der Lesung meiner Kolleg*innen umsehe, frage ich mich auf einmal, ob die akademischen Zuschauer*innen, die hier sitzen und den Gedichten lauschen, wohl aus dem Viertel kommen, in dem wir heute Mittag noch waren, bevor wir in die so heruntergekommene Innenstadt gingen. Mittags waren wir nämlich noch in einem sehr reich wirkenden grünen Stadtviertel mit Villen von Mies van der Rohe und anderen, das so enorm sauber und idyllisch wirkte, voller Schatten, voller alter Bäume und Alleen. Aber Menschen waren dort, anders als hier in der Innenstadt, die die grüne Oase Stadtbad umgibt, nicht zu sehen. Als gegen neun Uhr das angekündigte Gewitter vorüber ist und der letzte Autor gelesen hat, ist es draußen auf einen Schlag um zehn Grad abgekühlt. Wir machen uns auf den unfreundlichen und von Baustellen umgebenen Rückweg zu unserem Hotel. Unterwegs essen wir noch einen Döner am Berliner Hauptbahnhof, wo die freundlichsten Menschen überhaupt arbeiten und uns zuvorkommend bedienen und laufen dann durch erneute Blitze und Regen zu unserem Hotel, das ein Hotel ist, in dem man alles nur noch aus Automaten bekommt.

Seltsame Welten sind das hier in Krefeld: Unwirklich und wirklich zugleich ist diese Stadt, so sehr arm und so sehr reich, zwischen Dienstleistung und KI hin und herschwankend, mit viel Sonnenschein und kaltem Regen, schön und hässlich zugleich … genug Stoff bietend zum Blog- und Gedichteschreiben!

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