Gestern habe ich in der „Zentrale“ einem seit 2022 existierenden kleinen Theater in Bremen, eine bemerkenswerte Aufführung gesehen. Es wurde ein Stück mit dem Titel „Stadt ohne Juden“ gezeigt. Aufmerksam wurde ich darauf über eine Besprechung in einer Zeitung. Das Stück ist die dramatische Fassung eines Romans von 1922 mit dem Titel „Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen.“ des Autors Hugo Bettauer. In ihm wird imaginiert, wie es wohl aussehen würde, wenn ein Staatspräsident beschließen würde, sämtliche Juden innerhalb von wenigen Wochen aus Wien bzw. Österreich zu vertreiben. Einzelschicksale werden beschrieben. Auch Kinder aus Mischehen, selbst Nachfahren der zweiten Generation dürfen nicht mehr im Land leben, können allerdings ihr Geld – sofern es versteuert ist – mitnehmen und müssen ausreisen. Bei einer illegalen Wiedereinreise erwarten sie drakonische Strafen.
Die Inszenierung des Theaters führte zwei Moderatoren vor, einer davon in der Rolle des Staatspräsidenten, die die Geschichte unter teilweiser Einbeziehung des Publikums so erzählten, als habe sie sich in den zwanziger Jahren in Österreich wirklich zugetragen. Ein parallel gezeigter Dokumentarfilm, in dem ein angeblicher Nachfahre eines jüdischen Künstlers, der nach Paris gegangen war, von der dramatischen Geschichte seines Großvaters erzählte, der mit französischer Staatsangehörigkeit illegal zurückgekommen war, illustrierte die Handlung und gab ihr zusätzliche Authentizität.
Das Thema der Migration lässt gerade heute, wo es im Wahlkampf von allen Seiten instrumentalisiert wird, um Hetze zu machen, aufhorchen. Das Buch von Bettauer, von dem ich gestern zum ersten Mal hörte, ist schon 1922 geschrieben worden. Das erscheint fast unglaublich. Der Autor, der 1925 von einem Rechtsradikalen – wie erst Jahrzehnte später herauskam – ermordet wurde, war einer der wenigen Menschen, die schon früh und hellsichtig das dritte Reich vorhergesehen haben, auch wenn sein Buch versöhnlich endet, nämlich damit, dass die Christen feststellen, wie sehr ihr Leben sich zum Schlechten verändert hat, seit die jüdischen Menschen fort sind und beschließen, diese wieder zurückzuholen. Bettauer war wie einige jüdische Menschen seiner Generation vom Judentum zum Christentum konvertiert, was ihm selber allerdings am Schluss nichts geholfen hatte, als er von einem fanatischen Nationalsozialisten umgebracht wurde.
Da in den letzten Tagen so oft von L.A. und den Bränden die Rede war, musste ich gestern während des Theaterstückes plötzlich an Arnold Schönberg und an sein Haus in Brentwood denken. Ich hatte kurz vorher gelesen, dass es den Brand überstanden hat. Arnold Schönberg hatte das dritte Reich kommen sehen und war im Juli 1933 im französischen Exil zum jüdischen Glauben zurückgekehrt „Ich war seit 14 Jahren vorbereitet auf das, was jetzt gekommen ist. Ich habe mich in dieser langen Zeit gründlich darauf vorbereiten können und mich, wenn auch schwer und mit vielen Schwankungen, schließlich definitiv von dem gelöst, was mich an den Okzident gebunden hat. Ich bin seit langem entschlossen“, schrieb er kurz davor an Anton Webern.
Einer der zwei Höhepunkte meines Aufenthaltes in der Villa Aurora im Jahr 2006, von dem ich vor ein paar Tagen hier berichtet habe (blogs.taz.de/fremdeln/fremdeln-in-l-a/) war der Besuch beim Sohn von Arnold Schönberg. Eines Tages wurden wir nämlich von der Hausleitung informiert, dass wir (vier Stipendiaten) am nächsten Sonntag bei diesem zum Tee eingeladen seien. Das sei etwas, was die Schönbergs immer tun würden. Jeder neue Stipendiatenjahrgang werde einmal bei ihnen zum Tee eingeladen. Ich war zu dieser Zeit noch nicht lange in der Villa Aurora und fand die Einladung sehr aufregend. Solch ein hautnahes Treffen mit den Nachfahren des großen Komponisten erschien mir als etwas ganz Besonderes. Seine Werke hörte ich jedoch in der Villa Aurora nicht. Ich hatte mir dorthin einen Gesangszyklus von Schumann mitgenommen: „In der Fremde“, zu dem ich Gedichte schrieb.
Die Kommune der vertriebenen Kulturschaffenden am Pazifik faszinierte mich. Für keinen Filmstar aus L.A. hätte ich damals darauf verzichtet, mit Nachfahren der vertriebenen und zumeist jüdischen Künstlergeneration der Weimarer Republik und aus Österreich in Kontakt zu kommen und freute mich von daher sehr auf den Besuch. Auf dem Weg zum Haus von Schönberg kamen wir auch am ehemaligen Haus von Thomas Mann vorbei. Das war damals allerdings noch in Privathand, weshalb man es nicht besichtigen konnte. Heute gehört es dem deutschen Staat und ist auch ein Stipendiat*innenhaus. Aber wir konnten es immerhin durch die Palmen und Zedern leuchten sehen.
Empfangen wurden wir am Schönberghaus von Ronald, dem Sohn Schönbergs, der einer der Richter im Prozess um O.J. Simpson gewesen ist, welcher selber auch nur ein paar Straßen weiter lebte, wie Ronald uns erzählte. Dieser wohnte im Haus seiner Eltern und lebt wohl auch heute noch dort wie in einem Museum. Sämtliche Einrichtungsgegenstände, auch der Flügel und die Teppiche und die Bücher und Fotos waren aus der Vergangenheit und aus Europa. Denn die Schönbergs sind schon 1934 nach Brentwood/L.A. gezogen, andere Migranten wie die Feuchtwangers und Manns kamen erst viel später nach. Ronalds Frau Barbara stellte sich als die Tochter des Wiener Komponisten Erich Zeisl vor, auch sie also Tochter einer jüdischen Emigrantenfamilie. Alle beide sprachen ein feines Deutsch mit leicht wienerischem Schlag.
Nach Besichtigung des Hauses wurden wir in den Garten gebeten, wo es selber gebackene Sachertorte gab, dazu Schlagobers, alles mundete mir fantastisch. Wir saßen unter Palmen, die Blumen blühten und die Sonne schien und sprachen über feingeistige Dinge und der Wiener Charme der Vergangenheit war sehr präsent. Im Anschluss an das Kaffeetrinken gab es die besten Margaritacocktails meines ganzen Lebens und dazu kleine Kanapees. Von da an habe ich an vielen meiner folgenden Geburtstage Sachertorte gebacken und Margaritas getrunken und dabei wieder an diesen bezaubernden und so überaus gastfreundlichen Nachmittag im Garten der Schönbergschen Villa gedacht.
Aber zurück zum Theaterstück. Nachdem es gestern vorüber war, wurden wir gefragt, ob wir auch noch den passenden Stummfilm zum Stück sehen wollten. Dieser sei erst 2021 auf einem Flohmarkt in Paris entdeckt worden, er wurde wohl schon 1924 gedreht, die Hauptrolle spiele Hans Moser und er dauere 90 Minuten. Die Zuschauer blieben sitzen, so wie wir auch und guckten sich den beeindruckenden Film an, der mit vielen schwarzweißen Bildern und wenigen Zwischentiteln die Geschichte der Judenvertreibung im Jahr 1922 so erzählt, als wäre es schon 1933. Das war eine Reise in die Vergangenheit, die 2025, wo die Rechten und Antisemiten und Ausländerfeinde immer mehr an Macht gewinnen, eine mehr als dringende Mahnung für Alle sein sollte.