vonSabine Schiffner 05.06.2024

fremdeln

Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Wir nehmen Abschied von Palermo, das mich so begeistert hat, dass ich am liebsten ganz lange geblieben wäre. Immer wenn ich irgendwo in der Fremde bin, möchte ich genau dort wo ich bin, noch viel tiefer eintauchen, noch viel mehr sehen, hören, riechen, schmecken. Wir waren nur zwei Tage in Palermo, aber diese Tage waren schon sehr intensiv, so voller neuer Eindrücke und gutem Essen. Aber die nächsten Unterkünfte sind gebucht und so wird der Mietwagen abgeholt und geht die Fahrt Richtung Messina, in den östlichsten Zipfel der Insel, dort wo man vom Strand aus das italienische Festland zum Greifen nah liegen sehen kann. Unterwegs ist die Strecke entlang der nördlichen Küste fast vollständig untertunnelt, immer wieder tauchen wir mit unserem Fiat Panda aus der Dunkelheit auf, schnappen einen Moment nach Licht und fahren dann in erneuter Dunkelheit der ziemlich runtergekommenen Tunnelröhren Siziliens weiter Richtung Osten. Ich habe meinen Goethe in der Hand und lese, was ihm während seiner Italienischen Reise passiert ist, als er Palermo verließ. Die Gedanken am Morgen seiner Abreise – zu Pferde – erinnert mich an mich selber, die ich hier im Kleinwagen sitze und mein Büchlein mit seinen Beschreibungen in der Hand halte:

Girgenti (Agrigent), Donnerstag, den 26. April.  Ich genoß des herrlichsten Morgens am Fenster, meinen geheimen, stillen, aber nicht stummen Freund an der Seite. Aus frommer Scheu habe ich bisher den Namen nicht genannt des Mentors, auf den ich von Zeit zu Zeit hinblicke und hinhorche; es ist der treffliche von Riedesel, dessen Büchlein ich wie ein Brevier oder Talisman am Busen trage. Sehr gern habe ich mich immer in solchen Wesen bespiegelt, die das besitzen, was mir abgeht, und so ist es grade hier: ruhiger Vorsatz, Sicherheit des Zwecks, reinliche, schickliche Mittel, Vorbereitung und Kenntnis, inniges Verhältnis zu einem meisterhaft Belehrenden, zu Winckelmann; dies alles geht mir ab und alles übrige, was daraus entspringt. Und doch kann ich mir nicht feind sein, daß ich das zu erschleichen, zu erstürmen, zu erlisten suche, was mir während meines Lebens auf dem gewöhnlichen Wege versagt war. Möge jener treffliche Mann in diesem Augenblick mitten in dem Weltgetümmel empfinden, wie ein dankbarer Nachfahr seine Verdienste feiert, einsam in dem einsamen Orte, der auch für ihn so viel Reize hatte, daß er sogar hier, vergessen von den Seinigen und ihrer vergessend, seine Tage zuzubringen wünschte.

Es kostet mich große Überwindung, das Dorf Forza d`Agrò zu erreichen, welches das zweite Ziel unserer Reise ist. Ausgesucht hatten wir es, weil wir nach der hektischen Großstadt Palma auch einmal ganz abgelegen und auf dem Lande sein wollten. Dass es nun allerdings ein solcher Anstieg werden würde, hätte ich nicht gedacht; steilste Serpentinenpfade führten von unten, vom Meer hinter Messina aus, den Berg hoch, bis endlich das Dorf, das man schon von unten aus auf Bergeshöhe liegen sehen konnte, erreicht ist. Als ich aussteige, habe ich zittrige Knie und bin von der Auffahrt so erschöpft, dass ich beschließe, bis zum Ende unseres Aufenthaltes hier nicht mehr ans Meer herunterzufahren. Es ist windig hier oben, ein so starker Wind weht, dass ich mich einen Moment am Auto festhalte. Dann aber sehe ich mich um, den ganzen Weg hoch habe ich ja nur nach vorne geguckt. Und die entsetzliche Höhenangst, die ich erst noch habe, mischt sich sofort mit dem unglaublich berauschenden Eindruck, den man hier von oben aus auf die so paradiesische Landschaft hat. In der Ferne raucht der Aetna, gegenüber liegt das malerische italienische Festland, dessen letzter Zipfel ins ionische Meer hineinragt, nur eine scheinbare Handbreit durch die Meerenge der Straße von Messina von Sizilien entfernt und rings um uns herum ist nur malerische wildromantisch-mediterrane Natur, voller Olivenhaine, Orangebäume, manch einer Palme, wilder Orchideen und großer bunter Oleanderbüsche. Das Dorf liegt mit seinen kleinen alten Häusern und uralten Kirchen an den Berg geschmiegt und schaut uns sehr freundlich an. Wir bringen unsere Siebensachen zu unserer Unterkunft, einem drei Stock hohen alten Turm, auf dessen höchster Ebene eine Aussichtsterrasse einen atemberaubenden Überblick bietet.

Am nächsten Morgen läuten die Glocken der benachbarten Kirche SS Trinitatis um acht Uhr Morgens zum ersten Mal. Gestern Abend haben die Glocken der Kathedrale SS Annunziata auch um acht Uhr zum letzten Mal geläutet. Wir aßen da gerade in einer kleinen Trattoria mit dem Namen “60´s”, in der lauter Fotos von italienischen Filmstars aus den sechziger Jahren an der Wand hingen, unser Abendbrot. Außer uns waren nur zwei ältere deutsche Ehepaare dort, die aber wohl öfter in dem Dorf sind,  denn der etwas kurios auftretende Chef des Hauses schien sie gut zu kennen. Die Glocken gestern Abend schlugen nicht nur die Zeit, sondern spielten auch eine kleine wunderbare Glockenspielmelodie, die wir dann hinterher als Ohrwurm mit uns trugen und immer wieder summten. Acht Schläge zähle ich heute Morgen. Eine halbe Minute später läuten dieselben Glocken erneut. Diesmal sind es sogar neun Schläge. Und dann kommt wieder von irgendeiner der drei oder vier Kirchen wieder dieses bezaubernde Glockenspiel: So möchte man gerne am Morgen geweckt werden! Hier in Forza d`Agrò geht die Zeit anders als anderswo. Sie ist einerseits stehengeblieben, wie die Uhr an der Kirche SS Trinitatis, die für immer auf halb zwölf steht und sie wird andererseits so gestellt, wie die Leute es hier gerne haben. Aber wozu braucht eine/r auch die Zeit in einem Ort, in dem Zeit keine Rolle spielt und nie gespielt hat, so wie es aussieht. Rollen wurden hier, in diesem zeitlosen Dorf, allerdings schon viele gespielt. Die berühmtesten sind die des Paten “El padrino” oder Godfather, wie ihn Antonio, unser Host genannt hat, als er uns gestern hierhin führte. Ich war erstaunt, als er uns vom Godfather erzählte, denn in den Wikipediaeinträgen zu unserem Ort war davon nicht die Rede. Als ich dann auf italienischen Seiten recherchierte, war ich noch erstaunter darüber, dass wir bisher nichts davon mitbekommen hatten und erst recht, dass im Ort selber öffentlich nirgendwo darauf hingewiesen wird. Ob sie es extra vermeiden, um dem Dorf nicht den Touch von “Mafia” zu verleihen, der hier in Sizilien inzwischen einen sehr unangenehmen Geschmack hat? Es sind nicht viele Touristen hier in Forza d`Agrò, was sehr erstaunt. Denn wie ich feststellte, nahm Francis Ford Coppola den malerischen Ort, der auf den Ätna blickt und der ihm sehr viel geeigneter schien als der eigentliche Ort für das Bild von einem Mafianest namens Corleone, den es auch gibt und in dem fast alle Männer durch die “vendetta” umgekommen sind, um in ihm die Szenen zu drehen, in denen Al Pacino, der Pate, in seinen Heimatort zurückkehrt. Die Literaturvorlage von Mario Puzo, der als junger Mann in Bremen stationiert war und über seine Zeit als GI in meiner Heimatstadt sein ausgezeichnetes Erstlingsbuch mit dem Titel “The dark arena” schrieb, haben wir auch im Gepäck. Nun bin ich hier in Sizilien also schon wieder, ohne es zu wissen, über einen Schriftsteller gestolpert, der mir viel bedeutet. Das ist insbesondere deshalb seltsam, weil ich, bevor ich hierherfuhr, noch darüber nachdachte, dass es eigentlich nur sehr wenige interessante Autor*innen auf dieser großen Insel gibt, die ich kenne. Aber jetzt kommt es mir schon so vor, als wollten sie sich mir geradezu aufdrängen, mich daran erinnern, an sie zu erinnern!

Wir sind nun 24 Stunden in unserer neuen Behausung und haben uns schnell akklimatisiert und genießen die Ruhe nach den hektischen Tagen im schmutzigen Palermo. Und wir genießen auch die Sauberkeit in diesem Ort, in dem überall Schilder hängen, auf denen darauf hingewiesen wird, dass jede/r hier PERSÖNLICH dafür verantwortlich ist, dass der Ort sauber bleibt und in dem wir an jedem Tag der Woche den entsprechend sortierten Müllbeutel vor die Tür stellen sollen, damit die Müllabfuhr ihn abholen kann. Unser Gastgeber wies uns darauf hin; ich fragte mich im insgeheimen, wie die Müllabfuhr wohl hier den Berg und die Serpentinen hochkommt und nahm mir vor, erst dann wieder mit dem Auto zurückzufahren, wenn die Müllabfuhr für diesen Tag auch wieder unten angekommen ist und damit ich ihr unterwegs nicht in einer der steilen Kurven begegne.

Essen kann man übrigens in Forza d`Agrò nicht nur vorzüglich und mindestens genauso gut wie in Palermo, wo das Essen phantastisch war, sondern hier ist es auch sehr günstig. Gestern Abend aßen wir unter anderem sizilianische Nudeln, Busiate, die ich bis dahin noch nicht kannte. Heute begegneten sie mir auch bei Goethe, der es in Puncto Gasthöfe nicht so gut hatte wie wir und der den Namen der Nudelsorte nicht kennt, die er vorgesetzt bekam und dessen Beschreibung ich gerne ans Ende dieses Blogs stellen möchte. Vielleicht freut er sich ja daran und schaut jetzt auch wohlwollend aus seinem Weltgetümmel zu mir herunter:

“Da es hier keine Gasthöfe gibt, so hatte uns eine freundliche Familie Platz gemacht und einen erhöhten Alkoven an einem großen Zimmer eingeräumt. Ein grüner Vorhang trennte uns und unser Gepäck von den Hausgliedern, welche in dem großen Zimmer Nudeln fabrizierten, und zwar von der feinsten, weitesten und kleinsten Sorte, davon diejenigen am teuersten bezahlt werden, die, nachdem sie erst in die Gestalt von gliedslangen Stiften gebracht sind, noch von spitzen Mädchenfingern einmal in sich selbst gedreht, eine schneckenhafte Gestalt annehmen. Wir setzten uns zu den hübschen Kindern, ließen uns die Behandlung erklären und vernahmen, daß sie aus dem besten und schwersten Weizen, Grano forte genannt, fabriziert würden. Dabei kommt viel mehr Handarbeit als Maschinen- und Formwesen vor. Und so hatten sie uns denn auch das trefflichste Nudelgericht bereitet, bedauerten jedoch, daß grade von der allervollkommensten Sorte, die außer Girgent, ja, außer ihrem Hause nicht gefertigt werden könnte, nicht einmal ein Gericht vorrätig sei. An Weiße und Zartheit schienen diese ihresgleichen nicht zu haben.”

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