Das hohe Gras am Rande kommt mir bekannt vor, denke ich, als wir von Syrakus aus nach Marina di Ragusa fahren. Es erinnert mich an etwas. Dann sehe ich ein Schild: Papyrus!! Hier in Sizilien? Ich lese nach. Papyrus gibt es rund um die Stadt Avola, bekannt durch ihren Wein Nero d`Avola. Aber rund ist die falsche Beschreibung, denn selbst hier am Meer wächst er noch und vermehrt sich in alle Richtungen. Angeblich haben die Ägypter ihn vor zweitausend Jahren mitgebracht. Aber vielleicht haben ihn auch die Araber mit nach Sizilien gebracht, die im 9. Jhd. kamen. Erst ab dem 12. Jhd. wurde der Papyrus von Papier abgelöst. Jedenfalls gibt es auf der Welt Papyrus nur hier und am Nil. Dann muss also hier, stelle ich mir, ein ähnliches Klima herrschen wie in Ägypten, wenn der Papyrus nur an zwei Stellen der Welt keimt. Das Land Sizilien, welches wir durchqueren, ist fruchtbar, sehr fruchtbar sogar. Überall sind große Gewächshäuser, es gibt trotz Hitze viel Grün und das sizilianische Brot, gemacht aus sizilianischem Korn, ist ganz besonders lecker. Das wusste schon Goethe, der ja nicht nur eine Obsession für sizilianische Gesteinsformationen, sondern auch eine für den sizilianischen Ackerbau hatte….
„Der Weg hieher, mineralogisch uninteressant, geht immerfort über Kieshügel. Man gelangt ans Ufer des Meers, dort ragen mitunter Kalkfelsen hervor. Alles flache Erdreich unendlich fruchtbar, Gerste und Hafer von dem schönsten Stande; Salsola Kali gepflanzt; die Aloen haben schon höhere Fruchtstämme getrieben als gestern und ehegestern. Die vielerlei Kleearten verließen uns nicht. Endlich kamen wir an ein Wäldchen, buschig, die höheren Bäume nur einzeln; endlich auch Pantoffelholz!“
Ich schrieb ja schon in einem vorherigen Blog über die seltsame Parallele der Kornkammer Italiens mit der Kornkammer Russlands, der Ukraine. Ob und wie dieser Krieg hier in Italien wahrgenommen wird, weiß ich nicht. Aber ich entsinne mich, dass ich auf meiner letzten Reise durch die Ukraine erstaunt war über die vielen Autos mit italienischen Kennzeichen. Ein ukrainischer Bekannter klärte mich damals auf, dass sehr viele Ukrainer*innen nach Italien gehen würden, um hier zu arbeiten und dass sie dann, verheiratet mit Italiener*innen, in der Ukraine Urlaub machen würden. Das können sie wohl jetzt nicht mehr, muss ich denken. Vielleicht urlauben sie jetzt hier, in unserem Urlaubsparadies in Marina de Ragusa, das heute, am Wochenende, voller Urlauber*innen ist.
Diese sind, wohl wegen der drei Monate andauernden Ferien hier in Italien, die gerade begonnen haben, zumeist recht jung. Das ist für uns sehr schön, denn bislang haben wir in Orten Halt gemacht, wo die Urlauber*innen um uns herum eher alt waren, so alt wie wir oder noch älter, sowohl in Palermo als in Forza d`Agrò war dies nämlich der Fall. Aber hier tummelt sich die italienische Jugend am Strand und da fallen wir auf, weil wir so groß, so blond und so alt sind. Großfamilien drängen sich mit mehreren Generationen unter ihren Schirmen zusammen und die großen Geschwister gehen mit den kleinen ins Wasser. Dass dieser sehr schöne Ort vor allem von Italiener*innen frequentiert wird, bemerkt man auch deshalb, weil in der Gastronomie kaum Englisch gesprochen wird und das Essen sehr gut und, obwohl es ein so touristischer Ort ist, auch sehr günstig ist. Abends gibt es Schaulaufen auf der Promenade und wir wissen kaum, wo wir hingucken sollen, so viele schöne und kuriose Pärchen flanieren an uns vorbei. Man kommt sich vor wie in einem Film von Fellini….
Das Städtchen Modica ist nur eines von mehreren Städten hier in der Nähe, die alle einem furchtbaren Erdbeben zum Opfer fielen, das im Jahr 1693 stattfand. Anschließend wurden die Städte mit Unterstützung des Adels und der katholischen Kirche komplett neu gebaut und sind heute Teil des spätbarocken Weltkulturerbes der Unesco in der Region, von denen der Ort Noto der mit Abstand bemerkenswerteste und schönste ist. In Modica schmiegen sich die in rotem und goldgelbem Sandstein gebauten Döme organisch in den Berg und umrahmen die den Berg hochkletternden uralten Stadtviertel, die man über lauschige kleine Treppenaufgänge erreicht, an deren Rand Bananen, Hibiskus- und Bougainvillea in Töpfen stehen. Wir besichtigen in Modica den Dom St. Pietro, der voller schmerzensreicher Jesusstatuen mit aufgerissenen Brüsten und blutenden Wunden und Tränen ist. Gerade wird die Statue des heiligen Peter, der sich um einen Gelähmten kümmert, auf einen großen Prunkwagen gehievt, denn in zwei Wochen ist der Namenstag des Patrons der Kirche und dann gibt es wohl eine Prozession, bei der er aus seiner Kirche herausgefahren wird.
Gegenüber vom Dom gibt es ein fast hundertfünfzig Jahre altes Süßwarengeschäft. Die Spanier, die Sizilien jahrhundertelang in ihrem antisemitischen Griff hatten, brachten aus Südamerika und von den Azteken Süßspeisen mit, die man nur hier bekommt und die die Spezialität von Modica ist: Tiefdunkle Schokolade, die getrunken wird. Ravioli mit Schokolade und Hackfleisch und Ostergebäck, das es so ähnlich auch auf Mallorca gibt.
Modica ist nicht nur berühmt für seine Schokolade und die barocke Architektur. Hier wurde auch einer der zwei Literaturnobelpreisträger Siziliens geboren. Auch Luigi Pirandello bekam den Literaturnobelpreis für seine Werke. Salvatore Quasimodo, der Literaturnobelpreisträger von 1959, stammt aus Modica. Ich wollte deshalb unbedingt sein Geburtshaus besichtigen. Hier in Modica, wo er nur die ersten zwei Lebensjahre verbrachte, kennt man ihn und ehrt ihn. Das kleine Museum, das in seinem Geburtshaus eingerichtet worden ist, wird uns gegen eine Gebühr von 2,50 Euro von einem sehr redefreudigen Mann gezeigt. Wir werden gemeinsam mit drei Frauen aus Florenz herumgeführt, die hinter dem Rücken des Mannes, der pausenlos Anekdoten erzählt, Faxen machen. Hinterher vertraut mir einer der italienischen Damen an, dass sie das Gerede schier nicht ausgehalten habe. Was wohl der Dichter selber, der im Privatberuf Landvermesser war, zu diesem Führer gesagt hätte? Quasimodo ist ein würdiger Vertreter Siziliens. Er hat gemeinsam mit Ungaretti die italienische Dichtung erneuert und war einer der beiden wichtigsten Vertreter des so genannten Hermetismus in den Zwanzigern und Anfang der Dreißiger Jahre.
„Welcher Dichter hätte nicht dem Umfang seiner Welt die Grenzen zugewiesen, die sein Blick am deutlichsten umfaßt? Meine Grenze ist Sizilien. Dort gibt es antike Kulturen, Nekropolen, Latomien, Telamone, die über das Gras herausragen, Salz- und Schwefelbrüche und Frauen, die seit Jahrhunderten ihre toten Kinder beweinen, beherrschte oder entfesselte Leidenschaften, Verbrecher aus Liebe oder überempfindlicher Ehre.
Auch ich habe mein Lied nicht in der Ferne gesucht. Meine Landschaft ist weder mythologisch noch parnassisch: es ist das Sizilien des Anapo, Imera und Platano, des Cyans mit seinen Papyrus- und Eukalyptushainen. Es ist Pantalica mit seinen Gräberhöhlen, die 45 Jahrhunderte vor Christus entstanden und die angeordnet sind wie die Waben eines Bienenkorbes; es ist Gela und Megara Iblea und Lentino: eine Liebe, die, wie gesagt, der Erinnerung nicht gestatten kann, sich von diesen Orten für immer zu trennen.“
Quasimodo, der laut unserem Museumsguide ein ziemlicher Schwerenöter gewesen sein muss und zuletzt mit einer berühmten Ballerina verheiratet war hatte, sagte uns der Guide, vor allem ein Thema: Die Frauen! Aber dann verbesserte er sich und sagte: Die Liebe. Das führte bei uns Frauen zu Begeisterung und wurde zum Running gag. Immer wieder fragte er die drei Florentinerinnen, denen er mehr Sprachverständnis zutraute als mir: Welches Thema hatte der Dichter? Worauf sie im Chor antworten: Amore!
Ich mag das irgendwie. Die Leute hier gehen so nett und lustig miteinander um. Zur Illustration der sehr gefühlvollen Gedichte von Quasimodo noch eines, das der große Dichter Thomas Kling übersetzt hat:
„Mir schien, dass sich auftaten Stimmen, Dass/ Lippen nach Wasser begehrten, Dass/Hände zum Himmel sich reckten./Was für Himmel! Weißer als die Toten Die leise mich immer wecken;/ Mit nackten Füßen schaffen sie’s nicht weit./ Gazellen soffen aus den Quellen;/ Durchsuchte Wind die Wacholder,/ Und Zweige erhoben die Sterne?/
Nachdem wir in Modica Süßspeisen gegessen haben, im Geburtshaus von Quasimodo waren und eine unterirdische Felskirche besichtigt haben, die erst 1991 von einem Schulkind entdeckt worden und dann ausgegraben worden ist und die hier die einzige Stätte ist, wo sich noch Reste byzantinischer Mosaiken finden, fahren wir über Serpentinen weiter zur nächsten barocken Weltkulturerbestadt, nach Scicli. Dort gehen wir in einen wunderbaren barocken Dom, in dem Musik von Taizé vom Band kommt, bestaunen die Altare mit ihrer Fakemarmordekoration und schauen nach oben in die runden und auch ein wenig byzantinisch anmutenden licht ausgemalten Kuppen. .
Jetzt sind wir wieder zurück in unserem Wohnort Marina di Ragusa. Wir waren eben noch essen im Hotel Miramar, einem Restaurant, das nicht zu empfehlen ist. Der Kellner brachte die Pasta, die ich bestellt hatte, versehentlich an den Nebentisch, wo eine Frau saß, die eben erst und alleine gekommen war und die noch gar nicht bestellt hatte. Sie fing aber sofort an, die schwarzen Nudeln mit größter Selbstverständlichkeit aufzuessen. Ich sah ihr dabei zu und dachte, dass ja nicht alles perfekt sein kann in 10 Tagen Sizilien, in denen so vieles so perfekt gewesen ist. Während ich ihr noch zusah und überlegte, wie ich dem Kellner auf Italienisch klarmachen sollte, dass meine Pasta am Nebentisch aufgefuttert wurde, lief in den Fernsehern, die in allen Restaurants liefen, das Vorrunden Spiel Italien gegen Bosnien-Herzegowina. Aber keiner von den Italiener*innen sah hin. Sie schauten genauso wie wir in ihre Handys. Was sie dort guckten, weiß ich nicht. Wir aber informierten uns über die Wahlergebnisse in Deutschland bzw. in unserer Stadt Bremen. Als ich die ersten Hochrechnungen sah, war mir der Appetit sowieso vergangen. Wieso noch essen, wenn die Welt politisch gesehen untergeht. Wieso noch schreiben, wenn die Welt etwas ganz anderes will! Fast dreißig Prozent Stimmen für die AfD?! Die Reise durch Sizilien, auf Goethes Spuren, endet mit einem Missklang. Ich will diesen Reiseblog nicht mit Goethe beenden, mit dem ich hier angekommen bin, sondern mit einem Gedicht von Salvatore Quasimodo, der sich im zweiten Weltkrieg den Kommunisten angeschlossen hat und gegen den Faschismus und für eine bessere Welt kämpfte:
UND GLEICH IST ES ABEND
Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und gleich ist es Abend.
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