In Bremen ist so manches anders als in anderen Bundesländern. Dazu gehört unter anderem auch, dass der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen Bremens für alle Religionen zusammen erteilt wird. Das ist dann also so eine Art vergleichende Religionswissenschaften. Und diesen gibt es nur noch in zwei anderen Bundesländern, in Brandenburg und in Berlin. In allen anderen Bundesländern wird nach Konfessionen unterschieden und Katholiken, Evangelische und Muslimische Schüler*innen getrennt unterrichtet. Auch die Hindus und Buddhisten und Juden müssen dann mit den muslimischen Schüler*innen in Kurse, die z. B. in NRW „Praktische Philosophie“ heißen. Das ist in Bremen anders, denn dort sitzen sie alle zusammen. Das ist großartig für die Verständigung und den Austausch der verschiedenen Religionen.
Deshalb auch wohl kennt sich die Gruppe an Konfirmand*innen, mit der ich heute den Hindutempel in Blockdiek besuche, so gut mit anderen Religionen aus. Die Schüler*innen wissen, dass das Barfußgehen im Tempel nicht nur damit zu tun hat, dass wir des Schmuddelwetters wegen den glatten Boden beschmutzen könnten, sondern weil man mit bloßen Füßen näher an der Erde und damit an Gott ist.
Dass die 65 Menschen, die ringsum an der Decke abgebildet sind, und zwar jeweils mit einer Zahl versehen, eine Art Apostel seien, erklärt uns unser Führer Herr Karalasingam. Das überrascht mich ebenso wie die Konfirmand*innen und die Gruppe älterer Menschen, die aus der Horner Gemeinde stammen und die ebenso wie ich noch nie in einem hinduistischen Tempel waren.
Jeder dieser Apostel hat eine Geschichte zu einem der Götter überliefert, deren Statuen hier verehrt werden, sagt Herr Karalasingam jetzt. Unter den 65 Aposteln gäbe es sogar auch ein paar Frauen. Das ist hier ja alles so ungewöhnlich bunt und auffällig, sagt eine der Teilnehmerinnen. Aber Herr Karalasingam meint, dass er durchaus schon Kirchen in Deutschland gesehen habe, die auch bunt und auffällig seien.
In Bremen sind die Kirchen in gut protestantischer Manier ja eher schlicht, weshalb sich wohl die heute hier anwesenden Bremer*innen so sehr wundern über all die goldene Farbe und den bunten Stuck und die Malereien innen an der Decke und draußen. Er erzählt uns dann auch, dass die Tempel der Hindus im Süden Indiens sehr bunt seien, aber die im Norden, aus dem er stamme, dort seien sie eher schlichter und nur mit drei Farben. Das ist interessant, ist es doch hier in Deutschland auch ähnlich, je weiter man gen Süden geht, desto bunter werden die Interieurs der Kirchen.
Herr Karalasingam ist in Bremen bekannt, weil er der Besitzer des berühmtesten Arabic-Rollo-Imbisses Tandoor ist, einem Imbiss an der berüchtigten Ecke Sielwall, die ich noch aus Zeiten kenne, als dort der erste Gyros-Laden Bremens aufmachte, Ende der 70er Jahre also, als Sven Regener mit vielen anderen gegen die Vereidigung von Soldaten im Weserstadion demonstrierte und ich konfirmiert wurde, in einer Kirche, in der man am Tag der Konfirmation zur Klampfe Friedenslieder sang, was mein Großvater so skandalös fand, dass er gemeinsam mit einigen anderen älteren Männern unter Protest den Gottesdienst verließ. Die Ecke Sielwall ist nicht friedlicher geworden, sie ist immer noch Drogenumschlagplatz. Damit hat aber Herr Karalasingam nichts zu tun, seine Arabic Rollos sind schon lange die besten der Stadt und von dem Gyrosimbiss, der auch immer noch am Sielwall ist, spricht heute deshalb eigentlich niemand mehr.
Dass Herr Karalasingan nun Vorsitzender der Hindugemeinde Bremens ist, die aus ca. 100 Familien besteht, war ursprünglich nicht sein Plan, erzählt er uns jetzt. Aber er scheint es sehr gut zu machen. In dieser Funktion hat er es nämlich hinbekommen, den Baugrund für seinen Tempel von der Bremer Heimstiftung für 99 Jahre zur Pacht bekommen zu haben. Der Tempel befindet sich in einer eher prekären Gegend Bremens, die seitdem wirklich aufgewertet wird. Es gibt weit und breit und auch nicht in der großen Konkurrenzstadt Hamburg einen vergleichbaren Tempel, weshalb die hanseatischen Hindus von der Elbe bis nach Bremen-Blockdiek kommen, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht in Indien, sondern in Deutschland heiraten wollen, hier sind die schönsten goldenen Kulissen für solche Hochzeiten.
Bevor der Tempel in mehrjähriger Arbeit gebaut wurde, trafen die Hindus Bremens sich in einem alten Bunker in Bremen-Nord, der eine so niedrige Decke hatte, dass sie kaum aufrecht stehen konnten. Jetzt haben sie hier in Blockdiek eine hohe und wunderschön bemalte Decke, sogar zwei Engelchen, die wie von Michelangelo gemalt aussehen, schweben dort. Und ein Davidstern ist zu sehen, der sei, sagt Herr Karalasingam, jahrtausendealtes mächtiges Symbol im Hinduismus. Noch mächtiger aber sei das Hakenkreuz, bzw. das umgedrehte Hakenkreuz; was damit hier in Deutschland angestellt worden sei, zeige doch, wie mächtig es sei!
Heute ist der Feiertag eines Gottes namens Murugani, von dem ich noch nie gehört habe und der der Bruder von Ganesha ist, dem Gott mit dem Elefantenkopf. Der Priester, der ein Brahmane ist und also der höchsten indischen Kaste angehört und der Sanskrit sprechen kann, anders als 99 Prozent der Inder, trägt einen wilden schwarzen Bart und geht mit einer kleinen goldenen Gießkanne herum. Damit gießt er all die Statuen, die in den verschiedenen altarähnlichen und bunt verzierten Podesten stehen. Er „dusche“ sie, sagt jetzt Herr Karalasingam und auch, dass Murugami zur Feier seines Geburtstages eine besondere Dusche bekäme, er würde mit Honig und Milch geduscht.
Wie alt er denn genau geworden sei, fragt jemand aus unserer Gruppe. So alt, dass man nicht wisse, wie alt genau, aber mehrere tausend Jahre. Die Konfirmand*innen, die schon einen langen Schultag hinter sich haben, wirken jetzt, am Nachmittag, etwas müde. Trotzdem aber beobachten sie noch sehr neugierig den brahmanischen Priester, der mit nacktem Oberkörper und dunkler Brustbehaarung und einem Schurz um die Hüften hier herumgeht, obwohl draußen heute nur 18 Grad herrschen und es regnet. Nachdem er die Statuen der Götter, wozu unter anderem auch eine Statue gehört, die für Bildung zuständig ist, geduscht hat, zieht der Priester ihnen neue Kleider an. Das Duschen würde der Priester jeden Tag machen und könne nur er, sagt Herr Karalasingam, man werde in seine brahmanische Kaste hineingeboren und bekomme das Amt schon von klein auf mit.
Der Baugrund übrigens, auf dem das prächtige Haus stehe, sei deshalb ausgewählt worden, weil die Kuh, die ein bekannter Bremer CDU-Politiker namens Frank Imhoff, der im Zivilberuf Landwirt sei, ihnen ausgeliehen habe, sich auf dem Baugrund wohlgefühlt habe und nicht weggelaufen sei! Das sei ein guter Grund gewesen, hier zu bauen und nicht an anderen Stellen, die auch angeboten worden seien. Ein Mann mit einer Art Rock stellt jetzt die Opfergaben auf, spaltet Kokosnüsse, legt Mangos und Bananen zurecht, während wir uns verabschieden und Herrn Karalasingam noch ein Buch überreicht wird.
Ein bisschen war das eben wie ein Traum oder eine Reise in eine andere fremde Welt, muss ich denken. Hier, mitten in diesem auswärts gelegenen prekären Bremer Stadtviertel eine solch farbenprächtige und zugleich archaisch-religiöse Welt vorzufinden, ist schon irgendwie unglaublich. Jeden Tag um sieben Uhr ist Gottesdienst, haben wir eben noch gehört und dass jeder dort willkommen sei und kommen könne. Das will ich auch tun, ein anderes Mal wieder kommen. Bei uns kann jeder so beten wie er will, auch wenn er kein Hindu ist, sagte er eben noch beim Abschied. Das ist schön. Es gibt, wie wir heute hörten, wirklich erstaunlich viele Parallelen mit dem Christentum und den anderen monotheistischen Religionen.
Es ist so gut, dass hier an den Schulen im Religionsunterricht die Schüler nicht nach ihren Religionen getrennt unterrichtet werden. Und auch, dass es diesen Tempel hier gibt, in dem wir heute so viel darüber gelernt haben, was die scheinbar Anderen mit uns zu tun haben!