Wir haben uns ja hier schon mit den merkwürdigsten Versicherungen beschäftigt: mit Tiefkühltruhenversicherungen oder mit Versicherungen ohne Eigenkapital. Aber die Friedensversicherung hatten wir noch nicht. Die hatte in seiner Rede auf dem Dreikönigstreffen in Stuttgart Noch-FDP-Chef Guido Westerwelle.
Europa ist unsere Friedensversicherung. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist Deutschland nur von Freunden umgeben. Konflikte werden in Europa nicht mehr auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern am Verhandlungstisch.
(zitiert nach dem von der FDP veröffentlichten Redemanuskript, ob er das auch tatsächlich gesagt hat, keine Ahnung, ich höre mir diese Rede nicht an).
Ich glaube nicht, dass Westerwelle gemerkt hat, was er damit gesagt hat. Der Versicherungsbegriff, wie er heutzutage gebraucht wird, verknüpft erstens eng Leistung und Gegenleistung und will zweitens einen Schaden gar nicht verhindern, sondern ihn berechenbar machen: Der Versicherungsnehmer zahlt eine Prämie, um bei Eintritt des entsprechenden Schadensfalls vom Versicherungsgeber ausgezahlt zu werden, wie bei der Kranken- oder der Haftpflichtversicherung. Dieses Versicherungsverständnis rührt her aus den Schiffsversicherungen, die Ende des 17. Jahrhunderts in England aufkamen, und dort insbesondere von Lloyd’s angeboten wurden – die Vielzahl der Versicherungsnehmer (und Prämienzahler) sorgt dafür, dass die (relativ wenigen) Schadensfälle von der Versicherung geregelt werden können.
Eine solche Versicherung ist Europa natürlich nicht! Es geht ja nicht darum, einen Schaden (in diesem Fall: Krieg) bezahlbar zu machen, sondern darum, ihn gar nicht erst eintreten zu lassen. Auch für eine solche Art des Umgangs mit Risiken gibt es historische Vorbilder – etwa Deichgenossenschaften entlang der Nordsee oder Waldgenossenschaften, die in den Alpenländern für Aufbau und Erhalt von Schutzwäldern zuständig waren, die die Dörfer im Tal vor Lawinen schützen sollten. Eine solche Versicherung wäre Europa schon eher – aber für solche Formen wird der Begriff Versicherung eben nicht gebraucht. Also kann es Westerwelle auch nicht so gemeint haben, also kommt in der Verwendung des Begriffs Friedensversicherung die gesamte ahistorische, ignorante Krämerseligkeit Westerwelles zum Ausdruck.
Das Problem dabei ist nicht, dass der FDP-Vorsitzende keine Ahnung hat. Das Problem ist, dass der deutsche Außenminister nicht weiß, was er da anrichtet. Denn in all jenen Ländern, die er da so jovial als Freunde bezeichnet (und von denen einige 1990 Deutschland so gerne hatten, dass sie lieber zwei davon behalten hätten) ist durchaus bekannt, dass man Versicherungen auch kündigen kann, dass man sie nachverhandeln kann (macht die Münchner Rück laufend) und dass man im Zweifelsfall auch ganz ohne Versicherung die Weltmeere oder die europäischen Ebenen durchstreifen kann – dass sie letzteres können, haben die Deutschen bereits mehrfach bewiesen.
Im Ausland würde vermutlich eine dritte mögliche Bedeutung des Begriffs Friedensversicherung noch lieber gesehen: nämlich dass Deutschland versichert, in Zukunft und ein für allemal Frieden zu halten. In diesem Sinne verwendete etwa Karl Marx 1859 diesen Begriff:
Und wer es für unwahrscheinlich hält, daß jemand, der in Kürze seine Blitze zu schleudern gedenkt, mit solchen Friedensversicherungen hervortritt, den müssen wir daran erinnern, daß es derselbe Louis-Napoleon ist, der unmittelbar vor seinem verräterischen Meuchelmord an der Französischen Republik sich bei einem Republikaner über den Zynismus beschwerte, ihn für fähig zu halten, eine solche Gemeinheit zu beabsichtigen.
Aber auch so hat es Westerwelle natürlich nicht gemeint. Wenn er von „unserer Friedensversicherung“ redet, meint er natürlich eine, die uns (und unsere Nachbarn) schützt, aber keine, die unsere Nachbarn vor uns schützt.
Weswegen wir uns nicht wundern dürfen, wenn einige dieser Nachbarn jetzt anfangen, die Lauterkeit der gutmeinenden und friedensliebenden deutschen Außen- und Europapolitik zu hinterfragen. Wenn die ökonomische Supermacht der EU jetzt nämlich anfängt, sich wie eine Supermacht zu benehmen (der die Interessen ihrer Satellitenstaaten ziemlich egal sind), anstatt wie, sagen wir mal, ein Deichgraf, der dafür sorgt, dass wir alle gemeinsam nicht absaufen, dann wird Deutschland vom Vorbild, das es eigentlich sein sollte, wieder zum Risiko.