vonlottmann 28.06.2010

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In der Kneipe liegt die Wahrheit! Thomas Kapielski, der ´Dichter mit Volksanschluß´, überdröhnt mit voller, schöner Männerstimme das aus einer Ecke heransäuselnde “There´s no rain in California”, James-Last-Fassung. “Neulich war ick in so ´nem Laden mit Kosovo-Albanern, war ja neugierig, wollte mir det ma ankucken. Aber mein lieber Mann! Da kommt was auf uns zu…” Eine Sekunde lang starrt er auf den dicken Zigarrenbrandfleck in der künstlichen Häkeldecke aus Plastik, fixiert die daraufstehende vergammelt-dreckige Haushaltskerze, die nie angezündet wurde. In der relativen Stille hört man das Schwadronieren an anderen Tischen zu ähnlichen Themen. “Jetzt reden se drüber, dasse die Messer und andere Waffen in die Schulen verbieten wollen. Mensch! Das gab´s doch nie! Waffen! Die sollen se AUSPEITSCHEN, die Bengels…” Thomas Kapielski, 46, den sie hier nur Kapielski nennen, ist seit 20 Jahren Vorzeige-Anarchist der Berliner Literaturszene, ´begnadeter´ Dadaist und Surrealist, Autor der Romane ´Aqua Botulus´ und vor allem ´Der Einzige und sein Offenbarungseid´, womit er 1994 seinen Durchbruch auch im seriösen bundesdeutschen Kulturbetrieb bierselig feiern konnte. Natürlich ist er ein ausgewiesener Linker, hat mit Heiner Müllers Freundin in einer Wohnung gewohnt und so weiter. Aber jetzt geht es ihm um mehr: “Wir leben praktisch wieder in der Spätantike.” Er doziert über die “gierigen Blicke des Ostens auf unsere Marken-Turnschuhe” und über die hart erkämpfte Frauenemanzipation, die über Nacht wieder hinfortgespült werden könne: “Wir glauben, es ist alles so gesichert. Aber die Technik ist störanfällig. Und die ganze Moral ist so schnell wieder weg und alle ethnischen Errungenschaften…” …wenn sie nämlich erst kommen, die Völkerscharen Asiens!
Man sitzt am ´Gebildeten-Stammtisch´ einer Kreuzberger Kneipe mit dem Namen ´Der blaue Affe´. Die anderen Tische wirken aber kaum weniger ´gebildet´, vor allem der Tresen, wo ein Glatzkopf mit Schnauzbart vor den Augen anderer, ebenfalls oft glatzköpfiger Männer, die auf hölzernen, wackeligen Hockern im Western-Stil ausharren wie hingewuchtete Mehlsäcke, ein Bier nach dem anderen zapft. Diese Leute mögen abstoßend aussehen, aber sie unterhalten sich doch prächtig – besser als vor dem Fernseher. Und sie unterhalten einen wie Kapielski, der ihnen Texte wie diesen zu danken hat:
Hat Kramer dir auch schon mal die Geschichte erzählt, daß der in Amsterdam ist und steht in der Kneipe und trinkt ein Bier, und da kommt einer reingehumpelt mit einem Gipsarm und einem Gipsbein in der Neederlandse Spoorwegen Uniform, von der niederländischen Eisenbahn kommt einer rein. Und Kramer ist ja sehr kontaktfreudig und kam gleich mit dem ins Gespräch, und es stellte sich raus, daß der Australier ist. Dann hat der die wahnwitzige Geschichte aufgetischt, daß er Erholungsurlaub hat. Denn er hat auf dem Land ein Postrevier, das so groß ist, daß er mit dem Motorroller fahren muß. Eines Tages sieht er auf der Straße ein angefahrenes junges Känguruh liegen. Er steigt ab und versucht, dem Känguruh zu helfen, und da kommt aus dem Gebüsch die Mutter von dem Känguruh und schlägt den völlig zusammen. Boxt den richtig nieder, und infolgedessen hatte der also den Gipsarm und hat gehumpelt. Die Post in Australien gewährt für solche Zwecke einen Genesungsurlaub, und den hat er genutzt, um nach Holland zu fahren und sich eine Uniform zu kaufen.
Nicht immer haben die Bierkumpel solche netten Tierstories parat. Gewöhnlich mosern sie eher über faule Ossies, gemeine Kinderschänder und kriminelle Türken, wie jetzt gerade. “Wenn de die Oranienburger langjehst, siehste nur Ausländer, NUR AUSLÄNDER! Und uns sagen se, daß de Deutschen nich arbeeten wolln…”
Ist Harry Hass dabei, klingt dasselbe ganz anders: “Geile Kanacken im versponnenen Licht mohammedanischer Sonnenuntergänge knutschen ihre toten Frauen… Viren und Geier, UFOS und Peepshows, ein gigantischer Karnevalszug, der aller Beschreibungen spottet…” Die Meute johlt. Beide, Hass und Kapielski, fühlen sich geborgen. Das Seltsame dabei: beide, Hass und Kapielski sind eigentlich das, was man “wirklich feine Menschen” nennt. Sie passen in dieses Kabuff so wenig wie in dieses Jahrzehnt oder in diese Republik. Sie ragen noch aus der Weimarer Zeit herüber, aus dem Berlin von Kisch, Tucholsky und Ringelnatz. Nach dem Krieg blieb nur noch die Karikatur dieses Menschenschlags in Form von Heinz Erhard übrig. Und noch viel später: Kapielski. Wo sollte der nur hin? Mit seiner skurrilen Lakonie? Assistent bei Werner Büttner in der HFBK werden? Wenn er nicht gerade keckernd lacht wie einst J.R. Ewing, oder zynisch wird wie Harald Schmidt, der ein bißchen so aussieht wie er und sich auch so bewegt, so fipsig und dirigentenhaft, bricht er ein in die haltlose Trauer des Alkoholikers. Jedoch – man sieht´s ihm an und merkt es trotzdem nicht…
Das Stück wechselt, ´Golden Eye´, Stimmung kommt auf, James-Bond-Stimmung. Kapielski wird mutig. Apocalypse now! “Es wird zu großer Verarmung kommen. Wie zum Beispiel in Argentinien, wo der Mittelstand völlig ruiniert ist. Da ist man gezwungen, ständig von früher zu erzählen, weil es da so viel schöner war. Man redet von einem Fleischgericht von vor vier Wochen. So wird es hier eines Tages auch mal kommen.” Hätten die Argentinier sich doch bloß rechtzeitig vor den Kosovo-Albanern durch härtere Gesetze geschützt! Am Nebentisch trumpft ein entrechteter Wende-Verlierer auf: “Da haste dein janzes Leben lang einjezahlt, und dann kriegste ne Einheitsrente von 800 Mark… da reden se schon drüber, die Politiker. Die beklauen einen doch!” Genau! Da hat der Prolet neben ihm gleich noch eine Geschichte parat: “Da hatt´ ich Geschenke einjekooft für Zuhause, in so ner großen Sporttasche, wa, und die war dann weg…” Tja, die Bonner kommen, die Beklauer. Noch ein Feindbild mehr.
Das Wort ´Bonner´ muß Kapielski irgendwie aufgeschnappt haben: “Alle haben diese Erwartungshaltung: wenn das erstmal fertig ist (er meint das Bauen in Berlin Mitte) und dann auch noch die Politiker kommen, dann wird alles gut. Das wird nicht so sein. Eine Katerstimmung wird kommen. Die Bonner! (er spuckt fast aus) Die werden sich im Prenzlauer Berg reinkaufen. Die sitzen dann in den Kneipen und verderben die Preise.” Er schaut tief ins Glas. Es wird gerade späte Boney M. aus den mittleren 70er Jahren gespielt. Die ´Bonner´ werden mit vorgehaltenem Geldkoffer “BAB” erzwingen! Armes Kreuzberg, arme alte linke Szene der Vor-Wendezeit… Hunderttausende sind schon weggezogen, in die Westdeutsche Provinz geflüchtet, nach Marburg, Celle, Karlsruhe, Oldenburg, in jene dumpfe Suppe zurück, aus der sie einst vor einem Menschenalter kamen. Und Hunderttausende sind dafür zugezogen: junge, neugierige Kapitalistenkinder, die nichts vom Weltuntergang wissen. Die Besten aus Hamburg, München, Paris, London, Madrid, New York, Los Angeles. Sie wollen sich nicht “vor´m Bund drücken”, keine in der Kleinstadt vermurkste Homosexualität ausleben, keinen Idiotenfilm wie ´Cabaret´ in Endlosaufführungen “echt irgendwie spannend” finden. Und sie wollen sich auch nicht nachträglich beweisen, daß das Proletariat das Subjekt der Geschichte sei, indem sie der Pleite entgegendämmernde ehemalige Arbeiterkneipen zu ihrem Wohnzimmer erklären. Und doch: Das alles ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Tragödie Kapielski hat andere Ausmaße. Kann er etwas dafür, daß er die kleinen Leute mag? Mag er sie?
Kapielski hat Geographie studiert. Dort, wo er wohnt, in der Reuterstraße nahe Herrmannplatz, ist das Elend noch so schön wie vormals. Ein Trabbi mit Anhänger knattert neben dem trüben, nebelverhangenen Landwehrkanal, in dem noch immer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu treiben scheinen. In der S-Bahn so ein Bosnien-Gefühl: kommt noch ein Zug? Wird man noch aufspringen und einen Platz bekommen können? Auf den Bahnhöfen Leute in Verzweiflung. Ein 30jähriger Mann mit schwarzen Haaren wirft das Gesicht schluchzend in beide Hände – gerade Haus und Familie verloren? Die Kinder beim Treck erfroren? Das gerade gefundene Heim schon wieder ausgebombt? Hart, hart! Aber so war es immer, das alte Kreuzberg. Eine alte Fixerin, verroht, kurze Haare, Säuferstimme, Jogginghose, Palästinensertuch, geht grundlos auf einen gutgekleideten, sanftmütig blinzelnden Kroatenjungen los. “Ey, is was?! Is was! Ich mach dich feddisch! Ich schlag dich tot!… Ich hau dir eine rein… du hast keine Chance…” Keiner hilft dem Kleinen, alle denken wie Kapielski, der in der Figur der Fixerin vielleicht das Tragische wittert: ihr hat der Dichter zu helfen, der gesunde “angepaßte” Junge kommt schon zurecht. Schlimm auch eine Situation, als ein Mann einer Frau den Arm nach hinten dreht und zwingt, mit ihm zu kommen. Sie ruft nach Hilfe – es klingt wie Todesangst, aber man bildet sich auch schnell was ein – und krallt sich mit der freien Hand an einem Maschendraht fest. Die Passanten gehen schmunzelnd vorbei. Zur Rede gestellt, zeigen sie die sprichwörtliche Toleranz der Stadt: “Ach wat, die streiten sich doch nur `n bißken. Die ham sich gleich wieder lieb, wa.” Rührung erst bei einem Siebenjährigen, der selbstgemachtes Spielzeug verkauft. Der Volksdichter läßt sich nicht lumpen, erwirbt einen fünf Zentimeter großen Schneemann für drei Mark West. “Aus wat für´n Stoff ist denn das?” fragt er. “Aus Kalk!” Das Kind nimmt freudig die kostbaren Silbermünzen und ruft aus: “Sie sind aber ein reicher Mann!” Wie ertappt steckt er hastig sein Portmonnai wieder weg. Die Frau kreischt immer noch um Hilfe, noch nach Minuten, aus der Ferne, man hört sie bis in Kapielskis Hinterhof.
Die Wohnung selbst ist sauber. Das einzige Jackett, obwohl gezielt ´abgetragen´ und seit 15 Jahren nicht gereinigt, hängt ordentlich auf einem einsamen Haken im aufgeräumt leeren, gebohnerten Flur. Der Schriftsteller muß sich auf eine Lesung in wenigen Stunden ´vorbereiten´, also noch ein paar Dosen nachladen. Nur im Rausch verklärt sich einer wie Baal, Mallarmé oder Kapielski und läuft zu großer Pose auf, zeigt es den Spießern. Dabei wirkt er privat ganz manierlich. Gute Zähne, ein gutes Gesicht, das kräftige dunkelblonde Haar ist perfekt geschnitten; nur die weislichen
Bartstoppeln erinnern noch an das trunkene Genie, für das er sich halten läßt. Den selbstgestrickten, karmesinroten Seemannspullover mit dem unbeholfenen Reißverschluß im Latz zieht er erst im Dienst an, zur Lesung in einer vermeintlich alternativen Wohnung. Seine eigene ist weder alternativ noch etabliert, sondern clean. Mehr als vier Bücher braucht er nicht: Oblomov, Wilhelm Busch, Zettels Traum und Mai-Juni-Juli. Den Arno Schmidt benutzt er später als Tablett für den Tee. Teure tulpenartige Blumen verschönern die Küche. Kein Gegenstand zuviel: “Wenn hier mal Gäste sind und ich brauche ein paar Löffel, gehe ich zum Trödler und kaufe zwei.” Auf dem Boden die Bild Zeitung des Tages mit dem ´Thema des Tages´: “Immer mehr Kneipen müssen dichtmachen – die deutsche Gemütlichkeit stirbt.” In einem ´Nachruf auf meine Kneipe´ schreibt der zuständige ´Bild´-Redakteur anläßlich des bevorstehenden letzten Abends in seiner Stammkneipe allerlei Gefühlvolles über Menschen, die sich mit der Startfloskel “weißt du noch…” Geschichten erzählen: “Wir werden all die Anekdoten hören, die wir schon 25mal gehört haben… und alle werden mit dem Kopf nicken und versonnen durch den Zigarettenqualm antworten: Ja, das waren noch Zeiten.”
Weißt du noch, wie wir den langhaarigen Affen von Studenten verdroschen haben, der damals gegen Springer demonstrieren wollte… oder, im Falle Kapielski, natürlich umgekehrt: Weißt du noch, wie wir dieses Schwein von Bullen verhauen haben / die Mütze geklaut haben / die Reifen mit Schmierseife eingerieben / et cetera haben? Tja, dolle Zeiten…
Doch in fünf Jahren schreibt die Welt das Jahr 2003, Kneipen und Gemütlichkeit sind dann hoffentlich endlich tot, niemand weiß dann noch um die Bedeutung von ´1968´. Kapielski, was sagen Sie dazu? Er weiß keine Antwort, hat aber eine. Und ahnt es nicht einmal. Er gibt sie auf der Lesung.
Er liest Geschichten, die sich vor zwanzig Jahren abgespielt haben, die er aber erst jetzt geschrieben hat. Genauer gesagt: zum zweitenmal geschrieben hat. Es sind dieselben Suffkopp-Geschichten, die er immer schon zum besten gab. Doch mit einem Mal ist Distanz da, oder, wie es so schwülstig heißt, der lange Atem. Plötzlich ist es Literatur. Große Erzählung, wo vorher pubertile Provokation in ärgerlicher Langeweile verendete. Plötzlich ist es Erich Kästner und nicht mehr Bommi Baumann, ist es Hans Falladas ´Der Trinker´ anstatt Bukowskis Pennerprosa. Die Aufgabe des Schriftstellers, festzuhalten was war, und nicht was ist: hier hat er sie begriffen, beherzt zu seiner Sache gemacht. Kapielski schreibt die Geschichte der alten Bundesrepublik aus anarchistischer Sicht.
Vielleicht denkt er sogar immer noch, er schriebe nur für seine Freunde, für Plummy Gärtner, Harry Hass, Kade Schacht, Bazon Brock, Michael Schiner, Inge und Diana aus der Stammkneipe ´Goldener Hahn´ und vielen anderen. Das Publikum besteht zum Teil aus solchen Leuten. Er liest fast jeden Tag, meist in Kreuzberger oder Schöneberger Hinterhofwohnungen. “Ick bin hier immer mehr im Süden. Moabit und so, da bin ich fast nie, im Norden. Und jetzt kommt auch noch der Osten dazu, um Himmels Willen.” Die Welt wird ihm zu groß. Irgendwann wird man ihn zwingen, bis nach Wannsee zu reisen. Oder, noch übler, sich ein Faxgerät zu kaufen. Dabei redet er viel lieber mit den Seinen. Eine ´Froindin´ sagt leise: “Ich kenne keinen Menschen, der soviel liest und trotzdem so warmherzig mit seinen Nachbarn redet. Wie selten jemand lebt er beides, Bildung und Leben. Er geht nicht in Lokale, wo die Kellner die weißen Schürzen bis zum Boden hängen haben.” So ist es. Er liefert sich dem Leben hundertprozentig aus – vorausgesetzt, es findet nur in Kreuzberg statt. Aber die Froindin läßt nicht locker: “Er ist sich wirklich treu geblieben. Alle seine Freunde hat er schon seit sehr, sehr langer Zeit.” Eine andere Frau stimmt ihr zu: “Und er ist zuverlässig. Wenn er sagt, er paßt zu einer bestimmten Zeit auf die Kinder auf, dann kann man absolut sicher sein, daß er zu der verabredeten Zeit da ist. So zuverlässig wie er ist sonst keiner!” Oder gerade. Die kleine Gemeinschaft aus ein paar Dutzend Gestrandeten und Überlebenden, die Kapielski Community, die alle ein bißchen dichten, ein bißchen malen, ein bißchen mit der Büchse herumgehen, hält zusammen. In Wahrheit sind es nämlich große Freundschaften. Was man nicht gleich sieht, da doch gerade der romantische Freundschaftskult ein bißchen zu dick aufgetragen wird: Als Autor des Erfolgsbuches ´Der Einzige´ firmiert offiziell ´Kapielski und Freunde´.
Er liebt die große, ausholende Geste. Er bewundert Churchill, der schon mit 23 Artillerieführer war. Oder er erzählt die Geschichte, wie ein Freund Oswald Wieners ihm in der Paris Bar mit Grandezza die beste Flasche des Hauses orderte: “Gehns, a Flaschl Schambanja für´n Heern Profässor!” Da muß man an Harald Juhnke denken, ebenfalls “waschechter Berliner” mit kraftmeierndem Mutterwitz, ebenfalls mit diesem “Wir haben wenigstens jelebt!”-Pathos der Ballermann-6-Freunde, den verklemmte Intellektuelle dann bewundern sollen. Oder an Heinz Rühmann und Hans Albers in seligen Dritte-Reich-Filmen, wenn sie´s den feinen Pinkeln mal so richtig zeigten und im schnieken Adlon nur Bier und Kartoffelsalat bestellten. Lebensmotto: “Es wird überall nur mit Wasser jekocht!” Und da will man gar nicht wissen, was die Stadt gerade auf die Beine stellt, ein neues Zentrum für eine Millionenstadt zum Beispiel, einzigartig in der Geschichte. Nee, Unterschiede stören bei dieser Philosophie, Wasser wird jekocht, basta. Daß keine andere Stadt sich gerade so ändert, ja in ihr Gegenteil verkehrt, von kaputt auf lebenshungrig umschaltet: bloß nicht wahrnehmen. “Sicher ist nur eins: daß wir alle sterben müssen. Prost, Hans!” Daß im Lichte der neueren Genforschung selbst das weniger unumstößlich erscheint als früher, sollte den Vereinfachern eigentlich zu denken geben. Aber zu denen gehört Kapielski ja auch gar nicht. Seine Besonderheit: Anständig jelebt und trotzdem allet jelesen!
Der Bücherwurm als Zecher. Im Zehn-Minuten-Takt werden die beflissen hingeschobenen und abgeräumten ellenhohen Biergläser geleert. Freitag Abend Lesung, immer in einer anderen Wohnung, man unterrichtet sich kurzfristig per Telefon oder Handzettel: eine literarische Subkultur, no doubt. Als ´Vorgruppe´ trat einer auf, der mit Büchern wie ´Leck mich am Text´ und ´Das Gehirn ist selbst ein Arschloch´ reüssierte.
“Man braucht sich gar nicht bewegen, nur warten, die Dinge ziehen vorüber”, sinniert Kapielski beim vierten Riesenstiefel Bier, “und alle zehn Jahre gibt es eine ganz neue Stadt.” Was bei ihm so klingt, als würde er sagen: und so bleibt alles gleich, egal was sich ändert. “Sogar der Rainald Goetz wohnt wieder hier.” Allerdings in Moabit, gleich neben dem Gefängnis, wahrscheinlich der alten Stammheim-Faszination folgend. Und der Diederichsen natürlich, der sein DIEDRICH-DIEDERICHSEN-FESTIVAL unter dem Motto “ALTE SÄCKE WOLLEN TANZEN” kürzlich hochoffiziell und durchgängig in englischer Sprache in Berlin zelebrierte.
Die Leute hier mögen ihn. Sie sehen nicht wie alte Linke aus, eher wie junge Anwälte; gebildete, freundliche Mitbürger, ohne “Schleimfaktor”, wie es neudeutsch heißt. Die gerne lesen, obwohl sie eine Freundin haben und nicht mehr studieren: etwas, was es laut Statistik gar nicht mehr gibt. Nur Kapielski sieht anders aus, nicht so proper, aber er ist ja auch im Dienst, muß den Künstler geben. Eine Angestellte Anfang 30, rötlichblonde Antje-aus-Holland-Frisur, tagsüber bei Sat 1 im harten, nun schon Jahre währenden Bürostress, spricht ihn gut gelaunt an: “Hab einen tollen Text im Freibeuter gelesen von dir!” Sie trägt ein maßgeschneidertes dunkelblaues Kostüm, ihre klaren, angriffslustigen Augen machen Lust auf ein Wortgefecht. DIESE FRAU und nicht der Autor führt die angestrebte Doppelexistenz aus Leben und Literatur. Anstatt sich zu benebeln, leistet sie ihre Arbeit.
Das tut Kapielski ja auch. Neuerdings. Seitdem er begonnen hat, die Vergangenheit aufzuschreiben. Seitdem er diesen neuen Tonfall hat, dieses raunende Beschwören des Imperativs, diese Schwere eines alten Meisters. Jeden Morgen um Schlag neun Uhr sitzt er, Thomas Mann gleich, zwei Stunden am Schreibtisch und fummelt, Martin Walser gleich, dreitausend Zeichen in den eleganten, hellgrauen Macintosh. Das ist eines Tages so gekommen, vorsatzlos. Wie ein Befehl Gottes. Oder ein Reflex der Natur. “Eines Tages will man ja vielleicht mal Familie haben”, brummelt er leise, mehr zu sich selbst. Und daß das alles eben mit Gott zu tun hat, dieses letzte Aufbäumen (“So gut schreibe ich danach vielleicht nie wieder”), diese Stil-Wende, zeigt sich im Titel: ´Gottesbeweis´.
Nun sind die Sätze wie in Marmor bzw. wie in Windows gemeißelt. Was früher so gezwungen verschmiert daherkam, liest sich nun klar wie auf weißem Papier mit Laserdruck:
“Man muß nichts ewig machen. Und man soll auch nichts ewig machen. Da geht einer weit fort, vor Hunger und Durst, in den Bergbau. Dann wird ein Leben lang gemeckert, die… Maloche, der Staub, der Dreck… Dunkel. Dann kommen aber auch diese Brieftauben und dann schunkeln sie gerne: ´Solange unsre Tauben fliegen / zwischen Wuppertal und Siegen´. Da ist man dann schon eingerichtet. Und wenn dieses ewig beklagte unterirdische Rumgekratze plötzlich eingestellt wird, machen die plötzlich einen ´Motoradkorso´, weil sie nun bitte doch lieber die Staublungen möchten…. Muß so etwas sein? Kann es keine dezente Verabschiedung geben? Eine Einsicht in den Fortlauf der Anfänge und Enden und daß auch einmal Schluß sein muß? Mit allem?”
Der Berufsrebell hat nach 24 Jahren die Seite gewechselt. Und das hedonistische Herumschweifen bekommt endlich seinen Platz: die Zeit zwischen 1974 und 1982, die Kanzlerschaft Helmut Schmidts also. Damals, nach dem Scheitern des Projekts linke Zukunft, entdeckten viele, von Jörg Schröder bis Martin Kippenberger, die Gegenwart – und gaben sich ihr rauschhaft hin. Natürlich, um darüber zu berichten, das künstlerisch zu verwerten. Nur Kapielski nicht: der wollte nicht ´verwerten´. Oder nicht so richtig. Der wollte noch nicht einmal sein Tagebuch umschreiben lassen. “Methode Wildsau” blieb sein Generalkonzept, und als Kohl an die Macht kam, flüchtete er in die innere Kreuzbergemigration. Hier, nur hier, konnte er die Zeit stehenbleiben lassen. Und sogar als die Trabbis kamen, hielt er sich Ohren und Nase zu. So überlebte er als Einziger den kulturellen Offenbarungseid, überlebte die schier endlose (aus seiner Sicht) Oggersheimer Finsternis.
Und kann nun loslegen. Ein neuer Ovid, ein unverbrauchter Name. Wer im breiten Publikum kennt denn noch den alten Kapielski, den Totalverweigerer, den Provokateur? Es tritt auf: der große Erzähler. Der Mann, der von sich sagt: ja, ich habe gelebt. Der Merve-Autor. Denn der hochangesehene Merve Verlag, erste Adresse linker Schreiber in Europa, hat blitzschnell zugegriffen und sich die Rechte am ´Gottesbeweis´ gesichert. Im Spätsommer kommt das OEuvre unter dem Titel ´Davor kommt noch / Gottesbeweise´ in die Buchhandlungen. Rechtzeitig zum vermutlich letzten Abend im `Blauen Affen´.
Denn dann heißt es für den solventen Autor: Adieu tristesse, bonjour mairie!

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