Das Beeindruckende dieser Band sind die Bläser, elektronisch verstärkt, präzise, von beruhigender Kraft. Ihr Sound trägt einen in eine andere Zeit, einen anderen, romantischen Zustand. Die Idee von ´Romantik´ war ja schon am Beginn das heimliche Konzept von ´Madness´, schon vor 30 Jahren, und wie jede romantische Bewegung davor speiste sie sich aus der Trauer um das historisch Verlorene, in diesem Fall ertragen mit Hilfe von Klugheit, Humor und ´jetzt-erst-recht´-Lebenslust. Spaß eben.
Maggie Thather hatte gerade die Macht ergriffen, im ´Madness´-Gründungsjahr 1979, und begann die traditionsreiche Industrienation Großbritannien in jene Zockerbude für Spekulanten zu verwandeln, die sie heute ist. Schon damals beklagten das die ´Madness´-Songtexte, und die Musiker flüchteten in jene britische Exzentrik, deren Reste gerade für immer untergingen. Deshalb, durch diesen Blick zurück von Anfang an, wirkt die Band nie peinlich, nie unfrisch, auch nicht am letzten Freitag Abend in Berlin, im Gegenteil. Der Frontmann ruft ins Publikum: „In diesem Moment, während wir hier auftreten, versinkt gerade die Zivilisation unseres Landes. Gibt es hier irgend jemanden, der mein Land regieren möchte – dann trete er vor!“
Da sich keiner meldet, setzen die Bläser wieder ein, der nächste Ska-Song entfaltet seinen Sog, läßt die Beine kribbelig werden. Es ist unmöglich, zu ´Madness´-Musik nicht zu tanzen. Es sind die lustigsten Lieder der Popgeschichte, und sie machen doch melancholisch. Manchmal sind die Bläsersätze so erhaben, daß man kurz glaubt, gleich weinen zu müssen – um dann Augenblike später fortgerissen zu werden von Tanzfreude und Übermut, weil der Rhythmus schon wieder einen Salto vorwärts macht. In Berlin in der restlos ausverkauften Freilichtbühne – Skamusik erlebt gerade ein fulminantes Comeback – ging es Tausenden wie in Disneyland bei der Wildwasserfahrt: alle Affekte sind in ständiger Auf- und Entladung, Spaß pur ist garantiert.
Und dem widerspricht auch nicht, daß die Gruppe manchmal wie eine verstaubte Pankokenkapelle (wie der Hamburger sagt) daherkommt, mit Pauken und Trompeten, wie auf dem Fischmarkt. Oder überhaupt: daß da fünf seltsame alte Männer auf der Bühne sind, die sich allesamt kurios ähnlich sehen; alle gefühlte 44 Jahre alt, etwas korpulent aber nicht sehr, gleiche Größe, gleicher Typ Mann, gleiche Mecki-Frisur, alle in zu eng gewordenen Bestatter-Anzügen, dazu weißes Hemd, Krawatte, Sonnenbrille (?), Pepita-Hütchen. Sie sind ein bißchen außer Form, ächzen etwas, schwanken beim Gang – und sind doch der Inbegriff von Coolness und Integrität! Wie machen sie das?
Ihre Tanzschritte sind minimalistisch, ihre Ansprachen vor den Songs gekonnt. Kein „Äh“ und „Yeah“ und „hello Berlin are ya allright“ Gestammel. Lieber ein knappes Statement zu Gordon Brown. Oder ein Zwiegespräch mit einem Besucher, der seltsamerweise nicht tanzt. Diese britischen Stars wissen, wer sie sind. Sie könnten auch eine Talkshow zur Europawahl leiten, besser als Jörg Schönborn und Harald Schmidt zusammen.
Aber im Moment wollen sie diese Berliner glücklich machen. Und sie wissen natürlich, daß Deutsche eigentlich nie richtig aus sich herauskommen können. Das macht den Spaß nur größer, sie trotzdem dazu zu bringen. Der Vollmond geht auf, volle Bierbecher fliegen 30 Meter in die Luft und regnen wieder herunter. Alle rempeln sich nun an beim Tanzen, aber lieb gemeint. Die Bühnenscheinwerfer werden ins Publukum gedreht. Man sieht schwarz-rote Karoröcke, Leopardenmuster-Hosen, gelbe New-Wave-Frisuren, kaum Anzüge, denn die würden beim Pogotanz ganz schön leiden, und diese Hütchen natürlich. Diese Ska-Hütchen, die plötzlich in Berlin Mitte und anderswo jeder zweite käsige Jugendliche trägt. Die jungen Leute sehen ja wieder aus wie Vogelscheuchen oder Clowns, oder wie beides zusammen, oder noch ärger: wie Pete Doherty. Und bei ´Madness´ sind 85 Prozent diese jungen Leute. Die freilich die 15 Prozent Alt-Waver liebevoll anspringen, beim Pogo. Für ein Revival-Event sind das bemerkenswerte Zahlen. Am Ende hüpfen alle wie glückliche Flummibälle hoch und nieder, hoch und nieder, sehr hoch, sehr übermütig, und keiner schreit.
Man will ja die Musik nicht stören.
(FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG vom 7. Juni 2009)
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