vonBen Gerten 10.11.2009

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Görlitz strahlt an diesem Samstag, fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Viele Fassaden sind renoviert, ein paar Touristen haben sich sogar an dem kalten Novemberwochenende in die Stadt an der Neisse verirrt. Am Barockhaus Obermarkt 29 liest man mit Erstaunen, dass hier neben dem sächsischen Kurfürst August dem Starken schon Napoleon und der russische Zar Alexander I. genächtigt haben sollen. Hinter der prächtigen Fassade scheint das Haus aber leer zustehen

Bei der Suche nach Informationen zu den vielen renovierten Fassaden und Türeingängen lande ich im Buchladen Via Regia. Frank Vater, Buchhändler und Verleger in der Brüderstraße, stellt fest, dass die deutsche Ausgabe seines Stadtführers ausverkauft ist und empfiehlt dem Touristen stattdessen ein Produkt der Konkurrenz. Draußen am Zeitungsstand hängen erfreulicherweise mehrere Exemplare der taz.

Wichtiger aber noch an diesem Abend, er empfiehlt ein nettes Lokal in der Schwarzen Gasse fürs Abendbrot. “Kurze Karte, gute Küche, wenn Sie mit Menschen ins Gespräch kommen mögen.” Salü heißt das Lokal, die Entenbrust ist ordentlich und das Publikum kennt sich. 

Selbst spät an diesem Samstagabend erkennt man, dass in Görlitz seit der Vereinigung viel passiert ist. Wie viel, um das zu erkennen, bedarf es nicht der einschlägigen Bildbände, die die vorher-nachher Veränderung dokumentieren. Man muss nur kurz die Innenstadt durchqueren und auf dem Fußweg über die Neisse in den polnischen Teil der Stadt wandern.

So viel gemeinsames Europa ist noch nicht. Die Fassaden am Obermarkt sind vielleicht doch typisch. Die jugendlichen Skater auf der Straße vorm Haus des Jakob Böhme am polnischen Ostufer der Neisse sprechen zwar deutsch. Sonst scheint es in Görlitz aber so, als ob man mit dem hässlichen polnischen Entlein Zgorzelec am anderen Ufer am liebsten nichts zu tun haben möchte.

Kulturhauptstadt Europas wollte man gemeinsam werden.

Frau Prokop hätte gesagt, um Kulturhauptstadt Europas zu werden reichen die schönen Fassaden nicht. Der Anspruch muss mit Leben erfüllt werden. Vielleicht in 10 Jahren: Wenn die jugendlichen polnischen Skater sich heute auf dem Görlitzer Postplatz austoben und die deutschen das östliche Neisse-Ufer für sich entdecken, dann klappt es vielleicht in Zukunft auch im erwachsenen Alltag. Ein anderes ermutigendes Zeichen: Seit dem 20.Oktober, so weiß die Lokalzeitung zu berichten, gibt es gemeinsame polnisch-deutschen Zivilstreifen der Polizei. Und einen dazugehörigen Sprachkurs.

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https://blogs.taz.de/goerlitz_20_jahre_nach_dem_mauerfall/

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