Es war ein ungünstig gelegenes Blockseminar, das mich in meinem letzten Studiensemester an das Ende von Afrika katapultierte. Denn statt den Winter in München zu verbringen, auf das zweitägige Pflichtseminar Ende Februar zu warten und mich in der Zwischenzeit mit freiwilligen Vorlesungen gewissenhaft weiterzubilden, packte ich im Herbst kurzerhand den Koffer, buchte den billigsten Kapstadt-Flug, der sich auftreiben ließ, und kam nach Südafrika ohne den geringsten Plan.
Mit einer Sache hatte ich allerdings nicht gerechnet: dass ich fünfeinhalb Jahre später immer noch feststecken würde zwischen Xhosas, Buren und Zimbabwer, Steinzeit und Hochmoderne, den Ärmsten der Armen und den Reichsten der Reichen, überwiegend fröhlichen Menschen in durchschnittlich verzweifelten Lebenslagen, polygamen Demokraten und den Geistern der Toten, die hier bei Businessentscheidungen und Beziehungskonflikten noch ein paar Wörtchen mitzureden haben; und dass ich meinen organisierbaren Münchner Alltag gegen diese komplett ruhelose Kulisse langfristig austauschen würde.
Schon mein kurzer Weg zur Arbeit gleicht einem kleinen Film: Wenn ich morgens aus der Haustür trete, treffe ich als allererstes auf meinen schwulen Nachbarn. Schwul sein ist nicht nur akzeptiert, sondern geradezu hip in Kapstadt. In der Regel trägt er Frauenkleider, was ihm zugegebenermaßen sehr gut steht. Gleich gegenüber von unserem kleinen Altbauwohnblock, steht sich an der Hinterpforte eines der teuersten Hotels der Stadt ein ewig gutgelaunter Sicherheitswächter für nur umgerechnet 150 Euro im Monat jede Nacht die Beine in den Bauch und hält dabei – Gott segne ihn – auch die Autodiebe von unseren Parkplätzen fern. Seinen skeptischen Blicken nach zu urteilen, sind in seinem schwarzen Township Männer in Frauenkleidern weitaus weniger angesagt als hier in Downtown CBD.
Mein Weg führt an Arnold`s vorbei, einem bei deutschen Backpackern und südafrikanischen Alternativos gleichermaßen beliebten Restaurant, wo ein Frühstück aus Eiern, Tomaten, Speck und Straußenstreifen nur 1,50 Euro kostet. Ich sitze gerne hier. Vor Arnold`s auf dem Bürgersteig wartet allerdings seit einigen Wochen ein agiler 81-jähriger Rentner auf mich, der mich in seinem Afrikaansen Dialekt mit dem immergleichen Satz anbaggert: “Are you not cold, dear?“ Wir haben gerade Hochsommer und 34 Grad, aber was soll´s. Vielleicht hat der Spruch zu seiner Blütezeit noch funktioniert. Dann steigt er in seine fast ebenso alte Karre und braust von dannen. Rentner sind neben den Minitaxifahrern und den „Frauen in Kopftuch“, wie man sie hier schlicht und ergreifend nennt, die meistgefürchteten Autofahrer der Stadt.
Im größtmöglichen Radius umlaufe ich die Mülltonnen auf dem Bürgersteig kurz hinter Arnold`s, denn hier sezieren am Morgen die dazugehörigen Obdachlosen den Inhalt auf dem Gehweg und würgen vergammelte Speisen in sich hinein, während sie mir beim Vorbeigehen zuwinken. Sie sind ja alle sehr nett, aber der Anblick dreht mir jeden Tag aufs Neue den Magen um. An ein paar Dinge kann ich mich auch nach fünf Jahren nicht gewöhnen. Zwei Straßenverkäuferin mit bunten Kleidern und Pünktchen-Verzierungen im Gesicht versuchen mir dann weiter unten an der Kreuzung Zeitschriften, Zeitungen und indische Samosa-Teigtaschen zu verkaufen. Die eine sammelt gerade Geld für die Klassenfahrt ihres Sohnes und die zweite für eine neue Matratze, weil ihre jetzige “vom Tokoloshe verhext” sei. Jeden Tag gibt es zu denselben Produkten eine andere Geschichte, und ich bin mir aufgrund der Häufigkeit, in der auch mir hier die unwahrscheinlichsten Dinge passieren, recht sicher, dass die meisten stimmen.
Nach einer kleinen Kaffeepause überquere ich die Kreuzung mit den schlechten Sichtverhältnissen – fünf Palmen versperrten den Blick auf links – und schlage jedesmal drei Kreuze, wenn ich in ganzen Stücken auf der anderen Seite angekommen bin. Südafrikanische Autofahrer scheren sich grundsätzlich nicht um grüne Fußgängerampeln. Auf meinem Weg zu meinem Büro komme ich noch an ein paar hippen Boutiquen junger südafrikanischer Designer vorbei, kaufe dann aber erst in der somalischen „Superette“ ein – einem kleinen, schnörkellosen Minimarkt, wo man unter anderem Zigaretten und Kaugummis stückweise kaufen kann.
Die sehr charmanten somalischen Jungs arbeiten durch, Tag und Nacht, sieben Tage die Woche, und sehen dabei immer ganz elegant aus in ihren gebügelten weißen Hemden. Entweder sitzen sie hinten vor dem kleinen uralt Monitor, den sie neben dem Kühlregal auf einem Tisch aufgebaut haben, und googeln die neusten Neuigkeiten aus Mogadishu, oder sie versuchen ihre traditionsgemäß etwas langsameren südafrikanischen Angestellten in die Gänge zu bringen.
Und hier, genau gegenüber von dem renovierungsbedürftigen Gebäude mit der somalischen „Superette“ im Erdgeschoß und der nigerianisch-chinesischen Drogenzentrale von Cape Town, liegt mein Büro. Vor unserem modernen Eingang steht ein hochgewachsener ruandischer Park Guard, der in eigener Mission die Autos bewacht und im Gegenzug für seinen „Dienst“ die parkenden Autofahrer terrorisiert, bis sie ihm Kleingeld geben. Er hat einen wirklich extrem verstörenden Ausdruck in seinen Augen und sogar die kleinwüchsigen südafrikanischen Park Guards scheinen sich vor ihm zu fürchten, denn sie drücken ihm ihr Geld ab, wenn er an schlechten Tagen beschließt, dass „deren“ öffentlicher Parkplatzbereich, zu „seinem“ gehört.
Wenn er mich morgens mit seinen wilden Augen und einem „Allo Sisi. Au are you?“ begrüßt, flüchte ich mich schnell in mein Büro, bevor er mich nach coffee, change oder cigarettes anschnorren kann.
Und dann geht der Tag erst richtig los.
eure elena **