Der Bär flattert heftig in östlicher Richtung.
Eigentlich – wenn ein Satz so anfängt, ist immer Gefahr im Verzuge –, eigentlich hatten wir uns schon vorige Woche entschlossen, nur noch zum Einkaufen vor die Tür zu gehen, bis die große Arbeit getan ist. Wir müssen nämlich die letzten Jahre (Manuskripte, Briefe, Materialien) in die grauen Mappen der Handschriftenabteilung betten, und diese noch in diesem Jahr ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach einliefern. So ist es vereinbart.
Und wir müssen baldmöglichst einen Text für die Anthologie ›Schicht! – Reportagen aus der Endzeit‹ abliefern, die Johannes Ullmaier in der edition suhrkamp herausgibt. Außerdem müssen wir ›Guru mit Gänsen‹ (die nächste Folge von ›Schröder erzählt‹) vorbereiten, davon ist erst der Rohtext fertig.
Jedoch, der Weg zur Hölle ist mit interessanten Veranstaltungen gepflastert, und wir ließen uns verführen: Am 1. November stellte der Stroemfeld Verlag und der Verlag Neue Zürcher Zeitung die ›Historisch-Kritische Gottfried-Keller-Ausgabe‹ (HKKA) vor. Und da mußten wir hin! Der erste Grund: Die Veranstaltung war angekündigt als »Gottfried Keller: ›Der grüne Heinrich‹«. Und jeder, der in deutscher Sprache selbstbiographische Texte schreibt, muß natürlich den Ur-Heinrich gelesen haben, den Keller in Heidelberg begonnen hatte, den er in den Jahren 1850 bis 1855 in Berlin vollendete und der dann bei Vieweg in Braunschweig erschien.
Fünfundzwanzig Jahre später gab Gottfried Keller den Roman dann in einer grundlegend überarbeiteten Fassung heraus. Keller verdammte alle Philologen, welche die alte Fassung bevorzugten: »Es ist ungefähr die Situation, wie wenn man im Garten einen alten Mops begräbt und es kommen nächtlicher Weise die Nachbarn, graben ihn wieder heraus und legen das arme Scheusal einem vor die Haustüre.« Ich muß sagen uns gefällt der alte Mops auch besser, da ist mehr vom jugendlichen Brausekopf des Vormärz-Kellers drin.
Das Interessanteste der Veranstaltung in der Akademie der Künste war dann auch der Vortrag des Projektleiters Walter Morgenthaler, der die elektronische Edition der HKKA präsentierte. Die CD-ROM ermöglicht eine Paralleldarstellung von Texten und Varianten, bietet eine integrierte Wortentzifferung, diplomatischer Umschrift und Zeichenfolgensuche und vieles andere mehr. Wenn man nicht anderes zu tun hätte, könnte man mit diesem Wunderwerk seinen Lebensabend verbringen.
Der zweite Grund, weshalb wir zu Gottfried Keller mußten, hatte nichts mit dem Dichter zu tun, sondern diente der Befestigung einer neuen entente cordiale. Im Dezember vorigen Jahres veranstaltete die Uni Bielefeld im Berliner Brecht-Haus einen Workshop über die ›Literaturproduzenten-Bewegung‹ der Jahre 1967 – 68. Teilnehmer waren: Karl Heinz Braun (Verlag der Autoren), Eberhard Delius (Wagenbach, Rotbuch), Frank Benseler (Luchterhand), Erasmus Schöfer (Werkkreis Literatur der Arbeitswelt), Albrecht Götz von Olenhusen (Raubdruckarchiv), Hannes Schwenger (Extradienst, Gewerkschaft HBV im DGB), KD Wolff (Stroemfeld / Roter Stern) und Jörg Schröder (März). Vor Beginn des Symposions, als alle Teilnehmer noch herumstanden, hatte ich (J.S.) den spontanen Einfall, mich mit KD Wolff zu versöhnen. Ich ging also auf ihn zu, gab ihm die Hand, er schlug überrascht, aber freudig ein. Es war das Ende einer Jahrzehnte dauernden Feindschaft, die 1970 mit KDs Ausscheiden aus dem März Verlag begonnen hatte. Seitdem hatten wir uns gegenseitig an üblen Nachreden nichts geschenkt, und nun war das vorbei. Oder sagen wir’s mit Gottfried Keller: »Gefallen sind die Hiebe, verflogen Staub und Rauch.«
Barbara begrüßte diese Versöhnung lebhaft, sie ist ja manchmal geradezu harmoniesüchtig!
Kleiner Nachtrag: Noch eigentlicher hätten wir zu Klaus Theuerkauf gemußt:
Bis in vierzehn Tagen dann, lieber Klaus!
(BK / JS)