Seit der Sachsen-Wahl im September ist das Politische in Görlitz etwas in den Hintergrund gerückt und andere Ereignisse auf der Weltbühne beanspruchten Aufmerksamkeit. Etwa die schockierende Wiederwahl eines Rassisten zum mächtigsten Mann der Welt oder die Sprengung der Bundesregierung durch den ideellen Bombenleger Christian Lindner. Lediglich BSW-Mitglied Jens Hentschel-Thöricht sorgte für Aufregung in der Görlitzer Lokalpolitik, nachdem er an der von den rechstextremen „Freien Sachsen“ maßgeblich mitgestalteten Friedensdemo am 16.11. teilnahm. Aber Entwarnung: er wusste nicht, mit wem er sich da auf die Bühne stellte. Dann ist ja alles gut.
Unter anderem Burkhard Hasenfelder war Redner bei dieser obskuren Feier des Friedens. Ein Mann, der Mitglied im rechtsextremen Bündnis Oberlausitz ist, unverständlicherweise im Görlitzer Stadtrat sitzt, dort mit dem Verzehr von Snacks glänzt und erst kürzlich am 16.12. bei der Montagsdemonstration wieder von „Bevölkerungsaustausch“, manipulierenden Politikern, einer „korrupten Justiz“, vom Verfassungsschutz als „Stasi“ schwadronierte und diesen freundlich grüßte: „An dieser Stelle wieder meine tiefste Verachtung an diese Maden.“
Dies ist ein harmloseres Beispiel der vielen verstörend irrsinnigen Reden, die Hasenfelder an manchen Montagen hält. Das sind Gedanken, die jeglicher empirischen Grundlage entstiegen sind – ein Potpourri aus Verschwörungsmythen und Ressentiments. Das ist selbst einigen Montagsdemonstrant*innen zu viel, aber in dieser dort gelebten Diktatur der unbedingten Meinungsäußerung (und sei diese noch so undurchdacht, krass, beleidigend oder schwachsinnig) lässt man Menschen wie Hasenfelder reden, wie es ihnen beliebt. Bloß kein Maulkorb, lieber Verschwörungserzählungen und das engagierte Schüren von Ressentiments gegen Justiz, Polizei, Regierung, demokratische Parteien, Medien, geflüchtete Menschen, Gegendemonstrant*innen und natürlich die Antifa, die als das ultimative Böse in diesen Kreisen gilt. Unglaublich, dass jemand, der so redet, in ein öffentliches Amt gewählt wird – eines der vielen negativen Ergebnisse des Populismus-Zirkus der neuen Rechten.
Der Polit-Burnout schlägt zu
Doch sonst war es ruhig in Görlitz. Im Stadtrat versuchte man vernünftige Politik zu machen, mit einer viel zu großen afd*-Fraktion, die wiederum versuchte, Themen für sich zu kapern. Auf dem Weihnachtsmarkt führten sich viele Menschen von gestern Bratwurst und Glühwein intravenös ein, denn das ist ja Tradition und nichts ist heiliger. Und auch das gute Görlitz brauchte eine Pause. Polit-Burnout könnte man dazu vielleicht sagen. Wie viele schlechte Nachrichten, wie viele Krisen kann ein Bewusstsein aushalten, bevor es eine Pause machen, notwendigerweise gleichgültig werden muss (wenn auch nur für eine gewisse Zeit)? Zumindest ist das so, wenn man nicht zu den Leuten gehört, die Rechtsextremismus als angemessene Reaktion auf Probleme empfinden (man muss „empfinden“ sagen, denn mit Denken hat das alles wenig zu tun). Und natürlich schieben sich weiterhin die Montagsverwirrten durch die Stadt, führen unter anderem ein (tatsächliches) Puppentheater auf und bestätigen sich in ihren Vorurteilen über die da oben und die Fremden, die Deutschland überfluten.
Die Tragödie von Magdeburg kommt den Rechten gelegen
Dann kam Magdeburg. Eine Tragödie für die Opfer, deren Familie und Freunde. Für die Bundesrepublik ein weiterer Schaden, an der eh schon demolierten politischen Vernunft. Wäre man ebenfalls im schwurblerischen Denken geübt, man würde ohne lange zu zögern von einer geheimen und üblen Absicht von geheimen und üblen Mächten ausgehen. Nach Solingen das nächste Ereignis, in das ein Mensch mit Migrationshintergrund involviert ist und mit dem Stimmung für die Rechtsextremen gemacht werden kann. Wieder kurz vor einer Wahl. Nur ist es dieses Mal nicht mehr so einfach – der Täter war afd-Sympathisant und „Islamkritiker“, die rechtsextremen Influencer müssen ihre Äußerungen also noch etwas mehr verbiegen als sonst, um Geflüchteten die Schuld für diese Tat zuzuschieben. Aber mit der Schwurbelkeule „Verschwörung“, bzw. „System und Systemmedien wollen der afd wieder etwas anhängen“ lässt sich der Verstand der treuen Gefolgschaft dehnen und dehnen und dehnen bis weit über die Grenzen des eigentlich Denkbaren hinaus. Man hofft aufs Brechen dieser fragilen Verstandesgebilde, aber die Resilienz der naiven Verschwörungshungrigen erscheint grenzenlos.
Nazis greifen in Görlitz an
Pünktlich vor dem Weihnachtsfest zeigt sich dann auch in Görlitz noch einmal, was 40% Zustimmung für die afd konkret bedeutet und die seltsame Ruhe vor dem Sturm des nächsten Jahres ist beendet: Mitglieder*innen der Linken werden in der Nacht auf offener Straße attackiert. Die Frauen der angegriffenen Gruppe tritt man, während sie am Boden liegen – das ist das Frauenbild der Rechten: wenn sie nicht spuren, schlägt und tritt man zu. Eine Einstellung, die manche afd-Wähler*in für gute alte Tradition halten dürfte. Von Enthemmung spricht die angegriffene Samara Schenk (die sich nicht nur in der Linken, sondern auch im Klare-Kante-Bündnis engagiert und Menschen Mut macht, gegen den Rechtsextremismus in der Region zu demonstrieren – eine Frau, die viel bewegt in Görlitz) im Interview mit dem MDR und beschreibt den Zustand der Rechten in unserem Land mehr als treffend. Diese Leute sind enthemmt in jeglicher Hinsicht, von verbaler bis physischer Gewalt – alles muss raus. Die Zerstörungswut der Menschen von gestern, deren Häme und Rücksichts- als auch Vorsichtslosigkeit sind verachtenswert. Das sieht man auch an einigen Facebook-Kommentaren unter dem SZ-Artikel über den Angriff:
„Mauermörder Partei (Die Linke) oder Rechtsextreme. ..wo ist eigentlich der Unterschied??? Beide Seite hat blutige Hände…“
„Puh, Glück cehabt, dass es nicht andersrum war, da würde man gar nicht erst darüber berichten. Zumal ja mutmaßlich heutzutage schon als sicher erwiesen gilt. Wie heißt es so schön: es steht nicht die Wahrheit in der Zeitung, sondern dass, was für die Wahrheit gehalten werden soll.“
„gut so (Daumen-hoch-Emoji)“
Achtzehnmal (bei Fertigstellung des Textes) wurde mit dem in der rechten Troll-Szene berüchtigten Lach-Smiley (auch Deppensmiley genannt) reagiert – die Görlitzer Trolle in unherzlicher Weihnachtsstimmung. Wenn junge Menschen von Rechtsextremen verletzt werden, kann man sich nicht zurückhalten, man muss es missgünstig kommentieren. Den Betroffenen spreche ich an dieser Stelle Mitgefühl und Solidarität aus.
Alles soll so bleiben wie es ist, bzw. wie es niemals war
Man fragt sich, wie weit bergab es eigentlich noch gehen soll. Wir werden es Anfang nächsten Jahres beobachten dürfen. Eine noch größere rechtsextreme afd-Fraktion und einen Bundeskanzler Friedrich Merz, gilt es dann zu überleben. Im schlimmsten Fall wird Jens Spahn dafür sorgen, dass die afd in Regierungsverantwortung kommt. Das sind düstere Aussichten für progressive Politik und dringend anzustoßende Transformationsprozesse, um zukünftige Krisen irgendwie noch bewältigbar zu machen, was zumindest im Falle des Klimawandels jetzt schon zu spät ist. Stattdessen werden auf der Görlitzer Eislaufbahn am Obermarkt noch ein paar Runden gedreht und zur Weihnachtsmotorradrundfahrt eingeladen – alles soll so bleiben wie es ist, bzw. wie es niemals war. Die eigenen Fantasien werden zur (vergangenen) Realität verklärt. Ein Umdenken muss mit allen Mitteln verhindert werden.
Aber jetzt ist erstmal Weihnachten und trotz böser Absichten, Gedankenlosigkeit und Kritikimmunisierung, trotz all dem, was uns Teile der deutschen Bevölkerung zumuten (afd-Wähler*innen), was Rechtsextreme weltweit anstellen, was uns Milliardäre wie Musk vor die Füße speien, trotz all der salonfähigen Verachtung gegenüber Mensch, Natur und den vielen andern Lebewesen auf dem Planeten, trotz katastrophaler Politiker wie Christian Lindner, Jens Spahn, Markus Söder und Friedrich Merz, trotz des schmelzenden Permafrosts (um Himmels Willen – was für eine weitere Tragödie), sollten wir Hoffnung haben. Weil ein Weitermachen immer noch alternativlos ist und bleiben wird. Dem Übel darf man das Feld nicht überlassen, selbst wenn es sich als allumfassend inszeniert.
Oder wie Hannah Arendt zu sagen pflegte: „Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute.“ (Arendt an Gershom Scholem, New York, 20. Juli 1963)
*die afd muss kleingeschrieben werden, denn sie ist es – geistig und moralisch.