Görlitz ist nicht nur eine Stadt. Görlitz ist auch ein tiefes Gefühl. Und dieses Gefühl heißt oftmals: Frust. In der Regel kein aufmüpfiger, kein rebellischer Frust. Sondern einer, in dem man es sich eingerichtet hat, ein leiser, in den Alltag hineingefrotzelter. Einer, der nicht mehr weggeht. Der nicht mehr wegwill.
Im Görlitzer Alltag stolpert man immer wieder über Sätze, die man in Variationen überall in der Stadt vernehmen kann: „Die da oben sind das Allerletzte.“ – „Wer wählt so was noch? Die blöden Wessis?“ – „Die Altparteien kannst du vergessen.“ Man hat abgeschlossen mit dem, was die BRD mal war.
Die Wunden der Vergangenheit
Argumente dringen nicht mehr durch. Der Panzer aus Bitterkeit ist geschmiedet – aus Jahrzehnten der Kränkung, aus nicht gehaltenen Versprechen, aus den Verletzungen der Wendezeit – Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Ganz im Gegenteil: die anscheinend immer größer werden. Diese Wunden sind real. Sie sind tief. Sie bedürfen der Anerkennung.
Menschen haben viel verloren, manche gar ihre gesamte Identität. Der Kollaps einer Nation geht auch mit einem Kollaps des Eigenen zusammen. Wenn Ideen fallen, fällt das Innere mit. Dass dann der Westen mit seinem Neoliberalismus wie eine Heuschrecke über das Land hergefallen ist – das findet man selbst nach 36 Jahren nicht im Diskurs. Man befindet sich ja noch im Neoliberalismus, und diesen zu kritisieren, ist tabu, auch aus Ermangelung vorstellbarer Alternativen. Wenn, dann nur angesprochen, angeteasert. Eine oberflächliche Auseinandersetzung.
Dass man diese Wunden nicht aus eigener Kraft heilen kann – das ist nachvollziehbar, das ist menschlich. Das sind wir als Spezies eben auch: angewiesen auf Gemeinschaft und auf Anerkennung. Mittlerweile scheint es so zu sein, dass manche Menschen diese Wunden allerdings wie seltene Erbstücke behandeln. Sie scheinen einen eigenen Wert, einen Zweck an sich zu haben, den man nicht mehr hergeben möchte.
Lieber nimmt man diese Wunden mit ins Grab, als sich noch einmal auf diese Republik einzulassen. Egal, was die Politik sich noch überlegt, es wird nicht reichen. Die Demokratie? Ein Projekt für andere. Für die, die mitgespielt haben, als die Spielregeln geändert wurden.
Unkritisch nur bei Rechtsextremen
Diametral zu dieser kompromisslosen Ablehnung und Vorverurteilung alles Etablierten, der derzeitigen Politik, der rituellen Abwertung der „Altparteien“ und „Linksgrünversifften“, steht die völlige Hingabe an und Romantisierung der rechtsextremen afd. Während man sich als Gesellschaftskritiker*in geriert, alles mit Misstrauen beäugt, was irgendwie mit der Regierung zu tun hat, gibt man den Rechtsextremen alle Narrenfreiheiten der Welt – einen Vertrauensvorschuss, der rational nicht zu rechtfertigen ist.
Hier vergisst man den eigenen Anspruch, kritisch zu sein. Den verrotteten, rassistischen Kern der afd möchte man nicht erkennen, egal, was kommt. Man setzt alle Hoffnung auf die Faschisten – ein politisches Trauerspiel, wie man mittlerweile historisch belegt weiß.
Die afd muss nichts tun. Sie muss keine vernünftigen Positionen, keine Lösungen entwickeln. Sie muss lediglich in die alten Wunden fassen, den Finger in den Frust legen, in die gefühlte Benachteiligung, die Verachtung triggern und dann politische Bewegungsenergie abernten. Die Frustrierten werden von Faschisten gepflückt wie reife Früchte.
Das ist alles bekannt, das ist alles schon passiert, und dennoch funktioniert es so erschreckend gut, dass man in Ehrfurcht erstarren möchte vor der Macht dieses sozialen, politischen Mechanismus. Ein düsteres Naturgesetz.
Wie sich Görlitz selbst sieht
In den Kommentarspalten liest man derweil spannende Selbstbeschreibungen. Eine eigentlich harmlose Frage in der größten Görlitzer Facebook-Gruppe – „Was ist typisch Görlitz?“ – entlarvt, was man von sich selber hält:
- „Rentner-Touristenstadt und junge Menschen suchen das Weite, weil diesen nichts geboten wird.“
- „Wahnsinn, wie negativ alle sind.“
- „Grundsätzlich erst mal über alles ‚meckern‘ und ‚Dagegen-sein‘. Aber wenn’s drauf ankommt, schweigen und abnicken.“
Nur einige Beispiele. Manche nutzen die Gelegenheit, um performativ das zu belegen, was andere beschreiben: Sie beschweren sich. Einer fasst es so zusammen: „Dönerbuden ohne Ende, Schlägereien, Kinder mit zwölf, die saufen. Abends vom Bahnhof zum Postplatz? Gefährlich.“
Natürlich gibt es auch andere Stimmen. Die, die etwas machen wollen. Die, die das Positive sehen (und das gibt es sogar sehr häufig!). Aber sie wirken oft leise. Vereinzelte Gegenrufe, während die Lawine der Unzufriedenheit – ist sie erst einmal zu gewissen Themen ins Rollen gekommen – alles begräbt.
In den sozialen Medien werden immer wieder Migrant*innen zur Projektionsfläche. Neue Barbershops? „Wie viele denn noch?“ Marktstände? „Passen nicht zur Altstadt-Ästhetik.“ Gleichzeitig stellt man sich vor einen zwielichtigen Unternehmer wie Stefan Menzel, als wäre dieser der Heiland persönlich. Seine Nähe zur rechtsextremen afd scheint nicht zu stören. Im Gegenteil – sie adelt ihn regelrecht.
Ist das die neue Währung? afd-Anhängerschaft als Vertrauenssiegel? Als Freifahrtschein für jegliches Fehlverhalten? Görlitz, was ist da nur los?
Görlitzer Welten
Görlitz, dieses Gefühl. Dieser Frust. Diese gespaltene Stadtgesellschaft. Görlitz, das sind auch drei unterschiedliche Welten: die Frustrierten, die sich radikalisieren lassen; die sozial Engagierten, die dagegenhalten und langsam ausbrennen; und ein Bürgertum, das Görlitz als Genussregion etablieren möchte. Man spricht von Wein, Handwerk, kulinarischer Kultur, nicht von Gewalt, von Angst, von politischen Abgründen. Man genießt.
Vielleicht als Therapie. Vielleicht als Flucht. Vielleicht, weil man daran glaubt, dass neuer Wohlstand die alten Wunden heilen könnte. Vielleicht, weil es funktioniert?
Die sozial Engagierten und die Bürgerlichen bewegen die Stadt. Diese sind im Gespräch, diese organisieren Veranstaltungen, diese verbreiten positive Stimmung. Der Rest bleibt in seiner Echokammer. Laut. Unversöhnlich. Deren Vertreter*innen ziehen immer montags durch die Stadt, inszenieren sich als letzte Bastion der Vernunft – glauben alternativen Medien und Fakten und widersprechen sich damit selbst. Ein Trauerspiel.
Und bald könnte Sebastian Wippel Oberbürgermeister werden. Der Mann, der im VS-Gutachten zwar „ein paar verfassungsrechtlich bedenkliche, aber größtenteils keine problematischen Aussagen“ erkennen, aber auch keine unproblematischen benennen kann – wie niemand aus seiner Partei (sie sind sogar zu faul zum Lügen geworden).
Sebastian Wippel, der „freie Meinungsäußerung“ predigt, aber bei kritischen Nachfragen in den sozialen Medien lieber löscht und blockiert – nicht untypisch für selbsternannte Kämpfer (es sind meistens Männer) für die vermeintlich gefährdete Meinungsfreiheit.
Einer, der antritt, die Stadt zu einen – und dabei genau das Gegenteil tut. Ein hilfloser Mann, der sich nicht eingestehen kann, dass er sich verrannt hat. Das ist die Zukunft von Görlitz. Wird die Stadt das aushalten? Wird sie daran zerbrechen? Antworten gibt es keine. Noch nicht.
Also, was an der „Ablehnung und Vorverurteilung alles Etablierten, der derzeitigen Politik“ könnte denn im Kern berechtigt oder zumindest als legitime Kritik zu verstehen sein? Das erfahren wir nicht. Wir erfahren auch nicht, ob da ein einzelner mit dieser seltsamen Fahne der Identitären (die ich als solche hätte nicht identifizieren können) mitgelaufen ist, oder ob das ein relevanter Teil der Montagsdemonstranten war …
Ich kenne die Görlitzer Montagsdemonstrant*innen auch nicht, aber in Görlitz‘ Nachbarstadt Zittau hatten im vergangenen Jahr wir (einige „Anti-rechts“-Demonstrant*innen) ein Gesprächsangebot der Zittauer Montagsdemonstrant*innen angenommen und gemerkt, das gerade der Frust und die Wut über ihre Ausgrenzung als Corona-Maßnahme-Kritiker immer noch tief sitzt. Dazu kommt eine tiefe Ablehnung dagegen, dass Deutschland immer tiefer in die militärische Konfrontation mit Russland gezogen wird …
Über beide Themen kann und muß man sich streiten – sollte es aber auch in einer Stadt wie Görlitz tun statt sich zu verschanzen …