vonDavid Wuthe 15.09.2025

grenzstadtblog

Ein subjektiv-literarischer Blog über die politische Atmosphäre in der Grenzstadt und afd-Hochburg: Görlitz.

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Görlitz ist nicht nur eine Stadt. Görlitz ist auch ein tiefes Gefühl. Und dieses Gefühl heißt oftmals: Frust. In der Regel kein aufmüpfiger, kein rebellischer Frust. Sondern einer, in dem man es sich eingerichtet hat, ein leiser, in den Alltag hineingefrotzelter. Einer, der nicht mehr weggeht. Der nicht mehr wegwill.

Im Görlitzer Alltag stolpert man immer wieder über Sätze, die man in Variationen überall in der Stadt vernehmen kann: „Die da oben sind das Allerletzte.“ – „Wer wählt so was noch? Die blöden Wessis?“ – „Die Altparteien kannst du vergessen.“ Man hat abgeschlossen mit dem, was die BRD mal war.

Die Wunden der Vergangenheit

Argumente dringen nicht mehr durch. Der Panzer aus Bitterkeit ist geschmiedet – aus Jahrzehnten der Kränkung, aus nicht gehaltenen Versprechen, aus den Verletzungen der Wendezeit – Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Ganz im Gegenteil: die anscheinend immer größer werden. Diese Wunden sind real. Sie sind tief. Sie bedürfen der Anerkennung.

Menschen haben viel verloren, manche gar ihre gesamte Identität. Der Kollaps einer Nation geht auch mit einem Kollaps des Eigenen zusammen. Wenn Ideen fallen, fällt das Innere mit. Dass dann der Westen mit seinem Neoliberalismus wie eine Heuschrecke über das Land hergefallen ist – das findet man selbst nach 36 Jahren nicht im Diskurs. Man befindet sich ja noch im Neoliberalismus, und diesen zu kritisieren, ist tabu, auch aus Ermangelung vorstellbarer Alternativen. Wenn, dann nur angesprochen, angeteasert. Eine oberflächliche Auseinandersetzung.

Dass man diese Wunden nicht aus eigener Kraft heilen kann – das ist nachvollziehbar, das ist menschlich. Das sind wir als Spezies eben auch: angewiesen auf Gemeinschaft und auf Anerkennung. Mittlerweile scheint es so zu sein, dass manche Menschen diese Wunden allerdings wie seltene Erbstücke behandeln. Sie scheinen einen eigenen Wert, einen Zweck an sich zu haben, den man nicht mehr hergeben möchte.

Lieber nimmt man diese Wunden mit ins Grab, als sich noch einmal auf diese Republik einzulassen. Egal, was die Politik sich noch überlegt, es wird nicht reichen. Die Demokratie? Ein Projekt für andere. Für die, die mitgespielt haben, als die Spielregeln geändert wurden.

Unkritisch nur bei Rechtsextremen

Diametral zu dieser kompromisslosen Ablehnung und Vorverurteilung alles Etablierten, der derzeitigen Politik, der rituellen Abwertung der „Altparteien“ und „Linksgrünversifften“, steht die völlige Hingabe an und Romantisierung der rechtsextremen afd. Während man sich als Gesellschaftskritiker*in geriert, alles mit Misstrauen beäugt, was irgendwie mit der Regierung zu tun hat, gibt man den Rechtsextremen alle Narrenfreiheiten der Welt – einen Vertrauensvorschuss, der rational nicht zu rechtfertigen ist.

Hier vergisst man den eigenen Anspruch, kritisch zu sein. Den verrotteten, rassistischen Kern der afd möchte man nicht erkennen, egal, was kommt. Man setzt alle Hoffnung auf die Faschisten – ein politisches Trauerspiel, wie man mittlerweile historisch belegt weiß.

Die afd muss nichts tun. Sie muss keine vernünftigen Positionen, keine Lösungen entwickeln. Sie muss lediglich in die alten Wunden fassen, den Finger in den Frust legen, in die gefühlte Benachteiligung, die Verachtung triggern und dann politische Bewegungsenergie abernten. Die Frustrierten werden von Faschisten gepflückt wie reife Früchte.

Das ist alles bekannt, das ist alles schon passiert, und dennoch funktioniert es so erschreckend gut, dass man in Ehrfurcht erstarren möchte vor der Macht dieses sozialen, politischen Mechanismus. Ein düsteres Naturgesetz.

Wie sich Görlitz selbst sieht

In den Kommentarspalten liest man derweil spannende Selbstbeschreibungen. Eine eigentlich harmlose Frage in der größten Görlitzer Facebook-Gruppe – „Was ist typisch Görlitz?“ – entlarvt, was man von sich selber hält:

  • „Rentner-Touristenstadt und junge Menschen suchen das Weite, weil diesen nichts geboten wird.“
  • „Wahnsinn, wie negativ alle sind.“
  • „Grundsätzlich erst mal über alles ‚meckern‘ und ‚Dagegen-sein‘. Aber wenn’s drauf ankommt, schweigen und abnicken.“

Nur einige Beispiele. Manche nutzen die Gelegenheit, um performativ das zu belegen, was andere beschreiben: Sie beschweren sich. Einer fasst es so zusammen: „Dönerbuden ohne Ende, Schlägereien, Kinder mit zwölf, die saufen. Abends vom Bahnhof zum Postplatz? Gefährlich.“

Natürlich gibt es auch andere Stimmen. Die, die etwas machen wollen. Die, die das Positive sehen (und das gibt es sogar sehr häufig!). Aber sie wirken oft leise. Vereinzelte Gegenrufe, während die Lawine der Unzufriedenheit – ist sie erst einmal zu gewissen Themen ins Rollen gekommen – alles begräbt.

In den sozialen Medien werden immer wieder Migrant*innen zur Projektionsfläche. Neue Barbershops? „Wie viele denn noch?“ Marktstände? „Passen nicht zur Altstadt-Ästhetik.“ Gleichzeitig stellt man sich vor einen zwielichtigen Unternehmer wie Stefan Menzel, als wäre dieser der Heiland persönlich. Seine Nähe zur rechtsextremen afd scheint nicht zu stören. Im Gegenteil – sie adelt ihn regelrecht.

Ist das die neue Währung? afd-Anhängerschaft als Vertrauenssiegel? Als Freifahrtschein für jegliches Fehlverhalten? Görlitz, was ist da nur los?

Görlitzer Welten

Görlitz, dieses Gefühl. Dieser Frust. Diese gespaltene Stadtgesellschaft. Görlitz, das sind auch drei unterschiedliche Welten: die Frustrierten, die sich radikalisieren lassen; die sozial Engagierten, die dagegenhalten und langsam ausbrennen; und ein Bürgertum, das Görlitz als Genussregion etablieren möchte. Man spricht von Wein, Handwerk, kulinarischer Kultur, nicht von Gewalt, von Angst, von politischen Abgründen. Man genießt.

Vielleicht als Therapie. Vielleicht als Flucht. Vielleicht, weil man daran glaubt, dass neuer Wohlstand die alten Wunden heilen könnte. Vielleicht, weil es funktioniert?

Die sozial Engagierten und die Bürgerlichen bewegen die Stadt. Diese sind im Gespräch, diese organisieren Veranstaltungen, diese verbreiten positive Stimmung. Der Rest bleibt in seiner Echokammer. Laut. Unversöhnlich. Deren Vertreter*innen ziehen immer montags durch die Stadt, inszenieren sich als letzte Bastion der Vernunft – glauben alternativen Medien und Fakten und widersprechen sich damit selbst. Ein Trauerspiel.

Und bald könnte Sebastian Wippel Oberbürgermeister werden. Der Mann, der im VS-Gutachten zwar „ein paar verfassungsrechtlich bedenkliche, aber größtenteils keine problematischen Aussagen“ erkennen, aber auch keine unproblematischen benennen kann – wie niemand aus seiner Partei (sie sind sogar zu faul zum Lügen geworden).

Sebastian Wippel, der „freie Meinungsäußerung“ predigt, aber bei kritischen Nachfragen in den sozialen Medien lieber löscht und blockiert – nicht untypisch für selbsternannte Kämpfer (es sind meistens Männer) für die vermeintlich gefährdete Meinungsfreiheit.

Einer, der antritt, die Stadt zu einen – und dabei genau das Gegenteil tut. Ein hilfloser Mann, der sich nicht eingestehen kann, dass er sich verrannt hat. Das ist die Zukunft von Görlitz. Wird die Stadt das aushalten? Wird sie daran zerbrechen? Antworten gibt es keine. Noch nicht.

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https://blogs.taz.de/grenzstadtblog/2025/09/15/kult-um-den-frust/

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kommentare

  • Also, was an der „Ablehnung und Vorverurteilung alles Etablierten, der derzeitigen Politik“ könnte denn im Kern berechtigt oder zumindest als legitime Kritik zu verstehen sein? Das erfahren wir nicht. Wir erfahren auch nicht, ob da ein einzelner mit dieser seltsamen Fahne der Identitären (die ich als solche hätte nicht identifizieren können) mitgelaufen ist, oder ob das ein relevanter Teil der Montagsdemonstranten war …
    Ich kenne die Görlitzer Montagsdemonstrant*innen auch nicht, aber in Görlitz‘ Nachbarstadt Zittau hatten im vergangenen Jahr wir (einige „Anti-rechts“-Demonstrant*innen) ein Gesprächsangebot der Zittauer Montagsdemonstrant*innen angenommen und gemerkt, das gerade der Frust und die Wut über ihre Ausgrenzung als Corona-Maßnahme-Kritiker immer noch tief sitzt. Dazu kommt eine tiefe Ablehnung dagegen, dass Deutschland immer tiefer in die militärische Konfrontation mit Russland gezogen wird …
    Über beide Themen kann und muß man sich streiten – sollte es aber auch in einer Stadt wie Görlitz tun statt sich zu verschanzen …

    • Hallo Herr Schiermeyer, ich stimme Ihnen zu, dass man sich streiten muss und sich nicht verschanzen darf. Ich wüsste auch nicht, dass ich das jemals gefordert hätte. Gleichsam ist es so, dass die Montagsgdemonstrationen in Görlitz (über die ich bald ausführlicher berichten werde) mittlerweile hart ideologisch geschlossen sind. Man wähnt sich dort im Recht, möchte Politiker wegen Coronamaßnahmen vors Gericht bringen, die Ukraine zum Aufgeben animieren und prinzipiell soll ein anderes politisches System her – die Altparteien werden als das pure Böse und als zutiefst korrupt dargestellt. Wut und Sorge sollten besprechbar sein. Ich habe jedoch den Anschein, dass hier ein Dialog kaum noch möglich ist. Wer bspw. nicht der Meinung dieser Leute ist, wird schnell als Schlafschaf oder als Systemling deklariert. Was ebenso bekannt ist: immer wieder finden sich unter den Spaziergängern rechtsextreme, schwarz gekleidet Gruppen, die vom Demoleiter Frank Liske freundlich begrüßt und darauf hingewiesen werden, dass man sich benehmen soll, dann dürfe man natürlich mitlaufen. Ich muss sagen, das ist – gerade wenn man sich als Koryphäen der politischen Kritik inszeniert – doch sehr, sehr unkritisch und einfach fahrlässig freundlich. Ich möchte Ihnen also zustimmen: legitime Kritik immer und gerne! Auf Montagsdemonstrationen – zumindest hier in Görlitz – hat man sich m.E. davon allerdings teilweise schon komplett verabschiedet und es geht stattdessen um die ganz großen Weltverschwörungen und Umsturzfantasien. Ich wüsste nicht, wie man darüber vernünftig diskutieren soll. Ihnen dennoch alles Gute nach Zittau!

  • Hi taz, Hallo Herr Wuthe….Message des Autors nach Innen und Außen ist gut, klar und ehrenwert. Bin ich Fan! Aber aus der Bio eures Grenzblogs kommen die Zahlen und zT auch Inhalte wohl direkt aus dem „Görlizentrischem Weltbild“ 😉

    „40% Zustimmung für die afd bei der Europawahl ist Görlitz offiziell zum Epizentrum des demokratischen Untergangs geworden“

    Das ist leider nicht korrekt!

    Landkreis Görlitz -> ~ 40%
    Stadt Görlitz -> ~ 35%
    Städte & Kommunem im Rest des Landkreises mit z.T. weit ÜBER 50%!!!!!!!!

    Na gut, „Subjektiv-literarischer Blog über die politische Atmosphäre in der Grenzstadt und afd-Hochburg“……..aber wenn unrichtige 40% die eigtl 35% sind bei einer „wer ist eigtl diese Europawahl“ schon zum Epizentrum des demokratischen Untergangs in der Selbst- und Außenwahrnehmung führen, dann will ich nicht im Norden oder Süden des Landkreises wohnen.

    Grüße aus der Peripherie des Landkreises ohne Leuchttürme und weniger hang zur Inszenierung…da wo wirklich nur noch jeder Dritte geblieben ist und davon tatsächlich jeder zweite Faschisten wählt!

    • Hallo Herr Gaertner, also da möchte ich schnellstmöglich nachbessern: natürlich gehört der Landkreis für mich zu Görlitz dazu und stellt mit diesem zusammen das Epizentrum dar. Das habe ich allerdings nicht sehr differenziert dargestellt und die 40% sind dann eher sowas wie der Mittelwert des Konglomerats. Mein Anliegen war nicht, das Urbane dem Ländlichen vorzuziehen und dieses als maßgeblich zu inszenieren, denn ja, auf dem Land ist das alles noch mal eine deutliche Spur härter. Danke daher für Ihre Konkretisierung ;). Ihre Frage zur Europawahl verstehe ich allerdings nicht. Alles Gute und halten Sie durch in der Peripherie!

    • Vielen Dank für Ihre Rückmeldung, dann ist wohl etwas dran, an diesen unterschiedlichen Welten, die da aufeinandertreffen. Ich hoffe jedoch, Sie bleiben den Engagierten und überhaupt der Stadt wohl behalten! Gleichsam kann ich mir vorstellen, dass der Kraftaufwand immens ist, den es braucht, dieser Mauer aus Frust etwas Positives entgegensetzen zu wollen. Vor allem, da es nicht so scheint, als würde sich dieser Frust irgendwie lösen, sondern stattdessen sogar noch zunehmen. Danke jedenfalls dafür! Ich wünsche Ihnen viel Kraft und alles Gute!

  • Mein Herz fühlt ein bisschen Sehnsucht, wenn ich Görlitz höre. Mich hat es von 1997 – 2001 durch mein Studium aus einer westdeutschen „heile – Welt – Wohlstandsgegend“ nach Görlitz verschlagen. Viele Häuser waren stark sanierungsbedürftig. Dazwischen immer wieder bereits renovierte Häuser. Es gab viele alternative Projekte und Orte, an denen ich meine Zeit verbracht habe. Und auch die polnische Seite war für mich aufregend und interessant. Es war für mich eine Zeit mit vielen emotionalen Auf’s und Ab’s. Ich habe sehr viele sehr nette Menschen kennengelernt, nicht nur aus dem akademischen Bereich. Ich war willkommen in den Familien dieser netten Menschen und sie haben mir durch ihre freundliche Zugewandtheit ein Stück mein Heimweh genommen. Ich habe jedoch auch Skepsis mir gegenüber, der jungen Frau aus dem Westen, erfahren. Vor allem von älteren Menschen, z.B. in meinem ersten Praxissemester. Vorsichtiges gegenseitiges Abtasten, Annähern. Ich war mit meinen damals 20 Jahren recht ahnungslos, was die Schicksale der ehemaligen DDR – BürgerInnen anging (darüber haben wir in der Schule wenig bis nichts erfahren), habe viele Lebensgeschichten gehört und sehr viel gelernt in meiner Zeit in Görlitz und später in Dresden. Ich möchte diese Zeit nicht missen. Doch dieses Gefühl der Ohnmacht der GörlitzerInnen, die Atmosphäre der Unsicherheit, diese „erdrückende Schwere“ der GörlitzerInnen, die habe ich bereits damals wahrgenommen. Diese drei Gruppen, die in dem Artikel beschrieben werden, auch die gab es damals schon. Nach dem Studium habe ich lange Zeit in Dresden gewohnt und gearbeitet, meine wichtigsten freundschaftlichen Kontakte habe ich “im Osten”. Berufsbedingt wohnen wir jedoch seit einigen Jahren wieder im Westen. Ich denke viel darüber nach, was vor allem nach dem Mauerfall schief gelaufen ist, welche Stellschrauben man anders hätte drehen müssen. Görlitzer, gebt nicht auf! Und die AfD ist keine Lösung.

    • Vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen teilen, die Sie damals in Görlitz gemacht haben – das ist ein sehr interessanter Einblick in die Vergangenheit. Faszinierend finde ich auch Ihre Beobachtung, dass es diese drei Gruppe anscheinend auch aus Ihrer Sicht gibt und damals schon gab. Die Vorbehalte gegen Menschen aus dem Westen habe ich auch während meines Studiums dort wahrgenommen und auch diese gibt es heute noch teilweise. Gerade wenn man Dinge anspricht, wie etwa den grassierenden Rechtsextremismus, werden schnell Stimmen laut, die einen aus der Stadt wünschen. Und lustigerweise habe auch ich sehr viele prägende und schöne Erfahrungen in Görlitz während meiner Studienzeit machen dürfen. Meinen Sie es gibt ein Herankommen an diesen Frust aus der Wendezeit? Haben Görlitzer*inne mit Ihnen ausführlich darüber gesprochen?

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