Brunnen des Vergessens (Kroatien)
Gedächtniswunder
Die 45-jährige Geschäftsführerin einer Privatschule in Los Angeles, Jill Price, ist ein „Gedächtniswunder“ und als solches steht sie natürlich im Zentrum der Aufmerksamkeit all der bekloppten US-Gehirnforscher, die da meinen, unsere Bewußtseinsaktivitäten auf physikalische und chemische Prozesse zurückführen zu können – um mit dieser Reduktion schwer reich zu werden und sich endlich alles leisten zu können: eine Villa, einen BMW, einen Swimmingpool, teure Reisen und Privatschulen für die Kinder. Also den bewußtlosesten Scheißdreck überhaupt. Das aber nur nebenbei.
Jill Price ist eine „Gedächtniskünstlerin“. Über solche Ausnahmemenschen geht es u.a. auch in dem Buch „Lernen und Gedächtnis“, in dem sich ein Abschnitt über die „Die totale Erinnerung!“ und „Die Wahrheit über außergewöhnliche Gedächtniskünstler“ findet.
Die Süddeutsche Zeitung interviewte Anfang Januar, da man sich ja noch gerne einmal des vergangenen Jahres erinnert, Jill Price. Und leistete sich dabei gleich zu Beginn einen saudummen Patzer, der den US-Gehirnforschern in nichts nachsteht: „Es heißt, Sie könnten genau sagen, was an einem beliebigen Datum seit ungefähr Ihrem 15. Lebensjahr passiert ist.“ Zum Beispiel am 4.Oktober 1992 – sagt der SZ-Interviewer.
Und Jill Price antwortete: Das war ein Sonntag, lassen Sie mich nachdenken. Ein Flugzeugunglück? Aber sicher nicht in den USA, oder?
SZ: Es war in Amsterdam. Dort stürzte eine El-Al-Maschine in ein Wohnhaus.
Price: Dann weiß ich es nicht. Ich habe es jedenfalls nie in den Nachrichten gesehen. Aber ich könnte ihnen sagen, was an diesem Tag sonst noch passiert ist. Ich war sehr traurig, weil mein Hund zwei Tage zuvor gestorben war, von Samstag auf Sonntag waren wir bei Freunden zu Gast und am Sonntag sind wir alle gemeinsam für ein Picknick an den Strand gefahren.
SZ: Offenbar erinnern Sie sich auch an scheinbar irrelevante Dinge. Können Sie erklären, wie Ihr Gedächtnis arbeitet?
„Irrelevant“? Für Price ist doch der Amsterdamer Flugzeugabsturz völlig irrelevant – im Gegensatz zu einem Picknick mit Freunden oder dem Tod ihres Hundes! Was für ein Quatschkopf – dieser SZler.
Aber Jill Price ließ sich zum Glück nicht ins Bockshorn jagen von ihm: „Vor allem funktioniert es autobiographisch. An alles, was mich persönlich angeht, was mit eigenen Erlebnissen oder denen von meiner Familie und Freunden verbunden ist, erinnere ich mich am besten. Die Bilder in meinem Kopf kann man sich wie einen vielfach unterteilten Fernsehschirm vorstellen. Dort laufen in einer Endlosschleife Filme parallel ab. Als hätten Kameras Episoden meines Leben aufgenommen, die nun zugleich abgespielt werden. Willkürlich und ohne nachvollziehbare Verbindung. Das kann die Erinnerung an das Papstattentat sein oder der Gedanke, dass es vor zwei Tagen 31 Jahre her war, dass ich Windpocken bekam.“ Und nicht nur das: Jede ihrer Erinnerungen ist mit der damaligen Stimmung verknüpft: „Ich fühle mich jedes Mal wieder, wie ich mich exakt in dem Moment gefühlt habe.“
Weil Jill Price harmoniebedürftig ist und Streit aus dem Weg geht, korrigiert sie nie die Ungenauigkeiten in den Erinnerungen ihrer Freunde. Über die sich um sie reißenden Gehirnforscher sagte sie: „Es war schmeichelhaft, der Grund dafür zu sein, dass ein ganzes Forscherteam ausflippte vor Begeisterung. Sie sagten, mein Fall sei einzigartig. Ich habe mich totgelacht. Als ich die Studie über mich las und der Arzt endlich einen Namen für meinen Fall erfand, habe ich geweint. Vor Erleichterung. Ich schrieb den Namen für das Syndrom auf ein Post it und klebte es an meinen Nachttisch: Hyperthymestisches Syndrom.“
Ihr Wahnsinnsgedächtnis sei jedoch durchaus ambivalent, fügt sie hinzu: „Ohne meine Fähigkeit, alles abzuspeichern, hätte ich viele schöne Erinnerungen nicht. Andererseits erinnere ich mich so gut an vieles, das ich mir selbst nicht verzeihen kann. Leider!“
In anderen Worten: Sie hat nicht nur ein außergewöhnliches Gedächtnis, sondern ist anscheinend auch ein überdurchschnittlich guter Mensch, denn jedes Fehlverhalten ihrerseits, jede Lüge, jede Gemeinheit bleibt ihr unbarmherzig erhalten – es kann nicht abgemildert, umgelogen oder – wie man so schön sagt – verdrängt werden.
Sie nennt Beispiele: „Es sind die vielen Kleinigkeiten, die einen verrückt machen. Hast du dich in dieser Situation richtig verhalten, in jener Unterhaltung das Richtige gesagt? An größere vermeintliche Fehlentscheidungen erinnern sich andere ja auch.“
SZ: Es ist eine psychologische Binsenweisheit, dass wir vergessen müssen, um seelisch gesund zu bleiben. Welche Bedeutung haben Sprichwörter wie ‚Die Zeit heilt alle Wunden‘ für Sie?
Price: Keine. Ich habe Dinge noch nicht verarbeitet, die 30 Jahre her sind. Das wird immer extrem schwer für mich sein. Dieses Sprichwort empfinde ich daher ähnlich wie die Redensarten ‚Schwamm drüber‘ oder ‚Das Leben geht weiter‘: Ich weiß, was sie bedeuten sollen, aber verstehen kann ich sie nicht mal im Ansatz.
Dieser gute Mensch bekam deswegen in den schrecklichen Neunzigerjahren Depressionen- und begab sich in Behandlung.
SZ: Bisher ging man davon aus, dass wir uns vor allem an Dinge erinnern, die uns entweder besonders stark bewegen oder über die wir sehr oft sprechen, weil so Verlinkungen im Gehirn entstehen. Nun ist da plötzlich jemand, der bis heute genau weiß, was er am 2. Dezember 1981 in einem Lokal bestellt hat. Wieder so ein US-Quatsch: „Verlinkungen“ im Gehirn – das also wie ein Computer funktioniert. Wenn überhaupt, dann ist es höchstens umgekehrt – dass der Computer wie ein schlechtes Amihirn funktioniert.
Jill Price antwortet darauf: „Seltsam, oder? Weil ich mich einerseits nur an die Dinge erinnere, die mit mir selbst zu tun haben. Andererseits unterscheidet mein Gedächtnis nicht zwischen emotionalen und nichtemotionalen Erinnerungen. Da wird zum Beispiel der Verzehr einer Portion Pommes neben meiner Hochzeit und dem Tod von Prinzessin Diana abgespeichert. Wie drei Termine in einem riesigen Kalender. Das ist auch ein wenig beunruhigend. Weil man mit einem Blick auf diesen Kalender sehen kann, wie sehr eine beliebige Entscheidung von vor 25 Jahren unser Leben bis heute beeinflusst. Leider sind nicht alle Entscheidungen, die man im Leben trifft, gut.“ (1)
Als Ex-Peripatetiker konnte er sich nur im Gehen erinnern
Vergesslichkeit
In der selben SZ-Ausgabe kommt ein anderer SZ-Autor ebenfalls auf das Gedächtnis zu sprechen – unter der dem vorangegangenen SZ-Artikel eher widersprechenden Überschrift: „Glücklich ist, wer vergisst?“
Es geht um das im Internet gespeicherte Wissen, das einem lange nachhängen kann. Erwähnt wird die Geschichte eines kanadischen Arztes, dem man 2006 die Einreise in die USA verwehrte, „nachdem ein Grenzbeamter bei einer flinken Internet-Recherche auf einen bereits Jahre alten Artikel des Akademikers in einer obskuren Fachzeitschrift gestoßen war, in dem er über seine LSD-Experimente in den sechziger Jahren berichtet hatte.“
Ein Harvard-Forscher (natürlich!) plädiert nun für eine Ablauffrist für elektronische Daten: „Delete“ heißt sein Buch dazu. Der SZ-Autor schreibt: „Das ließe sich über eine einfache Nutzeroberfläche festlegen und flexibel einstellen, von wenigen Tagen bis zu hundert Jahren. Nach Ablauf würden sie gelöscht, oder, um die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses authentischer abzubilden, sie würden „rosten“, also Schritt für Schritt schwieriger auffindbar werden und sich immer langsamer abrufen lassen.“
Der Internetforscher befürchtet sonst eine kognitive Überforderung, „die der informationelle Overkill für die Menschen darstellen kann, und die uns ähnlich in unseren Datenfluten ertrinken lässt, wie es in ihrer Sammel- und Speicherwut den Geheimdiensten geschieht“.
Der SZ-Autor fragt sich indes: Sind wir tatsächlich solche emotionalen Sklaven unserer kleinen Erinnerungsstützen? „Will man zum Beispiel einer misshandelten Ehefrau in dem Moment recht geben, in dem sie ihren Mann anzeigt, oder eher später, wenn ihr sein Hundeblick klargemacht hat, dass er doch ‚auch seine guten Seiten‘ hat?“
Er ist deswegen gegen die Delete-Forderungen des Harvardianers: „Das Ergebnis wäre eben nicht segensreiches Vergessen, nicht befreiende Erinnerungslosigkeit, sondern es wäre Verschwommenheit, Ungewissheit, wäre eine partielle Rückkehr zum Glauben und Ahnen – alles, um das Leben besser verkraften zu können. Und an dieser Stelle bekommt der so menschenfreundlich gemeinte Ansatz eine schwer antiaufklärerische Schlagseite.“
Beim Versuch, sich zu erinnern, schlief er prompt ein.
Erinnerungslücken
In einem 3. SZ-Artikel vom selben Tag geht es ebenfalls um das „Gedächtnis“ – und zwar der Ökonomen, die – so der Autor – Auslassungen von Max Weber aus dem Jahr 1894 über die Börse schier vergessen haben.
Weber verteidigte seinerzeit die Börse – gegen das Diktum des ersten Ökonomen Adam Smith, dass ihre Nutzer allesamt Verschwörer gegen die Gesellschaft seien. Für Weber waren sie eher Hasardeure. Aus deren Ungewissheit machten die späteren Ökonomen jedoch das Risiko. Der SZ-Autor zitiert dazu Dirk Baecker: „Auch und gerade für die Wirtschaft gilt, dass nur der Zufall fundamental ist.“
Diese Weisheit war neben Karl Marx („Das wahre Gesetz der politischen Ökonomie ist der Zufall.“) auch schon Charles Darwin bekannt, als er die liberale Wirtschaftsordnung auf die Natur projizierte – und dabei an die Stelle der Zielgerichtetheit/der Teleologie (d.h. der evolutionären Verschwörung zwecks Höherentwicklung) den blinden Zufall der Mutation setzte, die sich statistisch durchsetzt oder gar nicht. Damit ersetzte er das lamarckistische „Gedächtnis“ der Natur, mit der Erfahrungen weitergegeben und sogar vererbt werden, derart nachhaltig, dass bis heute alle diesbezüglichen Experimente von Lamarckisten, Kammererianern und Kropotkinisten von der herrschenden Biologie in die Vergessenheit gedrängt werden. In dem Manifest der Pariser Gruppe „Tiqqun“ – „Kybernetik und Revolte“ – wird erklärt, warum das so sein muß bzw. soll.
Der Anblick des Alten Mannes ließ ihn über Traum und Gedächtnis nachdenken.
Verschüttete Gedächtnisse
Um eine sozusagen handfeste Zerstörung des Gedächtnisses geht es in zwei taz-Artikeln – aus dem Jahr 2009: Einmal über den Einsturz des Kölner Stadtarchivs – bei dem „30 Regelkilometer Kulturgut“ verschüttet wurden. Und zum anderen um die in einer Merseburger Turnhalle von Peter Sodann gesammelten DDR-Bücher, über die es heißt, dass dieses „abgeschobene literarische Gedächtnis der Ostdeutschen nun zerfällt“. Während in der FAZ etwa zur gleichen Zeit davon die Rede ist, dass das „Archiv von Münster Ordnung in das Gedächtnis der Stadt bringt“.
Zuvor war in der taz bereits die Rede von der Akademie der Künste als einem „kulturellen Gedächtnis“ sowie von einer Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit Braunschweigs, das sich „Vernetztes Gedächtnis“ nennt. Und aus Mexiko berichtete die dortige taz-Korrespondentin: „Mit den Fotografien der Camaristas aus Chiapas erhalten die indigenen Kulturen erstmals ein eigenes visuelles Gedächtnis.“ Während die FAZ über den Tod von Carlos Monsivais schrieb, mit ihm sei „Mexikos Gedächtnis“ gestorben. In der taz wurde sodann über das „Fotografische Gedächtnis des Ruhrgebiets“ und über ein Projekt in Essen berichtet, wo es um die Schaffung eines „Gedächtnisses für die im Zweiten Weltkrieg geborenen Kinder“ ging. Ferner forderte Salomon Korn laut taz die Westeuropäer auf, das Leid der Juden aus dieser Zeit in ihr „kollektives Gedächtnis“ aufzunehmen. Während einige Fotografinnen im Ruhrgebiet sich entschlossen, eine „regionales Gedächtnis“ aufzubauen. Und über einen Kongreß in Berlin wurde berichtet, dass man dort „dem Gedächtnis der Natur auf der Spur“ war. Der Spiegel schrieb währenddessen unter der Überschrift „Gutes Gedächtnis“: „Schmetterlinge erinnern sich an ihr Leben als Raupe“. Während die FAZ etwa zur gleichen Zeit berichtete, dass die Bienen „ein Gedächtnis für Düfte“ haben. Und ferner, dass auf einer Tagung in Berlin die dort versammelten Ost-Experten ein „lückenhaftes Gedächtnis“ über die Diktaturen Osteuropas“ konstatierten.
Als sie sah, dass sich auf der Party viele Polizisten als Verbrecher kostümiert hatten, kamen die alten Erinnerungen hoch (die Ehefrau des Polizisten, ganz links).
Das Projekt Gedächtnis
1993 widmete die taz sich kurz dem 20jährigen Jubiläum des „Informationsdienst“ (ID) – vom „Projekt Gedächtnis“ bis zum „Projekt Alltag“:
Im Frühsommer erschien die erste Ausgabe einer „Sozialistischen Presseagentur“, die kurz darauf in „Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten“ umbenannt wurde – kurz und griffig „ID“ genannt. Der „ID“ war das bundesweit erste alternative Wochenblatt mit Berichten von der Bauplatzbesetzung in Wyhl bis hin zu internen Informationen aus der nicaraguanischen Befreiungsbewegung.
Jäger und Sammler waren die Männer und Frauen vom „ID“ mit ihrem „Projekt Gedächtnis“.
Ihr einzigartiges Archiv mit den legalen, halblegalen und illegalen Publikationen der Szene übernahm Mitte der 80er das international renommierte Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (IISG) samt den zwei Archivaren.
Heute archiviert der „ID“ in Frankfurt noch immer fortlaufend rund 140 Zeitungen und Zeitschriften – von der euzkadischen Monatszeitung Hika bis zur „taz“, sowie Ton- und Videokassetten aus dem „alternativen Bereich“. Neben dem „Projekt Dokumentation“ gibt es beim neuen „ID“ ein „Projekt Alltag“, mit dem einzelnen oder Bevölkerungsgruppen, die nicht über eine straffe Organisation oder eine Pressestelle verfügen, Zugang zu den etablierten Medien verschafft werden soll.
Am Sonnabend jedenfalls wurde in der Hamburger Allee 45 der 20. Geburtstag ordentlich gefeiert. Schließlich lebt er noch, der „ID“, während die anderen Alternativprojekte in der einst legendären Hamburger 45 – „Pflasterstrand“ und „Druckladen“ – längst das Zeitliche gesegnet haben.
Das Printmedium ID wurde indes von der taz geschluckt, d.h. nach der taz-Gründung überflüssig. Den letzten Mitarbeiter – Mario Hentschel – übernahm die taz als Dokumentaristen, er mußte deswegen jedoch nach Berlin umziehen. Kürzlich ging er sozusagen offiziell in Rente. Anfangs hatte die taz ebenfalls den Anspruch ein „Projekt Gedächtnis“ zu sein, inzwischen ist sie jedoch wegen ihrer fortschreitenden Fluktuation und der Journalismisierung, dem Schielen nach höherer Auflage bzw. Klicks und der damit verbundenen Mainstreamisierung eher ein Gedächtnis-Vernichtungsorgan geworden. Während uns zugleich auch das Internet in puncto Gedächtnis erst einmal kurzatmig gemacht hat, insofern vieles an Texten und Materialien aus der Arbeiterbewegung und später der Studentenbewegung und den Bürgerinitiativen (noch) nicht ins Netz gestellt wurde.
Die Situation erinnerte sie stark an die Entführungsscene in dem Film „Erbarmungslos“, den sie nie gesehen hatte.
Gedächtnisfunktions-Filme
In Aki Kaurismäkis Film „Der Mann ohne Vergangenheit“ geschieht diese Vergangenheitsvernichtung durch einen Schlag auf den Kopf. Er fing danach quasi wieder bei Null an, Erinnerungen zu haben und zu behalten. Noch schlimmer erging es H.M. – wie „planet-wissen“ berichtet: „Im Jahre 1953 entfernten die Ärzte bei dem Epileptiker H.M. die vermuteten Krankheitsauslöser im Hirn. Der Eingriff linderte zwar die Anfälle, doch er erlitt dabei einen verheerenden Gedächtnisverlust. Seitdem war er nicht mehr in der Lage, sich etwas Neues länger als wenige Minuten zu merken. Betrat seine Ärztin den Raum, begrüßte er sie stets, als sähe er sie zum ersten Mal. Das Gedächtnis von H.M. war bis zum Moment der Operation noch intakt gewesen.“
Diesen seltenen Extremfällen stehen die Lücken und Verzerrungen bzw. Überdehnungen des Gedächtnisses der meisten Menschen schon im Alltag gegenüber. In dem berühmten Film über das Gedächtnis – „Rashomon“ von Akira Kurosawa – wird dies am Beispiel von fünf oder sechs Tatzeugen vor Gericht durchgespielt, wobei nach altjapanischer Sitte auch der Ermordete (Samurai) sich an die frevelhafte Tat erinnern darf. „Jeder erinnert sich nur an das, was ihm angenehm ist,“ heißt es dazu an einer Stelle in der Rahmenhandlung.
Mein Gedächtnis ist noch bombig, glaub mir.
Kollektive Gedächtnisse
Im Grundsätzlichen und in globaler Hinsicht wird eine solche Räubergeschichte und ihr Changieren zwischen Mythos und historischer Wahrheit in Eric Hobsbawms schon klassischer Studie „Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen“ thematisiert. Er hat sie vor einiger Zeit dankenswerter Weise überarbeitet – und um die Thesen seiner Kritiker erweitert. Das 19. Jahrhundert erlebte eine wahre Schwemme von Räuberromanen und nicht selten wurde die Protagonisten darin als eine Art „Robin Hood“ dargestellt, d.h. als „gute Banditen“, die den Reichen nahmen und den Armen gaben, obwohl ihre Wirklichkeit vielfach komplizierter war. Hobsbawm befasst sich fast ausschließlich mit den Sozialrebellen der Agrargesellschaften, die für die arme, bäuerliche Mehrheit der Bevölkerung quasi lebensnotwendig waren – insofern sie ihnen Hoffnung machten, dass ein freies Leben ohne Ausbeutung möglich ist. Heute, in der postindustriellen Gesellschaft mindestens, haben wir zwar wieder eine Schwemme von „Räuberromanen“ – sogenannte Krimis, aber diesmal sollen wir uns fast durchweg mit den staatlichen Fahndern, die diese Verbrecher jagen, identifizieren, deren Ängste, Magenleiden, häuslichen Ärger, Hadern mit dem Beruf und den Vorgesetzten uns genauestens geschildert werden. Das ist äußerst seltsam. Bis auf einen Krimi – von Jacques Berndorf: „Eifel-Gold“ gibt es keinen einzigen „Regionalkrimi“, in dem die Tradition des Robin Hood ähnlichen Outlaws aufgegriffen wird. In Berndorfs Regionalkrimi haben einige Bauern auf sehr raffinierte Weise und unblutig einen Geldtransporter überfallen. Die Beute verteilen sie anonym an Leute in ihrer Region, die dringend Geld brauchen, um weiter wirtschaften zu können. Das Alter Ego des Autors, der pfeifenrauchende Siggi Baumeister, kommt den Tätern zwar wie üblich auf die Spur, während die Polizei einige Frankfurter Kurden in Verdacht hat, die mit dem Geld Waffen kaufen wollen, aber als guter Eifel-Neubürger verpfeift er die Täter diesmal nicht. Dies ist das klassische Schema des Räuberromans, wie es vor allem in China und Lateinamerika zum hervorstechensten Merkmal der Hochliteratur wurde.
Am Nächsten kommt dem – fast ungewollt – die empirische Verbrecherstudie des Soziologen Sudhir Venkatesh in einem Chicagoer Schwarzenghetto: „Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben“ (2008). Die Drogengang, der sich der Autor einige Monate lang anschloß, ersetzte in ihrem Bezirk nicht nur arbeitsplatzschaffende Unternehmen, sondern auch Arbeits- und Sozialamt, Polizei und Hausverwaltung, ja, sie wurde sogar von der Polizei bewaffnet, wenn Kämpfe mit einer benachbarten Gang anstanden, damit sie der gewachsen war und anschließend wieder ihre Ordnungsfunktion im Bezirk wahrnehmen konnte. Ansonsten übten die hierarchisierten Gangmitglieder eine fast uneingeschränkte (Staats-) Gewalt in ihrem Chicagoer (Amts-)Bezirk aus, d.h. so gut wie niemand sonst traute sich dort rein.
Erwähnt sei hier ferner der biographisch angelegte Roman des australischen Räubers und Staatsflüchtlings Gregory David Roberts: „Shantaram“ (2008), der es in einem Slum in Bombay bis zum Sanitätsassistenten des dortigen Slumlords brachte. Auch hierbei handelte es sich um eine von Sozialbanditen verwaltete große Gemeinschaft. Man erfährt in dem Roman einiges über ihre Mittel und Möglichkeiten, sie einigermaßen stabil zu halten.
„Er erzählt mir zwar nichts über seine Vergangenheit, aber ich liebe ihn.“
Erinnerungsströme
Kürzlich bekam ich eine Mail geschickt, in der es um einen „Erinnerungsstrom“ geht: um den Roman „Zone“ von Mathias Énard (2010). Jan Süsselbeck schreibt:
Wie soll man so etwas lesen, werden Sie sich fragen, ein Buch, das zum Großteil aus einem einzigen Satz besteht und dann auch noch knapp 600 Seiten lang ist, wie soll man freiwillig einen derartigen monumentalen Gedankenstrom als überbordende Rückblende nachvollziehen, und wie kann man diese halluzinogene Erinnerungsorgie als endlose autobiografische Reflexion eines alkoholisierten sowie von Drogen zermürbten Erzählers überhaupt ernst nehmen – doch das Erstaunliche ist, es funktioniert ganz ohne Probleme, man steigt als Leser sofort in diese ausufernde Analepse mit ein und wird so selbst ein Mitreisender in Mathias Énards großartigem Roman „Zone“, diesem als Weltliteratur gefeierten Text eines 1972 geborenen französischen Autors, der selbst Kunstgeschichte studierte, Erfahrungen im Nahen Osten sammelte und heute in Barcelona arabische Sprachen lehrt; man hat Énard bereits verschiedene Preise für sein bisheriges Hauptwerk verliehen, wie auch sein Roman mit Jonathan Littells Bestseller „Die Wohlgesinnten“ (2006) verglichen wurde, ja sogar von einer ernst zu nehmenden Referenz die Rede war, die Énard mit seinem in genau 24 Kapitel unterteilten Text der Geburtsurkunde der europäischen Kriegsliteratur, nämlich Homers ebenso strukturiertem Epos der „Ilias“ erwiesen habe; man nimmt den Band also mit in einen Zug nach Berlin, weil man weiß, dass es wieder eine lange Fahrt werden könnte, da das sogenannte Schneechaos einmal mehr seinen Tribut fordern wird, und als der ICE in Niedersachsen erstmals liegen bleibt, ist man schon längst tief drin in der Geschichte:
In allen Orten suchte sie zuerst nach deren „visuellem Gedächtnis“.
Francis Servain Mirkovic heißt der Erzähler, wobei er unter dem Namen eines im Irrenhaus vegetierenden Jugendfreundes reist, der als Neonazi durchdrehte, Mirkovic alias Yves Deroy denkt viel nach auf seiner Zugfahrt, die ihn über 500 Kilometer von Mailand nach Rom führen soll, wo er einen im Gepäcknetz über ihm festgeketteten Koffer voller Daten über europäische Kriegsverbrecher an den Geheimdienst des Vatikans verkaufen möchte, um der Welt der Spionage den Rücken zu kehren und endgültig auszusteigen, früher kämpfte er freiwillig als Franzose und Sohn einer fanatischen Kroatin im Jugoslawienkrieg auf Seiten von Franjo Tudjmans Heer gegen die Serben, hatte also als adoleszenter Nationalist keine Probleme mit der faschistischen Ustascha-Tradition dieser Armee, und er wurde folgerichtig selbst zum Täter, zum Mörder und Vergewaltiger, wenn auch als „ganz normaler Mann“ und eher kleine Leuchte in irgendeiner Einheit, lebte danach eine Zeit lang in Venedig und laborierte an den Traumatisierungen und psychischen Beschädigungen, die auch solche Verbrecher wie er bisweilen nach dem Krieg an sich feststellen müssen, wurde depressiv und verlor seine vornehme Pariser Verlobte Marianne; Mirkovic wechselt danach zum französischen Geheimdienst und reist durch ganz Europa, man entsendet ihn unter anderem nach Algerien, wo die wehrlose Zivilbevölkerung in den 1990er Jahren zwischen den Islamisten und der algerischen Armee aufgerieben wird;
den Protagonisten verschlägt es aber auch nach Ägypten, wo er zufällig auf den ehemaligen niederländischen SS-Vergewaltiger Harmen Gerbens trifft, der in den 1940er Jahren die ihm ausgelieferten Frauen im Durchgangs-KZ Westerbork misshandelte, ehe er nach dem Zweiten Weltkrieg in Alexandria einen Exiljob fand, um irgendwann in den 1950er Jahren in Kairoer Gefängnisverliesen eingebuchtet zu werden, weil man ihn in Ägypten als angeblichen Verräter militärischer Geheimnisse enttarnte; der Erzähler trifft diesen Gerbens zufällig in einem schummrigen Spirituosenladen als lallenden alten Mann und heruntergekommenen Penner, der billigen Schnaps trinkt und Tränen in den Augen hat, weil er zwar frei sei, aber nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren könne, wo seine Familie lebe – Gerbens begegnet uns also im Roman zunächst als scheinbares Justizopfer, doch dann erinnert sich Mirkovic an ein Treffen mit einem Mossad-Agenten, der mehr wusste – und so weiter, solche verstörenden Geschichten gibt es in diesem Roman zuhauf, man verliert sich beinahe in seinem dicht versponnenen narrativen Netz, aber eben auch nur fast, denn nach und nach wird doch klarer, was es mit solchen Charakteren wie Harmen Gerbens tatsächlich auf sich haben könnte, bevor sie vorerst wieder im Erinnerungsstrom des Erzählers in den Hintergrund treten, alle diese Figuren sind jedenfalls grausame Mörder, gewissenlose Folterer und auf Rache sinnende Krieger, mehr noch, das gesamte Mittelmeer und seine Anrainerstaaten erscheinen in diesem abgründigen Buch als eine einzige Zone der Vernichtung, und zwar seit der Antike, über die Seeschlacht von Lepanto, an der ein gewisser Miguel de Cervantes teilnahm, den Ersten Weltkrieg, den Holocaust und die Balkankriege bis hin zum War on Terror George W. Bushs, der den Protagonisten schließlich nach Bagdad führt, wo er den früheren Söldnerkollegen aus der kroatischen Armee und gleichzeitigen Kriegsreporter namens Eduardo Rózsa wiedersieht – wer mag das zum Beispiel sein, fragt man sich nach einem zwischenzeitlichen Vorblättern, denn dieser Mann wurde am 16. April 2009 von bolivianischen Sicherheitskräften als Terrorist erschossen, weil er angeblich einen Anschlag auf den Präsidenten Evo Morales plante, wie uns das Glossar am Ende von Énards Buch informiert
– und siehe da, man kann diesen Rózsa-Flores sogar googeln, es gab ihn also wirklich, dieser Roman wächst im Internet weiter, und Rózsa taucht auch noch in der Danksagung Énards im Anhang seines Werks auf, gehöre dieser dubiose Typ doch zu denjenigen Menschen, die dem Autor auf seinen Recherchereisen ihre „Geschichten“ anvertraut hätten, aus denen sein literarisches Werk nunmehr komponiert sei – Realität und Fiktion verschwimmen zusehends weiter, während man kurz hinausblickt auf die apokalyptisch anmutenden Schneewehen zwischen Göttingen und Hildesheim, und bei den meisten historischen Rückblenden dieses Romans hat man ja auch genau diesen Eindruck: das ist nicht ausgedacht, vieles ist aus der Historiografie bekannt, allerdings wurde es hier gelungen literarisiert und mit unerwarteten Zusatzinformationen gespickt, wobei der Roman gleichzeitig ein Metaexperiment in der Tradition von James Joyce darstellt, der im Text ebenfalls ausführlich vorkommt, genauso wie William S. Burroughs, Ezra Pound oder auch Malcolm Lowry, Letzterer als Autor des berühmten Alkoholiker-Prosawerks „Unter dem Vulkan“ (1947) wohl vor allem auch deshalb, weil „Zone“ gleichzeitig ein depressiver Trinkerroman sein will, ein elegischer Text über die melancholischen Überlegungen eines Mannes, der sich auf seiner Zugfahrt durch die Toskana langsam mit Gin betäubt, einer Reise, die ebenso Erinnerungen an die napoleonischen Kriege wie an mittelalterliche Hinrichtungen erlaubt – eigentlich gar keine schlechte Idee, denkt man kurz, das Buch einfach einmal mit ins Bordbistro zu nehmen, bleibt dann aber lieber doch sitzen, thank you for travelling with Deutsche Bahn – was aber könnte nun das Problem sein mit diesem Text, fragt man sich jetzt als Literaturkritiker plötzlich
und verfällt in tiefe Zweifel über das poetologische Arrangement dieses Buchs, das einer Bach’schen Fuge gleicht (die Mutter des Erzählers ist Pianistin), einer großen literarischen Sinfonie, die aber vielleicht doch am Ende nichts weiter darstellt als eine kitschige, um nicht zu sagen abgeschmackte Ästhetisierung des Krieges als Zeus‘ Vermächtnis, als unabänderliches Schicksal einer ewigen Aneinanderreihung von Gewaltverbrechen, die „Menschen den Menschen antun“, wie die Phrase besagt, wobei ein solches Geschichtsbild die Einmaligkeit der Shoah leugnet, eines tatsächlich europaweit und mittels des internationalen Bahnnetzes organisierten Vernichtungsprozesses von nie dagewesenen Ausmaßen, der noch die entlegensten griechischen Inseln in der Ägäis erreichte, kaum ein jüdisches Opfer blieb verschont – andererseits kommt das ja alles bei Énard vor, als mörderisches Rhizom strukturiert die verkehrstechnische Organisation des Holocaust den Text sogar maßgeblich mit durch, das alles ist und bleibt verflochten, suggeriert uns Énard, der so gesehen selbst ein veritables Kursbuch der Vernichtung verfasst hat, wobei „Zone“ Littells monumentalen Shoah-Roman „Die Wohlgesinnten“ sprachlich übertrumpft und in seiner Polyfonie um Längen schlägt –
weswegen man dann doch bald einsehen muss, dass Énards Buch ganz einfach große Kunst darstellt und gleichzeitig einer der traurigsten Texte ist, den man seit Jahren gelesen hat, noch dazu ist er unfassbar gut übersetzt, denn es ist tatsächlich ein ganz erstaunlicher Effekt, mit dem einen dieses dichte poetische Gewebe bestrickt; dass das Ganze – von wenigen Kapiteln einmal abgesehen, in denen uns der Erzähler ein Buch des fiktiven libanesischen Autors Rafaël Kahla über den Bürgerkrieg in Beirut zu Beginn der 1980er Jahre vorliest – wirklich aus einem einzigen, atemlosen Satz besteht, bevor am Ende hinter dem Schlusswort „Weltuntergang“ tatsächlich ein Punkt steht, stört gar nicht – im Gegenteil – und wie der Text die historischen Täterfiguren der Shoah schließlich durch ganz Europa verfolgt, wobei er auch ihre Opfer lebendig werden lässt, kommt einem nun doch schon wie ein kleines literarisches Wunder vor, während man endlich in Berlin einfährt, von wo das alles einmal ausging, meine Güte, wir alle leben in einem großen Gespensterroman, schießt es einem beim Umsteigen in die sogenannte Kanzler-U-Bahn noch durch den Kopf. Punkt.
Obwohl alle nach außen hin weiter fröhlich taten, waren doch einige bittere Erinnerungen hochgekommen.
Rache und ‚gerechte Erinnerung‘
So heißt ein Kapitel in der Aufsatzsammlung „WPP“, erschienen im Kulturverlag Kadmos:
„Die Scheidelinie zwischen Geschichte und Fiktion ist das erste Hindernis auf dem Weg zu einer gerechten Erinnerung,“ meint Paul Ricoeur. Man spricht derzeit – z.B. auf US-Symposien über das Bezeugen von Zeitzeugenschaft – geradezu von einer „Hochkonjunktur der Erinnerungskultur“. Gleichzeitig sterben die letzten Überlebenden des deutschen Überfalls auf Osteuropa und der Judenvernichtung langsam aus. Zunehmend haben wir uns mit Berichten aus sozusagen zweiter Hand auseinanderzusetzen. Manchmal merkt man ihnen das nicht an. 1998 wurde das vielgelobte Suhrkamp-Buch „Bruchstücke“ von Binjamin Wilkomirski, der als Kind die Lager Majdanek und Auschwitz-Birkenau überlebt hatte und dann adoptiert worden war, als „Fake“ enttarnt. Das einstige Kind Schweizer Arbeitereltern: Bruno Grosjean hielt inzwischen weltweit Vorträge über die Shoah, den Wert von Oral History und Therapiemöglichkeiten für Holocaust-Child-Survivors. Sein an Gewaltpornographie grenzendes Buch „Bruchstücke“ basierte bereits auf einen „Fake“ – der amerikanischen Autorin Grabowski/Stratford, die erst ein Buch über sich als Opfer satanistischer Kinderschänder veröffentlichte und dann ihre Biographie als jüdisches KZ-Kinderopfer. Darüberhinaus war Wilkomirski von Jerzy Kosinskis Überlebens-Bericht „Der bemalte Vogel“ beeindruckt. Darin heißt es an einer Stelle: Diese Erzählung ist nicht „einfach das Produkt von Fakten und Erinnerung“, sondern „weit eher das Ergebnis des langsamen Auftauens eines von Ängsten umkrallten Gemüts“. Kosinski galt bereits als Anwärter auf den Nobelpreis, als man ihn ebenfalls als „Lügner“ und „Plagiator“ entlarvte. 1991 verübte er Selbstmord. Über den ganzen „Komplex“ hat der Schweizer Journalist Stefan Mächler nun ein neues Buch geschrieben: „Der Fall Wilkomirski – über die Wahrheit einer Biographie“, in dem er die Verwandlung von „Bruno“ in „Binjamin“ als fast perfekt ansieht. Ähnlich entlarvt endete inzwischen auch die Medien-Karriere des berühmten schwarzamerikanischen „Dachau-Befreiers“ Paul Parks.
Imre Kertész, der als Jugendlicher Auschwitz überlebte, urteilte 1998 über den „Holocaust-Schwindler“ Wilkomirski: „Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muß, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erfahrungen übereinstimmt, der authentische Zeuge ist schon bald nur im Weg, man muß ihn beiseiteschieben wie ein Hindernis“.
Dies war gegen das „Shoah-Business“ gesagt, aber mitunter geht das „Hindernis“ bereits quer durch den Zeugen selbst. So meint z.B. der israelische Autor Aharon Appelfeld, der als Jugendlicher aus dem Ghetto Czernowitz floh und sich erst einer Bande im Wald anschloß, dann der Roten Armee: „In dem Roman ‚Tzili‘ wollte ich über mein Überleben im Wald schreiben, und es wurde ein ganz schlechtes Buch. Denn Kreativität braucht die Totalität des Schreibers. Die Gesamtheit von Imagination, Erinnerung, Gefühle, Sinne“. Erst als er sich eine „fremde Person erfand“, konnte er sein ganzes „Denken und Fühlen entfalten“. Seine Bücher werden jedoch seitdem immer staatspädagogischer.
Der Wilnaer Ghettochronist Grigorij Schur hielt es dagegen – ebenso wie Mascha Rolnikaite und Hermann Kruk im selben Ghetto – für geboten, noch während der deutschen Massenmord-„Aktionen“ das Geschehen aufzuzeichnen – bis zur letzten Minute quasi: Das Schreiben als Widerstand. Die Veröffentlichung erlebte Grigorij Schur nicht mehr. Noch immer werden in Osteuropa Manuskripte von Nicht-Überlebtenden buchstäblich ausgegraben.
Das Aufgeben der „Authentizität“ beginnt aber mitunter schon beim Zeugen selbst: In dem 1944 (!) in New York erschienenen Buch von Jan Karski, der den Alliierten als erster Untergrundkurier der polnischen Exil-Regierung von der Judenvernichtung berichtete, wird die „Story“ bereits – auf Anraten eines US-Literaturagenten – vom Autor selbst mit einer fiktiven Liebesgeschichte angereichert, zudem mit seiner – zeitlich unmöglichen – Involvierung in die Vorbereitungen für den Warschauer Ghettoaufstand, wobei auch noch unterschlagen wird, daß gerade seine illegal operierende „Heimatarmee“ – im Gegensatz zu den kommunistischen polnischen Partisanen – besonders antisemitisch war und viele untergetauchte Juden tötete. „Noch Jahrzehnte später stützten sich die Wissenschaftler auf Karskis ‚Story of a Secret State‘ als wichtige Quelle für die Geschichte der Endlösung und anderer Kriegsthemen, ohne sich der Lücken und ‚Bearbeitungen‘ bewußt zu sein,“ schrieben die Autoren Wood/Jankowski 1996 in ihrem Buch über Karski: „Einer gegen den Holocaust“, das jedoch – aus Gründen des US-Antikommunismus – selbst nicht frei von „Lücken“ ist.
Was man als amerikanischen Zwang zur heldischenVerkitschung von Geschichte bezeichnen könnte, wird auf „der anderen Seite“ – in Rußland heute – als Kriegsmythomanie bezeichnet. Der weißrussische Rotarmist und Schriftsteller Wassil Bykau, der sich mit nichts anderem als mit dem Partisanenkampf gegen die Deutschen beschäftigt, und jetzt nebenbeibemerkt – nach Auseinandersetzungen mit „seiner“ Regierung in Minsk – im Exil in Köpenick lebt, gab neulich der Zeitung „Russkij Berlin“ ein Interview. Darin meinte er: „Bis vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen Sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Sowjetunion, das nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar amoralisch. Schon die kleinste Annäherung an die Wahrheit wurde sofort als ein Attentat auf das Allerheiligste – den Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat – aufgefaßt. Die Autoren, die über den Zweiten Weltkrieg schrieben, waren jedoch begabte und durchaus zu Selbstopfern bereite Menschen, die der Wahrheit in ihren Büchern auf der Spur waren. Ihre Werke hatten deswegen auch oft ein schweres Schicksal (die russische Umschreibung für jahrelanges Druckverbot). Das ist jedoch nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Wahrheit nicht nur in Redaktionsstuben, sondern auch auf den Schlachtfeldern des Krieges selbst erobert werden mußte. Der Schriftsteller und Kriegsfreiwillige Ernest Hemingway hat einmal gesagt: ‚Über den Krieg zu schreiben, ist gefährlich, noch gefährlicher ist es aber, die Wahrheit im Krieg selbst zu suchen‘.“
Das linke Pin-Up-Photo hatte ihn immer an die Tochter seines Fahrdienstleiters erinnert.
Auch die neuere Partisanen-Forschung entkommt dem „mythischen Klischee“ nicht, wie Jean Améry meinte. In den letzten Jahren hat sie sich – seit dem Zerfall der Sowjetunion und damit der kommunistischen Widerstands-Hegemonie – vor allem den jüdischen Kämpfern und den Frauen im Untergrund zugewandt. Die Studien werden immer detaillierter – auf Basis des 1945 von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman zusammengestellten „Schwarzbuchs“ über den deutschen Massenmord an sowjetischen Juden (das erst 1994 auf Deutsch erschien); ferner des überaus gründlichen Kompendiums „Jüdischer Widerstand – im deutschbesetzten Osteuropa“ von Reuben Ainsztein (1993 von der Universität Oldenburg übersetzt); sowie den Erfahrungsberichten aus dem gesamten Widerstand der Juden gegen die Deutschen- von Afrika bis Rußland, die Arno Lustiger 1994 unter dem Titel „Zum Kampf auf Leben und Tod!“ veröffentlichte.
Bei der Erforschung des Widerstands der Frauen, von denen viele jüdisch waren, haben sich besonders die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch („Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“) und Ingrid Strobl Verdienste erworben. Erstere wird in ihrer Heimat immer wieder vor Gericht gezerrt und letztere redigierte 1988 ihr Buch „Sag nie, du gehst den letzten Weg“ in einem Münchner Gefängnis: Man verdächtigte sie der Unterstützung einer feministischen Terrorbande. Besonders ergiebig ist die Quellenlage für das einstige partisanische Bermudadreieck zwischen Litauen/Weißrußland und Polen/Galizien: „Nirgendwo sonst haben so viele beteiligte Frauen während oder kurz nach dem Krieg schriftliche Zeugnisse über den jüdischen Widerstand hinterlassen,“ meint Ingrid Strobl, die darüberhinaus viele der Überlebenden befragte. Der von den Deutschen ermordete Historiker des Warschauer Ghettos, Emanuel Ringelblum, schrieb 1942: „Künftige Historiker werden der Rolle der jüdischen Frau während des Krieges ein eigenes Kapitel widmen müssen“. Die Wurzeln dieses Widerstands-Geistes reichen weit zurück in die osteuropäische Emanzipationsbewegung des 19.Jahrhunderts. So meinte eine feministische Historikerin aus Rußland bereits 1921, daß man allein mit den Grabsteinen der dabei umgekommenen jüdischen Frauen die Straße von St.Petersburg bis nach Paris pflastern könnte. Es ist dieser „Geist“ der auch 1942 wieder in Kommunen organisierten jungen Kämpferinnen, der den Wert ihrer Erinnerungen ausmacht. Erwähnt seien hier die der 1996 gestorbenen Widerstandsorganisatorin von Byalistok, Chaika Grossman: „Die Untergrundarmee“. Sie war zuletzt Alterspräsidentin der Knesset. Ferner das Tagebuch der 1943 von der Gestapo ermordeten Krakauer Ghettokämpferin „Justyna“, das u.a. vom Nürnberger taz-Mitarbeiter Bernd Siegler 1999 neu herausgegeben wurde. Von der selben Autorengruppe erschien soeben auch noch ein Dokumentarfilm nebst Buch über die „Nakam – jüdische Rache an NS-Tätern“. Dabei handelt es sich um eine Gruppe jüdischer Partisanen aus Osteuropa, die nach der Befreiung durch die Rote Armee nicht sogleich nach Palästina auswanderten, sondern als „Rächer“ in Deutschland blieben, wo sie eine Reihe von SS-Offizieren und Nazifunktinären umbrachten, daneben versuchten sie die in Nürnberg angeklagten Haupt-Kriegsverbrecher mit Zyankali zu vergiften.
Was in diesem Buch mit verknapptester Interviewer-Sachlichkeit nach über 50 Jahren an Rache-„Projekten“ beschrieben wird, hat 1982 bereits der Partisan und Auschwitz-Überlebende Primo Levi in seinem Roman „Wann, wenn nicht jetzt“ thematisiert – es geht darin um den sich über 2000 Kilometer hinziehenden „Feldzug“ einer kleinen jüdischen Partisaneneinheit aus den Brjansker Wäldern – durch Polen und Deutschland nach Italien, wo Primo Levi einen der Teilnehmer traf, der ihm dann einen Teil der Geschichte erzählte. Zuvor war Levi, nach seiner Befreiung aus Auschwitz, auf einer ähnlichen „Odyssee“ in die entgegengesetzte Richtung unterwegs gewesen.
Genauso überraschend – weil sie, wie Tzvetan Todorov hervorhebt: nicht auf die „heldischen“ sondern die „Alltags-Tugenden“ abhob – gestaltete sich dann auch die Zusammenarbeit zwischen der polnischen Schriftstellerin Hanna Krall und dem Kommandanten des Warschauer Ghettoaufstands sowie späteren Solidarnosc-Aktivisten Marek Edelman: „Dem Herrgott zuvorkommen“, das 1992 auf Deutsch erschien.
Noch immer schreiben Überlebende an ihren Kriegs-Erlebnissen: Mehr als 40 Jahre arbeitete z.B. Thomas T.Blatt an seinem Bericht über den „Aufstand im Vernichtungslager Sobibor: Nur die Schatten bleiben“, der gerade ins Deutsche übersetzt wurde. Die lange Arbeit hat sich gelohnt! Zuvor war dazu bereits der Roman „Flucht aus Sobibor“ eines Lehrers für Creative Writing, Richard Rashke, aus dem Amerikanischen übersetzt worden. Jedes Kapitel beginnt mit einem szenischen Einstieg: „Sich streckend, um größer zu wirken als er eigentlich war, stand der Junge auf dem weiten, von zwei Meter hohem Stacheldraht umzäunten Platz bei den Männern“. Noch kitschiger komponierte dann der „Rolling-Stone“-Autor Rich Cohen seine „wahre Geschichte von Liebe und Vergeltung: Nachtmarsch“, die von der Wilnaer Stadtguerilla-Gruppe, insbesondere den späteren „Rächern“ um Abba Kovner, Ruzka Korczak und Vitka Kempner, handelt. Alle drei gelangten anschließend nach Palästina, wo sie sich einem Kibbuz anschlossen. Der Autor ist der Cousin von Ruzka Korczak, leider ist er allzu juvenilforsch an die Geschichte herangegangen. Gerade die Wilnaer Gruppe wurde bereits in den o.e. grundlegenden Arbeiten über den jüdischen Widerstand ausführlich thematisiert, zuletzt 1998 von Ingrid Strobl – in „Die Angst kam erst danach“. Es ist hochinteressant, auf diese Weise nach und nach die ganze Partisanengruppe kennen zu lernen, um so ärgerlicher ist deswegen aber der glatte Text von Rich Cohen.
Als Faustregel gilt vielleicht: Je professioneller desto leidenschaftsloser – und so ist auch die Wahrheitssuche in diesen Werken. Bis dahin, daß sie nur noch dem Framework eines Bestsellers oder der Deutungshoheit beanspruchenden Political Correctness gehorchen. Womit das Thema – Widerstand – bereits im Ansatz verraten und verkauft wird. Manchmal kann der Fleiß einiges wieder gut machen. Das ist z.B. bei der Geschichte der US-Schriftstellerin Nechama Tec über die in den Nalibocka-Wäldern bei Minsk operierenden jüdischen „Bielski-Partisanen“ der Fall. Die Autorin war als Kind bei christlichen Polen versteckt worden, sie hat jedoch ebenfalls einen starken Hang zum Gefälligen: „Auch Zus Bielski, der Chef der Aufklärung in den Wäldern, und seine reizende Frau Sonia teilten ihr Wissen mit mir“.
Obwohl die Profischreiber ihre Werke in aller Regel schneller heraushauen, schaffen es doch auch immer wieder stockend geschriebene Erfahrungsberichte – veröffentlicht zu werden. Jüngst erschienen die Memoiren der beiden Warschauer Ghettokämpfer Vladka Meed „Deckname Vladka“ und Simha Rotem „Kazik“ auf Deutsch, davor brachte der Lichtenberg-Verlag die Erinnerungen der ostpolnischen Photographin und Partisanin Faye Schulman: „Die Schreie meines Volkes in mir“ heraus.
Die auf dieses „Genre“ gewissermaßen spezialisierte Schweizer Literaturagentin Eva Koralnik erzählte 1999, auf der Jerusalemer Buchmesse würden ihr jedesmal „Dutzende von Überlebenden“ ihre Memoiren anbieten: „Jede einzelne Geschichte ist eine Tragödie…Es ist schwer, ihnen zu sagen: ‚Nein danke, der Markt ist voll'“. Ganz anders sieht der Überlebende und Schriftsteller Imre Kertesz diesen Erinnerungsmarkt, auf dem „Auschwitz“ gerade zu einem, wenn nicht dem Kern europäischer Hochkultur inkorporiert wird: „Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger, d.h. ‚erfolgreich‘ hervorgeht, lügt und betrügt todsicher“. Primo Levi meinte sogar einmal: „Nicht, wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen…Überlebt haben die Schlimmsten, und das heißt die Anpassungsfähigsten. Die Besten sind alle gestorben“. Damit sind wir wieder in bezug auf deren Erinnerungen/Memoiren mit dem „Rashomon“-Problem konfrontiert.
Sie tauschten alte Erinnerungen aus und merkten dabei, dass sie das alles ganz unterschiedlich erlebt hatten.
Anmerkungen:
(1) Vielleicht geht das Supergedächtnis von Jill Price mit dem selben Manko einher, wie das des sowjetischen Reporters Shereshevskij, nur dass man das als Amerikaner unter Umständen nicht so leicht merkt. Auf „planet-wissen.de“ heißt es über den Reporter: „In den 1920er Jahren untersuchte der russische Neuropsychologe Alexander Luria ein erstaunliches Gedächtnis: Der Zeitungsreporter Shereshevskii konnte sich in kürzester Zeit lange Listen von Wörtern, Zahlen und sinnlosen Silben einprägen. Später gab er diese fehlerfrei wieder. Einmal präsentierte man ihm eine mathematische Formel mit 30 Elementen. Er konnte sie sofort wiederholen – und das auch noch nach 15 Jahren.
Dies gelang Shereshevskii auf Grund einer intensiven bildlichen Vorstellungskraft, die Wissenschaftler als ‚Synästhesie‘ bezeichnen: Wörter riefen bei ihm visuelle Eindrücke hervor. Üblicherweise platzierte er wie die antiken Mnemotechniker jedes Bild gedanklich auf einer vertrauten Straße. Wollte er sich erinnern, lief er wiederum im Geiste die Straße entlang und sammelte die Bilder ein.
Interessant für die Forscher war vor allem, dass sein ausgezeichnetes Gedächtnis Shereshevskii auch viele Nachteile bescherte: Er konnte sich beispielsweise nicht gut auf die Bedeutung des Gesagten konzentrieren – seine Bilder hinderten ihn daran. Schwierigkeiten hatte er auch, Metaphern oder Poesie zu verstehen. Überhaupt konnte Shereshevskii, vollgestopft mit Details, nur schwer abstrahieren und Gemeinsamkeiten zwischen Ereignissen entdecken.“
Alle hingen sie ihren alten Erinnerungen nach, so dass keine rechte Feierlaune aufkommen wollte, auch nicht, als Luise eine Faschingsmaske aufsetzte.
Veranstaltung:
Im taz-Café findet am Donnerstag 20. Uhr, 13.1.2011 eine Vorstellung des Buches „Gedächtnis und Erinnerung“ von Harald Welzer, Sozialpsychologe aus Hannover, statt. Der Autor ist geradezu abonniert auf die Gedächtnisforschung, wenn man sich seine Veröffentlichungsliste ansieht.
War es bloß ein Déja-vu oder erinnerte sie sich genau, dass sie hier schon einmal auf einem Schlitten an der Scheune in der Sonne saß – vor mehr als 12 Jahren?