De facto ist Michelle Pierre-Louis ihre Effizienz im Regierungsgeschäft zum Verhängnis geworden. 13 Monate stand die 62-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin an der Spitze der haitianischen Regierung. International war sie zwar anerkannt wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber Korruption, die Mitglieder des aus zwei Kammern bestehen haitianischen Parlaments verfolgten ihre Regierungspolitik jedoch mit zunehmender Ablehnung. Nach einer turbulenten Sitzung enthoben Senatoren bei einem Misstrauensvotum am Freitag 18 der 29 die Regierungschefin ihres Amtes und entließen auch die Regierungsmitglieder. Die Mehrzahl gehört der Regierungspartei Lespaw (Hoffnung) von Staatspräsident René Preval an.
Den partikulären Interessen der Mitglieder des haitianischen Abgeordnetenhauses und des Senats zeigte sie sich wenig geneigt. Sie stellte sich taub für Spezialwünsche des einen Deputierten, der mehr Geld für seine Provinz reklamierte und unwillig, den Forderungen des anderen Senators nachzukommen, der Finanzspritzen für seine Klientel reklamierte. Dass die Frau an der Regierungsspitze die allgemeine Anerkennung der internationalen Hilfsorganisationen genoss und UN-Vertreter im Vorfeld des Misstrauensvotums vor einer erneuten Unregierbarkeit des Landes warnten, hat, wie politische informierte diplomatische Kreise in Port-au-Prince bestätigen, die Ablehnung der Parlamentarier noch verstärkt. Die Senatoren forderten Rechenschaft über die Verwendung von Geldern aus einen Nothilfefonds in Höhe von 197 Millionen US-Dollar (rund 130 Millionen Euro), der nach den schweren Überschwemmungen im vergangenen Jahr eingerichtet worden war. Ein Machtspiel. Aber Pierre-Louis lehnte ihr Erscheinen vor dem Senat ab und provozierte damit indirekt das Misstrauensvotum. Die Entscheidung, sie zu entlassen stehe bereits fest, verteidigte sie die Missachtung der Parlamentarier.
Michelle Pierre-Louis
Schon die Wahl von Michelle Pierre-Louis war von heftigen Diskussionen begleitet. Evangelikalen Kreisen nahestehende Parlamentarier denunzierten die damalige Chefin der Nichtregierungsorganisation „Stiftung für Wissen und Freiheit“ (Fondasyon Konesans Ak Libete – FOKAL) als Lesbe und lehnten eine Berufung an die Spitze der Regierung wegen deren „unmoralischen Lebenswandel“ ab. Erst nach langen Debatten gelang es, eine parlamentarische Mehrheit sowohl in der Unter- als auch in der Oberkammer des haitianischen Parlaments für die enge Vertraute von Staatspräsident René Preval zu erreichen. Aber schon damals war klar, dass die Parlamentarier, die ihre Wahlbezirke eher wie Kleinfürsten beherrschen denn als politische Vertreter ihre Wähler agieren, der ungeliebten Ministerpräsidentin die Rechnung präsentieren würden.
Der Vorgänger von Pierre-Louis, Jacques-Edouard Alexis, war im April 2008 von Parlament nach „Hungerrevolten“ aufgrund der hohen Lebensmittelpreise gestürzt worden. Nach wie vor leben rund zwei Drittel der rund neun Millionen Einwohner der Karibikrepublik unterhalt der Armutsgrenze. Im Armenhaus Lateinamerikas sind seit dem Sturz von Ex-Staatschef Jean-Bertrand Aristide mehr als 9.000 UN-Soldaten und –Polizisten stationiert, die die Sicherheit im Land garantieren sollen. Bereits wenige Stunden nachdem Michelle Pierre-Louis ihre Chefsessel räumen musste, wurde der bisherige Planungsminister ihres Kabinetts, Jean-Max Bellerive, zum neuen Ministerpräsident berufen.
Jean-Max Bellerive
Der 51-Jährige hat in der Schweiz, Belgien und Frankreich Politikwissenschaften studiert. Er ist im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Michelle Pierre-Louis Mitglied in Prevals „Hoffnungs“-Partei. Allerdings fehlt ihm noch die Zustimmung sowohl der Deputiertenkammer als auch des Senats, denen er sich in dieser Woche persönlich stellen muss.