Das taz-Urgestein Christian Semler und der taz-Frischling David Denk sprechen im Interview mit dem evangelischen Pressedienst (epd) über die gegenseitige Erpressung von Redaktion und Lesern, den Gründungsmythos der taz und über ihre Wünsche an die neue Chefredakteurin.
Christian Semler, was war die taz für dich, als du damals, 1989 zu der Zeitung gegangen bist und warum bist du damals zur taz gegangen?
Semler: Ich war ja schon seit Mitte der 80er Jahre mehr oder weniger regelmäßiger Mitarbeiter der taz für Osteuropa, das war mein Spezialgebiet. Zur taz bin ich deswegen gegangen, weil 1989 offenbar war, dass der ganze Laden in Osteuropa auseinanderkrachen würde, und da schien mir Berlin ein günstiger Beobachtungsposten zu sein. Und es bestand die Hoffnung, dass ich dann wieder einreisen könnte in die DDR und die Tschechoslowakei, wo ich damals Einreiseverbot hatte. Ich wurde Osteuroparedakteur und habe Anfang 90 die reguläre Arbeit aufgenommen.
Was hat die taz als Zeitung und als Projekt damals für dich bedeutet?
Semler: Ich fand sie toll. Ich lebte in Köln und las immer die FAZ und die taz, so wie das viele Leute getan haben. Das politische Engagement hat mich ebenso fasziniert wie ein in halbwegs zivilisierter Form ausgetragener Streit. Das starke Bemühen, sich abzusetzen und gewisse Elemente von Gegenöffentlichkeit, also Dinge zu publizieren, die woanders nicht zu lesen waren, das war damals noch wichtig. Heute stellt sich das ganz anders dar.
David, du bist seit 2005 bei der taz: Was war für dich damals entscheidend, zur taz zu gehen? Warum die taz und warum nicht irgendeine andere Zeitung?
Denk: Ich habe in Leipzig studiert und ich war im Gegensatz zu manchen meiner Kommilitonen in Leipzig damals kein Fan der taz, als ich das Volontariat angefangen habe. Ich habe damals auch andere Zeitungen gelesen und lese heute auch manchmal andere Zeitungen. Ich mag die „Süddeutsche Zeitung“ sehr gern…
Semler: Verräter! (lacht)
Denk: Ja, diese jungen Leute heute identifizieren sich nicht mehr mit dem Projektgedanken… Die taz stand für mich für das, was andere auch von außen auf die taz projizieren: Themen, die anderswo nicht vorkommen, die Schlagzeilen, die Afrikaberichterstattung, das Respektlose… Ich wurde dann während des Volontariats zum Fan, weil ich in meinem Volontariat unendlich viel Freiheit hatte: Ich wollte viel machen und konnte auch viel machen. Ich war damals bei der Vorstellung des ersten Bandes der Kohl-Memoiren. In einer anderen Zeitung hätte ich das als Volontär nicht machen können. Beim „Tagesspiegel“ zum Beispiel hätten die greisen Herausgeber weit vor einem in der Schlange gestanden. Ich konnte für die taz als Volontär hingehen und meine Sicht auf Helmut Kohl und das Gipfeltreffen von Leuten aus dem geriatrischen Bereich beschreiben. Das fand ich super. Natürlich musste ich manchmal auch über Dinge schreiben, für die ich nicht leidenschaftlich brannte, aber man wurde nie wirklich gezwungen, und das ist bis heute so geblieben. Deswegen bin ich gerne bei der taz.
Das hat auch mit Hierarchiefreiheit zu tun. Die taz ist ja mal mit den Anspruch angetreten, hierarchiefrei sein zu sein. Ist sie das noch?
Semler: Naja, es gibt keinen demokratischen Zentralismus im Lenin’schen Sinne. Das heißt, die Durchgriffsbefugnis der Chefredaktion auf die einzelnen Ressorts ist institutionell eingeschränkt durch das Redaktionsstatut, aber sie ist auch in der Praxis fast inexistent. Verglichen mit dem, was ich von anderen Zeitungen höre, hält sich die Chefredaktion sehr zurück. Und was ich noch wichtiger finde: Es gibt in der horizontalen Ebene viel Austausch zwischen den Ressorts. Informelle Hierarchien existieren natürlich überall. Das wäre infantil, das nicht zuzugeben.
Denk: Ich weiß nicht, ob das geringe Eingreifen der Chefredaktion in die Zeitungsgestaltung immer nur von Vorteil ist.
Semler: Du hast vollkommen recht, das ist manchmal auch von Nachteil. Es fehlt ab und zu, in Bezug auf die Tagesarbeit nach sehr wichtigen Ereignissen, eine klare Zusammenfassung nach der Diskussion und eine Ansage: So machen wir es. Die taz ist besonders gut, wenn sie kampagnenartig arbeitet. In der Personalpolitik entscheiden die Ressorts relativ selbstständig.
Ist das ein Wunsch an die neue Chefredakteurin Ines Pohl: Dass sie klare Ansagen machen soll?
Denk: Ja und nein. Einerseits spüre ich in der Redaktion nach so vielen Jahren mit der gleichen Chefredaktion schon den Wunsch nach einem neuen, anderen Führungsstil, andererseits wird man bei der taz sicherlich auch nicht glücklich, wenn man den Boss raushängen lässt. Eine Balance zu finden zwischen Ansagen und dem Dialog mit der Redaktion halte ich für eine von Ines‘ schwierigsten, aber auch wichtigsten Aufgaben. Gegen die Redaktion funktioniert bei der taz nämlich gar nichts. Und das ist keine Drohung, sondern nur die Wahrheit.
Semler: Dazu kann ich nichts sagen, weil ich Ines Pohl nicht kenne.
Die neue Chefredakteurin hat angekündigt, dass sie die taz wieder weiter links positionieren will. Ist das gut für die taz?
Denk: Im Grunde hat sie ja erst mal gesagt, dass sie das publizistische Profil der taz schärfen will, und das kann nur gut sein. Ob ein schwammiges Label wie „links“ alleine dafür ausreicht, wage ich allerdings zu bezweifeln. Die Positionierung muss über Themen stattfinden, über eine inhaltliche Auseinandersetzung und nicht über Etiketten.
Christian Semler, du hast gesagt, die taz ist besonders gut, wenn sie kampagnenartig arbeitet. Was bedeutet das?
Semler: Die taz ist immer dann gut, wenn es in der Gesellschaft knallt. Immer dann, wenn ein unvorhergesehener Einbruch der Wirklichkeit in das doch sehr behäbige politische Leben bei uns erfolgt. Eine Ausnahme gibt es: Bei der Finanzkrise kommen wir relativ schwer in die Gänge. Das hängt aber auch damit zusammen, dass wir nicht so eine abstrakte Anti-Kapitalismus-Tour fahren, sondern in der Sache begründet berichten. Wir haben mit Ulrike Herrmann eine ausgezeichnete Fachfrau für Finanzen.
Denk: Das Problem hat das gesamte linke Spektrum. Die linken Parteien profitieren nicht von der Wirtschaftskrise, genauso wenig ist es der taz bislang gelungen, Kapital daraus zu schlagen. Wir sind zurzeit vor allem wegen des 30. Geburtstags und des neuen Zeitungsdesigns und der damit verbundenen Umstrukturierung der Wochenendausgabe im Gespräch…
Semler: Auch durch den Kongress. Das ist ein weiteres Beispiel für den kampagnenartigen Arbeitsstil der taz.
Die taz ist also immer noch eine Zeitung, die sich zum Beispiel mit Kongressen wie dem „Tu was“-Kongress im April gesellschaftlich einmischt. Macht sie das zu einer besonderen Zeitung?
Semler: Wenn man die taz zum Beispiel mit der „Süddeutschen Zeitung“ vergleicht, wird man feststellen, dass der „Süddeutschen“ fast völlig das Moment der Überraschung, des Unerwarteten fehlt. Wir wissen bei der „Süddeutschen“, dass sie in Bezug auf die Innenpolitik eher linksliberal ist, bei der Wirtschaft eher rechts, das Feuilleton ist sehr gut, aber auch ziemlich mainstreammäßig. Bei der taz mag ich am liebsten, dass sie nicht ganz berechenbar ist. Dafür nehme ich auch gern manche Geschmacklosigkeiten oder Ausrutscher in Kauf. Das lässt sich ja oft nicht voneinander trennen. Natürlich hat die taz auch bestimmte Themen, in denen sie nicht leicht zu überholen ist. Allerdings hat die taz kein einziges politisches Thema mehr, wo man sagen würde: Das ist unseres. In den 90er Jahren hieß es, die taz interessiert sich nur für zwei Dinge: für Bosnien und für sich selbst.
Denk: Und heute interessieren wir uns für uns selbst und für was noch?
Semler: Nein, die Introspektion ist ja im Moment Gott sei Dank überhaupt nicht angesagt. Das kommt periodisch, du wirst das noch erleben. Das ist eine Form der Introspektion, die einen geradezu daran hindert, seinem Beruf nachzugehen und über das zu berichten, was außerhalb der taz stattfindet.
Also sind zurzeit alle sehr darauf konzentriert, eine gute Zeitung zu machen?
Semler: Ich finde, dass hier kontinuierlich hart gearbeitet wird. Bei der taz wird nicht gesoffen während der Arbeit, es wird relativ viel recherchiert und die Leute haben eine ziemlich ernsthafte Auffassung von ihrem Beruf.
Denk: Also mir fehlt manchmal der Produktgedanke. Der Gedanke, dass die Zeitung eine Summe von vielen Teilen ist, die nachher als Großes Ganzes beim Leser auf dem Frühstückstisch landet, kommt mir bisweilen zu kurz.
Semler: Das ist schwer, weil die Zeitung schon am Nachmittag fertig sein muss. Rein technisch gesehen findet die Abstimmung der einzelnen Teile in der Ressortkonferenz statt, aber die gibt es nur einmal in der Woche. Tag für Tag könnte das besser klappen. Es gibt einen bestimmten Ressortgeist. Ressortkleingeist, müsste man sagen.
Christian, du hast vorhin gesagt, du hast, bevor du als Redakteur zur taz kamst, die FAZ und die taz gelesen. Zum Gründungsmythos der taz gehört ja, dass die Gründer gesagt haben sollen: Wir wollen eine linke FAZ machen. Die FAZ ist zwar gut gemacht, aber sie ist von der Ideologie her schlecht.
Semler: Das waren zwei Welten. Ich war ja immer ein Linker, von Geburt an. Deswegen hatte ich nie Schwierigkeiten, die FAZ einzuordnen. Es gibt Leute, die sagen, die „Neue Zürcher Zeitung“ sei so eine glänzende Zeitung, aber diese Leute lesen die NZZ nicht, im Gegensatz zu mir. Ich habe auch nie gesagt, die taz ist die kleine FAZ.
David, was hatte für dich die „Süddeutsche“, was die taz nicht hatte?
Denk: Die taz war mir zu hermetisch. Ich bin nicht in so einen linken Zusammenhang hineingeboren worden wie Christian Semler. Die taz hat mir nie das Gefühl gegeben: Ich will auch von dir gelesen werden. Ich hatte das Gefühl, dass da Debatten geführt werden, zu denen ich keinen Zugang habe, und keiner hat sich die Mühe gemacht, mir zu erklären, was das soll. Sowohl, was den übergeordneten Geist angeht, als auch das konkret Handwerkliche, wie Texte präsentiert sind, ob ich bei einem Kulturtext durch die Unterzeile vermittelt bekomme, worum es geht… ? also sowohl das Große als auch das Kleine war in der SZ besser verwirklicht. Dazu kam, dass ich schnell ein Fan der Medienseite der SZ wurde und auch die Reportagen auf Seite drei besonders gut fand. Daher sah ich gar keinen Grund, eine andere Zeitung zu lesen. Ich war treuer SZ-Leser und bin es heute noch. In diesem Zusammenhang freue ich mich aber auch über das neue Layout der taz, weil das grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung ist, um Leute ins Boot zu holen, die nicht taz-Genossen sind. Von den alten Lesern können wir auf Dauer nicht leben. Dieses Layout vermittelt mir den Eindruck: Hier ist eine Zeitung, die auch von dir gelesen werden möchte, viel Spaß damit!
Semler: Ich glaube, wir jonglieren mit mehreren Bällen. Wir brauchen unbedingt eine bessere Form von Unterhaltung, wir müssen nur knapp davor zurückschrecken, unsere Großmutter für einen guten Witz zu verkaufen. Wir brauchen aber auch die klassische harte Untersuchung im internationalen Bereich, wie sie Georg Blume aus China oder Dominic Johnson aus Afrika liefern. Und wir müssen uns bemühen, uns stärker in gesellschaftliche Themen hineinzubegeben. Mit Gesellschaft meine ich nicht etwas Diffuses, sondern die Orte und Milieus, wo sich was zusammenbraut…
Denk: Lebenswirklichkeit…
Semler: Solche Begriffe vermeide ich…
Denk: Zum Glück!
Semler: Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass der ganze Bereich des Migrationshintergrunds wie man so schön sagt, bereits vollkommen abgedeckt ist durch den konkurrierenden Journalismus. Was ich sagen will: Man muss dorthin gehen, wo eine Entwicklung noch nicht eskaliert ist. Eine Organisation wie Greenpeace macht ständig eine Politik der halbgeöffneten Tür. Die gehen dorthin, wo andere Leute schon die Tür aufgemacht haben. Das sollten wir nicht machen.
Denk: In bestimmten Ressorts wird manchmal gesagt, wir brauchen jetzt noch einen lebensweltlichen Text. Die Frage ist aber, ob man nicht grundsätzlich anders denken muss. Da zeigt sich wieder einmal, dass auch die taz normalen Parlamentsjournalismus macht oder über Studien berichtet. Oft sind die Ereignisse politischer Inszenierung der Anlass, einen Text ins Blatt zu nehmen, aber es geht nicht darum, ob ein Thema wirklich als relevant empfunden wird.
Semler: Wir sind im Moment wieder auf der Spitze einer Politisierungswelle, das ist klar, wir haben ja im September Bundestagswahl. Aber über den längeren Zeitraum von Jahren gesehen machen wir zu viel institutionalisierte Politik. Zu viel Parteienpolitik und zu wenig Ereignisse, die mittelbar auf die Politik einwirken. Was Lebenswelt ist, ist ein kompliziertes theoretisches Problem, davon sollten wir die Finger lassen. Wir sind schließlich Journalisten und keine Philosophen.
Die taz ist ja vor 30 Jahren auch mit dem Anspruch angetreten, nicht so abgehoben zu sein wie andere Zeitungen…
Semler: Das war in den Anfängen, da gab es noch die taz-Initiativen und es hieß, die taz soll Sprachrohr der Bürgerinitiativen sein. Die Betroffenen sollten sich selbst äußern. Dann hat sich herausgestellt, dass die Bürgerinitiativen gar nicht so konstant sind. Ulrich Beck hat einmal gesagt: Sie kommen und gehen, hauptsächlich gehen sie.
Denk: Aber manchmal frage ich mich, ob wir heute nicht doch wieder zu der Klientel-Berichterstattung zurückkehren. Eines der jüngsten Projekte der taz ist das Portal bewegung.taz.de, wo sich politische Gruppierungen oder Umweltschutz-Gruppierungen unter der Dachmarke taz vernetzen können. Ist das unsere Aufgabe?
Semler: Das ist gewissermaßen eine Rückkehr zu den falschen Wurzeln. Wir brauchen natürlich viel mehr Berichte, aber wir sollten nicht als kollektiver Organisator wirken. Wir sind keine Partei.
Würdest du sagen, die taz ist eine junge Zeitung, David?
Denk: Auch wenn das Durchschnittsalter unserer Redaktion im Vergleich zu anderen Zeitungen ziemlich niedrig ist, empfinde ich die taz leider oft eher als berufsjugendliche denn als junge Zeitung. Und wir alle wissen, was von Berufsjugendlichen zu halten ist. Ich würde mir mehr Jugendlichkeit wünschen, wobei mir aber schwer fällt, zu sagen, wie sich die herstellen lässt. Spätpubertäre Witze jedenfalls halte ich für den falschen Weg.
Semler: Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff der Jugendlichkeit. Die peinlichsten Jugendlichen sind die Alten, die jugendlich sein wollen. Soziologisch gesehen würde ich sagen, die taz wird überwiegend gemacht von Leuten zwischen 35 und 45. Älter sind ganz wenige. Es wäre aber schön, wenn wir mehr jüngere Leute an Bord kriegen würden. Das Problem ist: ob du nun 25 oder 30 bist, spielt mittlerweile nicht mehr so eine große Rolle, weil sich die Berufswege stark angeglichen haben. Studium plus Journalistenschule, dann Eintritt in die taz oder eine andere Zeitung, wenn es der Markt erlaubt. Es gibt kaum noch Quereinsteiger.
Denk: Aber was ich in der taz schön finde, ist, dass es auch Praktikanten gibt, die wesentlich älter sind. Also ein Quereinstieg wäre bei der taz heute nicht ganz unmöglich. Ich glaube, auch als Praktikant von Ende 30 bekommt man bei der taz noch eine Chance. Grundsätzlich würde ich sagen, dass die taz, was die Lebensläufe ihrer Mitarbeiter angeht, noch ziemlich offen ist.
Beschäftigt euch die Frage, die zurzeit alle anderen Zeitungen stark beschäftigt, ob die taz auch junge Leser anspricht?
Semler: Das ist ganz einfach nachzuweisen. Es gab zwei große Wellen von Aboschüben von jungen Leuten, einmal nach dem letzten großen Studentenstreik und einmal nach der Gründung von Attac. Das hat mich sehr gefreut, weil ich immer dachte, mit der taz ist es wie mit den Grünen: Alle werden immer älter und zum Schluss sterben wir alle zusammen. Ganz so ist es nicht, Gott sei Dank. Die taz-Leser, denen ich auf der Straße begegne und mit denen ich mich manchmal auch unterhalte, die sind allerdings ziemlich alt.
Sprecht ihr denn in Redaktionskonferenzen darüber, ob der Themenmix junge Leute anspricht?
Semler: Nein, die Redaktionskonferenzen sind ziemlich strikt auf den nächsten Tag bezogen.
Denk: Ich habe das Gefühl, dass wir zu wenig darüber reden und nachdenken. Wir umwerben nur die jungen Leute, die wir sowieso schon haben. Wir sprechen die linken Hochschulgruppen an, Leute, die bei Attac aktiv sind, Christen… – beim Kirchentag gab es auch taz-Euphorie allerorten. Wir müssten aber Leute von draußen reinholen. Warum haben wir nicht Freikarten für den Kongress an Berliner Unis verschenkt mit der Botschaft: Kommt doch mal vorbei und guckt euch an, ob das was für euch wäre? Ich habe das Gefühl, dass man Leuten, die aus einer gewissen Distanz auf die taz gucken, nicht genug die Hand ausstreckt.
Semler: Lesegewohnheiten sind sehr festgezurrt. Ich sehe das bei meinem Freundeskreis in Berlin. Viele haben die taz seit Jahrzehnten abonniert und lesen sie und schenken auch ihren Kindern ein taz-Abo. Andere lesen nicht einen einzigen Artikel in der taz, obwohl sie eigentlich nichts gegen die Zeitung haben. Man switcht nicht so einfach von einer Zeitung zur anderen.
Wobei die taz-Leser doch gerne damit drohen, dass sie das Abo kündigen, wenn sie sich wieder einmal über einen Artikel geärgert haben.
Semler: In der taz gibt es ein System von Erpressung und Gegen-Erpressung. Die Leser erpressen uns damit, dass sie das Abo kündigen, und wir erpressen die Leser damit, dass wir Geld brauchen, sonst müssen wir den Laden dichtmachen.
Denk: Dann wird es für die Leser bald keinen Grund mehr geben, sich zu ärgern.
Semler: Dieses System von Erpressung und Gegen-Erpressung hat bisher erstaunlich gut funktioniert. Aber im Moment geht es der taz ja gar nicht so schlecht.
Wir haben zurzeit eine Wirtschaftskrise und eine massive Zeitungskrise, aber der taz geht es gut. Wie kommt das?
Semler: Das war doch immer so bei der taz. Die taz ist Kriegsgewinnler. Wenn es irgendwo einen Krieg gibt und Orientierungsbedarf, steigt die Auflage der taz. Und dadurch, dass wir ein sehr geringes Anzeigenvolumen haben, können uns auch keine Anzeigen wegbrechen. Bei der großen Zeitungskrise vor einigen Jahren hat die taz Leute eingestellt.
Auf der ersten Seite meiner taz steht: „Die tageszeitung wird ermöglicht durch 8.686 GenossInnen, die in die Pressefreiheit investieren.“ Ist das Finanzierungsmodell der taz durch die Genossenschaft vielleicht das Modell der Zukunft für Zeitungen?
Denk: Das liest man jetzt immer mal wieder, weil ja alle auf der Suche sind nach einer Möglichkeit, wie man Qualitätsjournalismus oder Printmedien in Zukunft erhalten kann. Ich glaube aber, dass das nicht der Weg ist. Die taz-Community verbindet ein bisschen mehr als ein gemeinsames Verständnis von Qualität. Wahrscheinlich gibt es das nicht einmal. Es gibt aber einen übergeordneten Geist, im positiven Sinn des Wortes. Wenn man sagt: Gebt Geld, damit die Journalisten auch zur Recherche das Haus verlassen können, funktioniert das nicht. Ich habe das Gefühl, dass die taz als Medienunternehmen und als Projekt zu singulär ist. Sie ist nicht das Modell für Qualitätsjournalismus.
Semler: Es muss für so etwas auch eine Konjunktur geben. Es gab eine Konjunktur für eine neue Zeitung Ende der siebziger Jahre, vielleicht gibt es irgendwann wieder eine. Im Moment sieht es sehr schlecht aus für eine neue Tageszeitung.
Ende der siebziger Jahre hatten wir eine bestimmte historische Situation: Wir hatten den deutschen Herbst. Es gab die Terroranschläge der RAF und eine Nachrichtensperre durch die Regierung. Viele Zeitungen haben die Regierungspolitik kaum kritisiert, es gab so etwas wie einen vorauseilenden Gehorsam der Redaktionen, bestimmte Dinge nicht zu schreiben – das war die Initialzündung für die Gründung der taz.
Semler: Das ist das, was David mit dem Geist meint, der in einer sehr abgeschwächten Form noch weiterwirkt. Es gab ein generationsprägendes Erlebnis. Das Genossenschaftsmodell funktioniert nicht, wenn man nur sagt: das ist eine Zeitung, die ist gut und muss erhalten werden. Es hätte sein können, dass sich um den „Freitag“ herum aus dem Generationenerlebnis von 1989 eine ähnliche Gemeinschaft gebildet hätte, wenn Jakob Augstein ihn nicht übernommen hätte. Für manche Leser ist es wichtig, dass es die einzige Zeitung ist, in der es noch ein Ost-West-Gemisch gibt.
Aber das Modell der Gegenöffentlichkeit, das die taz damals dargestellt hat, brauchen wir doch heute gar nicht mehr, weil es das Internet gibt. Welche Funktion erfüllt die taz also heute?
Semler: Das ist doch klar. Die, die sie immer erfüllt hat. Sie versucht, im weiten politischen Raum Möglichkeiten zu eröffnen, zu kritisieren und eine Debatte zu führen. Die taz wird nie die „titanic“ sein. Und selbst wenn es schon drei Zeitungen gäbe, die diese Funktion erfüllen würden, wäre es gut, wenn es noch eine vierte gäbe. Die Idee, dass die taz keinen Entfaltungsraum mehr hat, finde ich etwas gedankenfaul. Es gibt ein starkes Bedürfnis nach einer Zeitung wie der taz. Selbst wenn die taz dieses Bedürfnis nicht erfüllen würde und sauschlecht wäre, gäbe es das Bedürfnis weiterhin.
Will nicht jede Zeitung Debattenräume öffnen?
Semler: Nein, die „Welt“ oder die „Frankfurter Allgemeine“ erfüllen ganz andere Bedürfnisse. Sie erfüllen affirmative Bedürfnisse, wollen Ängste besänftigen. Das ist ein ganz anderes psychologisches Reiz-Reaktions-Schema. Deswegen kann man die Leserschaft auch nicht austauschen. Deswegen mussten die Linken, die zur „Welt“ gegangen sind, auch eine derartige 180-Grad-Wendung vollziehen, dass nichts Linkes von ihnen übrig geblieben ist. Das ist bei uns anders. Wir haben damals Arno Luik als Chefredakteur rausgeschmissen, weil er aus der taz unbedingt eine Boulevard-Zeitung machen wollte, und kommen trotzdem noch ganz gut mit ihm klar.
Denk: Interessant ist, dass Leute, die weggegangen sind, der taz gegenüber oft noch ein Gefühl der Wärme haben. Ute Scheub hat neulich eine „Gute Nachrichten“-Beilage gestaltet, Michael Sontheimer gibt Workshops für Nachwuchsjournalisten bei der taz-Akademie. Es ist erstaunlich, man hat mit allen Ex-tazzlern immer gleich ein Gesprächsthema. Alle wollen wissen, wie man sich fühlt. Das ist bemerkenswert. Ein Fünkchen taz glimmt immer noch in allen.
Welche Funktion erfüllt die taz für euch aus Lesersicht?
Denk: Ein gutes Beispiel sind die Auslandsthemen. Die sind in der taz auf der Medienseite im Vergleich zu anderen Zeitungen überproportional vertreten. Ich weiß, dass es ein großes Interesse von taz-Lesern an Osteuropa, Südamerika und anderen Regionen gibt und dass wir da eine große Kompetenz haben. Es gibt in den entlegensten Winkeln dieser Erde Leute, die bereit sind, für wenig Geld für uns Artikel zu schreiben. Das hat auch mit der Ausstrahlung dieses Projektes zu tun. Das finde ich super. Die Auslandsthemen sind konstituierend für die Medienberichterstattung der taz. Die Auslandsberichterstattung ist eben eine Kernkompetenz der taz. Alle Themen, die mit Presse- und Meinungsfreiheit zu tun haben, gehören zur Medienberichterstattung in der taz.
Semler: Wir haben sogar in Gegenden, wo niemand einen Korrespondenten unterhält, Korrespondenten sitzen, in Dublin zum Beispiel.
Christian, als du 1990 zur taz kamst, ging die Zeit der großen politischen Debatten in der taz gerade zu Ende. In den Achtzigern sah es ein paar Mal so aus, als werde das Projekt sich wegen politischen Fragen spalten.
Semler: Wenn man sich in die damalige Zeit zurückversetzt, gab es eine ungeheure Unsicherheit und keine klaren Linien. Es gab 1990 eine große politische Diskussion über Irak und die Besetzung von Kuwait. Die Redaktion der taz war darüber vollständig gespalten, es gab erbitterte Auseinandersetzungen, die sich verknäulten mit der Diskussion über die Zukunft der taz. Ich war damals überrascht, wie solidarisch und freundschaftlich die Leute nach alldem noch miteinander umgegangen sind. Es gab in den Achtzigern und frühen Neunzigern politische Auseinandersetzungen ? über Solidarnosc, Nicaragua, El Salvador ? die in dieser Grundsätzlichkeit und Schärfe seitdem nicht mehr stattgefunden haben. Es gibt keine Fragestellungen mehr, die moralische und politische Fragen von so großer Relevanz aufgeworfen hätten. Mehr oder weniger die gesamte Redaktion der taz war gegen die amerikanische Invasion des Irak. Die Fragen, die zur Entscheidung anstehen, sind nicht mehr so kontrovers. Es gibt nicht mehr so starke Frontenbildungen in der Linken. Das hängt aber nicht damit zusammen, dass die Redaktion weiter nach links gerückt wäre.
1990 gab es in der Zeitung auch eine große Debatte darum, wie es mit ihr weitergehen soll. Damals wurde das Genossenschaftsmodell eingeführt. Welche Alternativen standen damals noch zur Debatte?
Semler: Das Genossenschaftsmodell war damals sehr umstritten. Die einen sagten, wir kommen auf keinen grünen Zweig, wenn wir kein Kapital aufnehmen, wir können keine neuen Leute einstellen, wir können keine Recherchen bezahlen, wir krebsen weiter rum wie bisher…
Also ging es auch um eine Professionalisierung der taz?
Semler: Ja, natürlich, aber das soll man nicht nur negativ sehen…
Denk: Was ist an Professionalisierung negativ?
Semler: Negativ wäre, wenn man nur noch bestimmte Themen machen würde. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass Professionalität und politische Orientierung gar nichts miteinander zu tun haben. Die Gegner des Genossenschaftsmodells waren keine Bösewichter, die sagten, wir wollen mehr Geld verdienen. Sie wollten einfach eine bessere Zeitung machen. Die Befürworter des Genossenschaftsmodells sagten, wenn jemand bei uns einsteigt, drückt er uns früher oder später die Gurgel zu. Letzten Endes hat das Genossenschaftsmodell gesiegt, weil es keinen ernsthaften Bewerber gab, der investieren wollte.
Denk: Schwein gehabt.
Es gab ja damals das Gerücht, dass der Spiegel einsteigen wollte.
Semler: Es gab zahlreiche Interessenten, aber niemanden, der es ernsthaft erwogen hätte. Die Befürworter des Genossenschaftsmodells haben dann die Gründung der Genossenschaft mit großer Energie und großem Einfallsreichtum durchgezogen. Befürworter waren vor allem die Angestellten der Verwaltung und der Technik, in der Redaktion war nur eine Minderheit dafür. Im Nachhinein hat es sich als gute Lösung herausgestellt.
Die „Zeit“ hat neulich auf ihrer Kinderseite geschrieben, die tazzler wollten immer „extra viel Spaß“ haben bei der Arbeit, weil sie so schlecht bezahlt werden. Stimmt das?
Semler: Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Dafür gibt es zu viel Ärger…
Denk: Spaß…? Ich würde sagen, die Selbstständigkeit, die man in der Arbeit hat, die Freiheit, Themen zu machen oder nicht, bringt Freude. Aber der Kompensationsgedanke spielt natürlich schon eine Rolle: Man kriegt wenig Geld – was tut man also dafür und was nicht? Vielen reicht es als Motivation, an Themen arbeiten zu können, die sie interessieren und die ihnen nicht vorgesetzt werden von einem Vorgesetzten, aber eben nicht allen. Das merkt man der taz manchmal auch an. Die Bezahlung ist ein interessantes Thema. Wenn ich mich mit anderen jungen Journalisten unterhalte, kommen die sehr schnell auf das Thema. Und ich frage mich, was ist das für eine materielle Orientierung?
Semler: Die Gehälter bei den anderen Zeitungen in Berlin sind für junge Journalisten, die frisch anfangen, gar nicht mehr so viel höher. Ich bin ja erst zur taz gekommen, als ich 50 war. Ich bin gelernter Jurist, war Parteifunktionär und war in den 80er Jahren als freier Journalist tätig. Insofern war das für mich überhaupt kein Problem, hier fest anzudocken. Bei Jüngeren bin ich unbedingt dafür, dass sie nach einer gewissen Zeit wechseln. Das gehört dazu. Ich würde sagen, die Geldfrage ist heute nicht mehr so gravierend wie früher. Früher, als es kaum genug Geld gab, um jedem seine 1500 Mark zu zahlen, war das sehr haarig.
Denk: Mich wundert diese Fixierung auf das Geld wirklich sehr. Ich habe oft das Gefühl, dass andere denken, das lohnt sich nicht. Im Vergleich dazu fühle ich mich unterdurchschnittlich materiell orientiert. Aber ich verhehle nicht, dass ich es irgendwann schön fände, mehr Geld zu verdienen. Es gibt Leute, für die kann Freiheit nicht in Geld aufgewogen werden, die landen dann bei der taz, die anderen woanders.
Als die taz vor 30 Jahren gegründet wurde, hätten die Gründer selbst nicht geglaubt, dass es die Zeitung so lange geben würde. Welche Prognose gebt ihr der taz heute? Gibt es sie in zehn Jahren noch?
Denk: Aber hallo!
Semler: Selbstverständlich. Die Frage ist nur, wie sie aussehen wird. Wenn es keine Bewegung in der Gesellschaft gibt, wenn es keine neuen Ideen gibt, kann die taz auch keine Bewegung entzünden, und neue Ideen kann sie auch nur in begrenztem Umfang produzieren. Wir waren einmal relativ nah an den Grünen dran, das war 1994. Da machten wir auch eine Kampagne für doppelte Staatsbürgerschaft und dann entwickelte es sich auseinander. Es würde mir auch nicht gefallen, wenn die taz sich zu sehr in Richtung der Linken bewegen würde. Aber die Gefahr besteht offensichtlich nicht.
Denk: Wir haben vorhin über die wirtschaftliche Lage der taz gesprochen, die ist sehr gut. Ich glaube, das wird auch in den nächsten Jahren, wenn alle ringsum mehr ächzen als wir, so weitergehen. Wir haben durch das Genossenschaftsmodell einen richtigen Glücksgriff getan, das ist ein guter Schutzraum. Und wir haben eine treue Leserschaft. Aber es ist für die taz existenziell, junge Leute anzusprechen, die ihr nicht schon sicher sind. Eben nicht nur die Leute aus dem grün-alternativen Spektrum.
Semler: Die 68er sterben allmählich aus, kommen also als Abonnenten nicht mehr infrage. Wenn es uns gelänge, das ökologisch-demokratische Lager zu erreichen, müssten wir eine verkaufte Auflage von 150.000 haben – und dann könnten wir unser Gehalt verdoppeln. Aber man muss auch bedenken: Die jungen Leute haben viel weniger Geld als früher und sie stehen stark unter Druck. Als ich studierte, hatte ich keine Sorgen, was ich vielleicht mal machen würde. Jobs gab es in Hülle und Fülle. Seit den 80er Jahren gibt es diesen wahnsinnigen Druck: Ich muss schnell fertig werden mit dem Studium. Schon Zeitunglesen ist ein Luxus, den man sich nicht gestatten sollte.
Denk: So gesehen sind andere Zeitungen zielstrebiger.
Ist die taz die Zeitung für diejenigen, die nicht immer stur geradeaus, sondern auch mal nach links und rechts gucken wollen?
Denk: Für diejenigen, die ein Interesse daran haben, von der markierten Linie abzuweichen. Das hat auch mit Zeit zu tun oder mit Angst. Ein Lebenslauf oder eine Karriere heutzutage muss ja dem System genügen, das alles, was es nicht brauchen kann, abstößt. So gesehen wird eine Zeitung wie die taz immer mehr zu einem Luxusprodukt.
Semler: Man muss auch unterscheiden zwischen der Rezeption der taz in Großstädten oder in Kleinstädten. In kleinen Städten hat die taz eine ganz andere Funktion, die wir gar nicht hinreichend erfüllen können, da ist sie ein Fenster zur Welt. Das sollte uns immer bewusst sein. Die taz zu abonnieren, ist in manchen Dörfern in Bayern, wo siebzig Prozent der Leute CSU wählen, ein Unglaubensbekenntnis.