Ines Pohl ist ab Montag die neue Chefredakteurin der taz
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ich hatte ein Jahr lang die Chance, als Stipendiatin der Nieman Foundation for Journalism mit Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt an der Harvard-Universität zu studieren. Das Allerwichtigste, was ich damals vor vier Jahren mit nach Hause gebracht habe, war die tiefe Ermahnung, nie zu vergessen, um was Medienvertreter sich wirklich kümmern sollten; was wirklich auf dem Spiel steht, wenn wir von der Freiheit der Presse sprechen und schreiben.
Meine Fellows aus dem Iran, aus Pakistan, Südafrika und Georgien haben davon erzählt, wie sie verhaftet wurden, weil man sie daran hindern wollte, die Wahrheit zu schreiben, weil man verhindern wollte, dass die alltägliche Korruption ans Licht kommt und Verantwortliche auch zur Verantwortung gezogen werden. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen riskieren auch weiterhin täglich nicht selten ihre wirtschaftliche Sicherheit, mithin sogar ihr Leben und das Wohl ihrer Familien, weil sie sich den Grundsätzen eines freien, unabhängigen Journalismus verpflichtet fühlen.
Natürlich verbieten sich direkte Vergleiche mit der Situation in Deutschland. Ich schreibe hier davon, weil diese Begegnungen mein Verständnis von Journalismus nachhaltig geprägt haben. Und weil ich erlebe, dass die Freiheit der Presse eben auch in Deutschland unter einem immer größer werdenden Druck steht.
In diesem Geiste trete ich meine neue Stelle als Chefredakteurin der taz in den kommenden Tagen an.
Dank der langjährigen erfolgreichen Arbeit von Bascha Mika, Peter Unfried und Reiner Metzger steht die taz in vielerlei Hinsicht auf soliden Füßen. Anders als andere Blätter ist sie kaum von den einbrechenden Anzeigenmärkten betroffen, da sie dank ihres Genossenschaftsmodells unabhängig vom Druck des Anzeigenmarktes arbeiten kann. Das ist ein Gut, das die Leserschaft auch belohnt. Entgegen dem allgemeinen Trend hält sie nicht nur ihre Auflage, sondern konnte sie in den vergangenen Monaten sogar leicht steigern.
Spätestens mit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise rücken die ganz grundsätzlichen gesamtgesellschaftlichen Fragen wieder in den Mittelpunkt des politischen Diskurses. Die klassischen taz-Themen wie soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie, Globalisierung und internationale Politik haben Konjunktur. Hier ist die taz dank ihrer profilierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihrer Unabhängigkeit die herausragende Stimme im großen Mediengewirr – und ich trete dafür an, dass sie dieses linke Profil nicht nur halten, sondern schärfen wird.
Das heißt, dass wir versuchen werden, noch genauer zu hinterfragen, warum welche politischen Entscheidungen getroffen wurden. Wer profitiert wirklich von Steuererleichterungen und vermeintlichen Sozialreformen? Und was wird für jene getan, die rausfallen aus einer Gesellschaft, die vorgibt, dass Leistung sich für jeden gleichermaßen lohnt? Was ist mit Hartz-IV-Kindern, die schon lange vor ihrem ersten Schultag nie wirklich eine Chance hatten? Was hat es denn mit der Solidarität wirklich auf sich?
Es gilt die Programme der einzelnen Parteien sehr kritisch und sorgsam mit diesen Fragen zu konfrontieren. Welche Konzepte sind tatsächlich glaubwürdig und tragfähig?
Dass die taz dabei nicht zum verbissenen Kampfblatt werden darf, versteht sich von selbst. Denn die taz ist ja auch Unterhaltung, ein verlässliches Ärgernis, ist Anregung und Aufregung in einem.
Damit die taz all das bleiben kann, was sie ist, darf es keinen Stillstand geben. Auch sie muss sich mit den veränderten Ansprüchen durch die überwiegend kostenfreien Online-Angebote auseinandersetzen. In der Informationsflut der neuen Medien droht der Leser immer schneller unterzugehen. Analyse, Kommentar, Hintergrund, schlussendlich Orientierung werden zunehmend wichtiger – genau die Felder, in denen die taz seit ihrer Gründung vor 30 Jahren stark ist. Und diese Stärken gilt es gemeinsam mit dem taz-Team auszubauen und Wege in eine multimediale Zukunft zu finden.
Ich freue mich darauf. Und auch darauf, mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, den kritischen Dialog über unsere, über Ihre taz zu führen.
Ines Pohl
Biografie
Geboren 1967 in Mutlangen, Baden-Württemberg. Spricht neben Hochdeutsch und Englisch auch einige skandinavische Sprachen. Studium Germanistik und Skandinavistik mit der Magisterarbeit „Ein Vergleich der Romane von August Strindberg und Max Frisch“; Frauenbeauftragte der Universität Göttingen 1995 bis 1996.
Der hauptamtliche Journalismus begann mit freier Mitarbeit beim Radio, dann einem Volontariat bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (HNA). Pohl wird Lokalredakteurin, forscht an der Uni Oslo zum Gesundheitswesen, erschließt für den Zeitungsverlag neue Lesergruppen, wird stellvertretende Leiterin des Politikressorts.
Stipendiatin der Nieman Foundation for Journalism at Harvard University, Cambridge (USA), mit den Schwerpunkten: Teammanagement, crossmediale Strategien und betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse.
Drei Jahre Leiterin des politischen Ressorts der HNA inklusive der Titelseiten und der Zusammenarbeit mit der Online-Abteilung. Seit 2008 Hauptstadtkorrespondentin für die Mediengruppe Ippen, die fünftgrößte Zeitungsgruppe der Republik.
Foto: dpa