von 29.04.2009

taz Hausblog

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Die Krise schadet den Linken – das sagte der Göttinger Parteienforscher Franz Walter auf dem taz-Kongress. Zumindest sei es historisch in Deutschland so gewesen. Er sieht als Grund dafür: Wenn die Wirtschaft kräftig wächst, dann lassen sich gut Umverteilungsforderungen aufstellen, aber in der Krise sieht alles ganz anders aus. Dann nehmen die Rechten den Linken sogar ihre Instrumente aus der Hand – indem sie selbst die Banken verstaatlichen. Unten sein vollständiger Redebeitrag. Außerdem gibt es auch ein knapp 70 Minuten langes Video der kompletten Debatte „Rot-Grün-Rot – ein Zukunftsprojekt?“ mit Franz Walter, Karl Lauterbach (SPD), Bodo Ramelow (Linkspartei) und Bärbel Höhn (Grüne):

Ich habe ein bisschen schlechtes Gewissen, weil die Herren hier so nett sind und ich jetzt so ein nölendes Referat halte. Außerdem war ich verwirrt, weil ich hatte vorher das Kongress-Programm bekommen und da waren die beiden Herren angekündigt, Frau Höhn aber nicht, und dann dachte ich mir: Was soll ich jetzt machen, habe ich jetzt den Part der Grünen? Ich meine, ich seh’ zwar scheiße aus, aber ich bin trotzdem nicht bei den Grünen. Irgendwann letztes Jahr kam die Anfrage, ob ich mir vorstellen könne, auf einem tazkongress zu reden, per Handy und ich erschreck mich immer zu Tode, wenn das Handy klingelt. Ich wollte den Kerl wieder loswerden und sagte jau und dann sagte mir vor zwei Wochen einer meiner Studenten, ich sei da jetzt bei zwei Veranstaltungen eingefügt, was ich nicht wusste. Dann war es kurz vor Ostern. Ich saß auf dem Balkon, Vögelzwitschern, Kinderspielen, Erwachsene bereiteten den Grill vor und ich dachte: Jetzt muss ich nachdenken über Rot-Rot-Grün. Das war wirklich eine völlig abstruse Situation. Kurz haben ich überlegt, mal kurz runter zu den Nachbarn zu gehen. Die sind eigentlich ähnlich wie Sie, sehen auch ähnlich aus – also nicht scheiße, sie sehen eigentlich aus wie…jedenfalls so, dass ich man sich auch hätte vorstellen können, dass die Grün wählen. Dann hätte ich sie auch didaktischen Gründen fragen können, was sie von dem Rot-Rot-Grünen Zukunftsprojekt halten. Aber dann habe ich mich zu sehr gefürchtet, sie würden nach mir mit der heißen Kohle werfen. Aber jetzt hört das Kabarett auf, ich verspreche es, weil es in irgendeiner Weise ja doch was Ernstes ist. Man wusste, bei Leuten, die tatsächlich nur CDU und FDP wählen, nicht mit so einer Geschichte kommen. Nicht nur weil es schönes Wetter und Ostern war. Der fühlbare Unterschied für uns alle zu den 80er Jahren, Teile der 90er Jahre, wo wir noch jünger waren, da hatte das Rot-Grüne Projekt einen kleinen Eros. Einen kleinen Kitzel. Viele von uns hätten vielleicht gesagt, dass ist mir wichtig, da würde ich mich einsetzen usw. Und das ist bei Rot-Rot-Grün anders.

Ich kenne jedenfalls niemanden, der da in irgendeiner Weisen erotische Anflüge bekommt, wenn er diese Farbkonstellation hört. Nun ist das natürlich überwiegend in der Parlaments- und Parteiengeschichte, dass die meisten Menschen sich nicht für Schwarz-Grün, Rot-Rot usw. interessieren. Sie sind nicht emotional oder enthusiastisch geworden, aber doch immer eine beträchtliche Gruppe. Ich habe den Eindruck, dass diese Gruppe immer weiter zusammenschmilzt.

Wenn man von Zivilgesellschaft spricht, was man in solchen Milieus wie hier ja gern tut, hat man den Eindruck, die rückt von dieser Art von Politik immer weiter ab. Meine Furcht ist, dass, wenn es gut geht, wir eine äußerst apolitische Zivilgesellschaft bekommen. Und wenn es schlecht geht, sogar eine aggressiv antipolitische Zivilgesellschaft. Und das bezieht sich auf all diese Konstellationen. Das heißt Rot-Rot-Grün ist nicht irgendwie Avantgarde von etwas, das die Hoffnungen derjenigen vertritt, die unzufrieden sind, mit dem, was man an den dominanten Entwicklungen und Tendenzen in der Politik identifizieren könnte.

Jeder von uns weiß durch die berühmten Umfragen, dass dieses Bündnis das mit Abstand unpopulärste ist. Bei den letzten Umfragen ist einmal Jamaika unbeliebter und einmal ist Rot-Rot-Grün unbeliebter. Mir ist das scheißegal. Jedenfalls ist weder Jamaika noch Rot-Rot-Grün etwas, wo diese Herren und die Dame natürlich auch, die ja wahrscheinlich alle gut meinend sind, nicht offensiv in einen Wahlkampf gehen. Sie werden verdruckst hineingehen. Der Herr Ramelow noch am wenigsten, aber alle anderen immer verdruckst. Eigentlich nicht und vielleicht doch. Aber ein mobilisierendes Thema, was man vielleicht machen kann, können Sie aus Parteiräson schon nicht und aus diesen Gründen, dass es eben denkbar unpopulär ist. Auch bei den eigenen Anhängern. Die Differenzen in der Außenpolitik erörtere ich jetzt aber nicht.

Viel wichtiger, wenn man das ernsthaft für das Jahr 2009 nehmen würde, ist natürlich die fünf entscheidenden Länder in der BRD, also Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westphalen usw. Bayern, Baden-Württemberg sind ja in der Hand von Schwarz-Gelb. Wir sprachen ja vorhin noch mal über die Föderalismusreform und so wie die Republik strukturiert ist, würde es bedeuten, dass bei den entscheidenden politischen Fragen nicht Rot-Rot-Grün kommen müsste, sondern ein Arrangement von Rot-Rot-Grün-Schwarz-Gelb. Das wäre in der Tat die Machtkonstellation der nächsten vier Jahre. Und da muss so ein Typ wie Steingart und andere, die dabei sind, zu sagen, das ist insgesamt ein völlig unfähiges Machtkartell und wir sollten nicht mehr wählen, jetzt muss was ganz anderes kommen, hätten in einer solchen Konstellation, in dem es tatsächlich eine Riesenkoalition geben würde, bei den eigentlichen Machtfragen dann plötzlich einen weiten Raum, so eine Art deutschen Feuilletonismus, das ist jetzt nicht so die übliche Apokalypse, sehr wahrscheinlich, wie ich finde.

Das Zweite ist: Viele von Ihnen kennen ja den Film ‚Und ewig grüßt das Murmeltier’, wo es jeden Tag noch mal anfängt, bis es irgendwann funktioniert. Bei Rot-Rot-Grün hat man den Eindruck auch so, es wird etwas wegradiert, was seit 2001 nicht so gut funktioniert hat. Und dann versuchen wir es noch mal neu mit einer neuen Farbkonstellation. Das Entscheidende ist ja, dass die letzten sechs Jahre, also bei dieser Konstellation Rot-Rot-Grün, dass sie ja nur deshalb überhaupt denkbar ist, hier überhaupt diskutiert wird, weil da eine Partei, die hier von Herrn Ramelow repräsentiert wird, aus dem Antagonismus, zumindest aus einem ganz grundsätzlichen Konflikt entstanden ist. Mit den anderen beiden Parteien, die damals regiert haben. Wenn die jetzt also zusammengehen sollten, müsste es so sein, dass die Sozialdemokraten und die Grünen von der grundsätzlichen Philosophie, warum sie ja 2003 diese Agendapolitik gemacht haben, abrücken, sonst könnten ja diese neuen Linken nicht mit ihnen zusammengehen, weil sie ja nur deshalb nationalweit so stark geworden sind aus der Opposition heraus. Oder aber die kleinere Partei müsste davon abrücken, dann hat sie einen großes und riesiges Problem, weil sie, ja, das wissen Sie ja auch selber.

Es ist ja gewissermaßen ein Schisma innerhalb der eigenen politischen Familie und es ist natürlich immer hochneurotisch. Man kommt mit einem Partner aus dem anderen politischen Lager, besser aus, als mit einem aus der eigenen politischen Familie, weil man sich viel weniger Illusionen macht, weniger schmerzhaft ist, weniger neurotisch beladen ist.

Das merkt man übrigens gerade bei Ihnen, Herr Lauterbach, Sie sind ja jemand, der offener ist in dieser Frage. Ich habe mir noch mal dieses Stern-Interview angesehen, das Sie gegeben haben. Und da gibt es zwei Zielrichtungen, die Sie genannt haben, warum man ein solches Bündnis machen könnte. Erstens kann man mit so einem Bündnis die Linken spalten und zweitens im nächsten Schritt überflüssig machen. Das ist eine besonders charmante Einladung zur Zusammenarbeit.

Und das ist ja auch in der Tat der Unterschied, also wie werden die Freien Demokraten umhätschelt, dass es Gemeinsamkeiten bei den Bürgerrechten geben würde, bei der inneren Liberalität. In der Tat interessant ist, wie ist man mit der FDP, als die Sozialdemokraten 1969/70 ein Bündnis eingegangen sind, umgegangen? Die haben die besten, komfortabelsten, klassischen, wichtigsten Ministerien bekommen in den frühen 70er Jahren. Und als sie pleite waren – die FDP war 1970 vollkommen pleite, weil die Zuwendungen aus der Industrie ausblieben, hat die SPD, wie die wenigsten wissen, über die verschiedensten Kanäle die FDP wieder finanziert. Das scheinen Sie mit den Linken nicht machen zu wollen.

Das ist ein sozialdemokratisches Problem, das kennen Sie, hier hat man ja gemerkt, sind die meisten Grüne, Sie Frau Höhn kennen das auch: Natürlich sind die Sozialdemokraten die Mutter aller Parteien, zumindest von dem, was links von der Mitte ist. Die Grünen waren die pubertierenden Unartigen, die sind irgendwann mal zu spät nach Hause gekommen, dann bekamen sie Stubenarrest und dann durften sie wieder auf die Party, aber um zehn Uhr zurück in die Familie. Das ist das Denken von Kindern, weil sie ein Teil der Familie sind, immer in die Familie zurückkommen müssen. Und das ist eigentlich auch der Umgang mit der Linkspartei. Natürlich ist die Linkspartei nicht legitim, denn es gibt nur eine Partei der Arbeiterbewegung des Sozialismus usw., all das, was sowieso in der SPD keine Rolle mehr spielt. Aber trotzdem ist sie die Repräsentantin dessen. Um jetzt ein wenig Equidistance herzustellen: natürlich braucht eine andere linke Partei, gerade heute im Jahr 2009 ff braucht so etwas wie Handlungssicherheit, weil Menschen so verwirrt sind, weil es furchtbar kompliziert geworden ist und diese Markierungspunkte fehlen. Und eine Allianz, die da zu sich finden muss, das würde nicht funktionieren. Zumindest die einzelnen Bestandteile müssen wissen, was sie wollen. Und ich glaube nicht, dass die Linke es wirklich weiß. Und zwar in diesem Fall die Parteilinke. Nicht nur dieses Platte, ob sie regieren oder nicht regieren will. Als Parteienforscher macht man das ja doch häufig, dass man in Ortsvereine oder sonst was hineingeht, zu Sozialdemokraten, Christdemokraten und Linken. Und zumindest im Westen ist das ein wirklich furchtbarer Haufen. Das ist nicht nur ein bürgerliches Vorurteil, sondern, das finde ich bei meinen Studenten immer ganz interessant, wen sie aus Forschungsgründen dann auch zur Linken gehen müssen. Die kommen immer ganz verdattert zurück, weil sie sagen, da sitzen irgendwelche 50jährigen, die etwa so scheiße aussehen wie ich und gleichzeitig schon seit 30 Jahren wissen, wie die Welt tickt. Die kennen den Kapitalismus und die sozialdemokratischen Verräter. Das ist keine suchende, keine neugierige Partei mehr und gleichzeitig, wenn zehn zusammen kommen, haben die zehn verschiedene politische Vergangenheiten in den verschiedenen linksradikalen Konventiteln. Und das ist für ein Bündnis eine schwierige Geschichte. In einem, wie sagt man immer m der wichtigsten Industrieunternehmen der Welt. Gleichzeitig ist das für die Sozialdemokraten nicht anders. In den letzten Jahren haben die Sozialdemokraten ihre grundsätzliche Philosophie oder auch Perspektive in einer ungeheuren, tollkühnen Aktion geändert. Ich bin mir aber doch sicher, dass ein durchschnittlicher Netzwerkdemokrat wirklich nicht weiß, was er denken soll und denken darf. Das weiß der nicht. Und das ist ein Teil der Verwirrung, die mich in der Tat ein wenig traurig und depressiv gemacht hat, dass man reflexhaft seit dem September gesagt hat, jetzt kommt wieder das sozialdemokratische Thema zurück, nämlich der Staat. Ein Triumph der Linken, dass auf einmal der Staat wieder da ist. Und da habe ich mich gefragt, warum ist das in den letzten 30 Jahren nicht wirklich weitergekommen. Wir haben in der industriegesellschaftichen Moderne seit Mitte des 19. Jhts. wahrscheinlich drei große Crashmomente gehabt. 1873 ff, 1923, 1929 ff. Immer ist in dem Moment der Staat zurückgekommen. Die Dresdner Bank wurde 1932 auch schon verstaatlicht und der Staat hat eine Riesenrolle gespielt, nur in den Momenten, wo der Staat zurückgekommen war, war das nicht der Anbruch der Linken oder der Sozialdemokraten, sondern eben ab 1873, was Sie alles unter Bismarck kennen, ab 1923 auch und ab 1932 ff kennen Sie es erst recht. Die Krise. Warum profitieren davon eigentlich nicht auch mal die Linken? Um es zugespitzt zu sagen, natürlich ist die Linke eigentlich Produkt und Gewinner von den Schönwetterzeiten. Wenn die Wachstumsraten üppig sind, dann kann man auch Umverteilungsfragen und andere Sachen aufstellen, aber wenn es auf einmal Krise ist, ist alles ganz anders.

Wenn man sich, und das hat mich dann auf dem Balkon noch viel mehr beschäftigt, Krisen europaweit anguckt, dann gibt es eigentlich ein Gesetz, zumindest eine Regel, die man beobachten kann: Wenn eine Krise wirklich viele Jahre dauert, es enorme Wachstumsprobleme gibt und sogar möglicherweise eine Inflation. Inflation ist so ziemlich das Schlimmste, weil es die deutsche oder europäische Mitte völlig um ihren zivilen Verstand bringt. Und insofern ist das erste, das man sich sicher sein kann, innerhalb der politischen Kultur, dass es einen großen Entliberalisierungsschub gibt. Es wachsen irgendwelche neurotischen Ideen von den verschiedensten Gruppen, Rechthaberei, Ventile… Es ist in der Regel jedenfalls der Moment, in dem die halbwegs gezähmte gesellschaftliche Mitte gefährlich wird. Und das ist ein Thema, das nicht alleine mit Rot-Rot-Grün zu beantworten ist.

Hier der Redebeitrag als PDF

Mitschrift: Marlene Giese

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kommentare

  • Ob Krise oder nicht, festzustehen scheint bei allen Polit-Projekten doch am Ende nur: „Es soll sich etwas verändern, ohne das sich was verändert“. Anders ausgedrückt, beabsichtigen fast sämtliche Polit-Projekte doch nicht (es gibt nur wenige die glaubhaft und ernsthaft genug, etwas konsequentes wollen), die etablierten Machtverhältnisse aufzuheben, um Demokratie tatsächlich umzusetzen. Maximal wollen sie etwas am Verteilungsschlüssel von Macht un Geld drehen, ohne dabei die tatsächlichen Verhältnisse zum „wohle der Menschen“ nachhaltig zu verändern.
    Denn würde dies durch die Polit-Modelle tatsächlich gewollt,
    wären sie die ersten, die aus dem Weg geräumt würden, von denen die meist solche Polit-Projekte finanzieren.

    Die Nachfrageorientierten, auf industrieelle Massenproduktion ausgerichtete Gesellschaftssysteme unserer Zeit, haben ihre Halbwertzeit bei weitem überschritten.
    Denn weder berücksichtigen sie Ökologie, noch Menschenrechte. Sie sind auch nicht im mindesten fair, den Profitabsicht und Fairness passen nicht zusammen.

    Wie die derzeitige Krise mehr als deutlich belegt, funktionieren sie aber immer noch so gut, das ihre Machtstrukturen kaum wackeln. Notfalls hetzt man das Militär auf die Menschen, wenn Gefahr für die Geldmacht besteht.
    Solange keine Polit-Projekte entstehen, die von Menschen gemacht sind, die tatsächlich bereit sind, bis zum äußersten zu gehen und es dabei aber schaffen, eine große Anzahl von Mitstreitern sowie Unterstützern zu finden, um mit großer
    Konsequenz die Entmachtung der Geldeliten zu betreiben, werden wir weiterhin in einer Weltgesellschaft leben, die sich unfrei fühlt, die unfrei ist, weil sie am goldenen Strick des Kapitals hängt.

    Letztendlich hängt es davon ab, wieviele Menschen mit innerer Überzeugung sich zusammenfinden, um entschlossen zu handeln.
    Wer die bestehenden Machtverhältnisse nachhaltig ändern will, wird alle, die derzeitig davon zu profitieren scheinen, als Gegner vor sich haben und er kann nicht einmal sicher sein, ob diese nicht aus den eigenen Reihen stammen.

    Jedenfalls werden die im Bundestag vertretenen Polit-Projekte in keinsterweise etwas für die Menschen tun, die sie wählen. Sie werden sie nur soweit berücksichtigen, wie sie deren Legitimation benötigen, um als demokratisch gewählt zu erscheinen. Aber niemand kann sicher sein, dass sie darauf irgendwann verzichten.

  • Verehrter Herr Walter,
    Die Linke hörte m. E. nach dem August 1914 als massenwirksame, eigenständige politische Kraft zu bestehen auf. Nach der nicht nur von deutschen herrschenden Eliten entfesselten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zogen vornehmlich rechte Sozialdemokraten in Deutschland den Karren aus dem Dreck und retteten die alt bewährten Herrschaftsverhältnisse, wobei zumeist linkes Arbeiterblut auch an ihren Händen kleben blieb. Ähnliches passierte nach der zweiten, diesmal hauptsächlich von deutschen herrschenden Eliten mit herbeigeführten Weltkatastrophe wenigstens in den ersten Nachkriegsjahren, weil Sozialdemokraten und Kommunisten am wenigstens nazistisch belastet waren. Im Nachkriegsberlin und späteren West-Berlin, wo die Herausforderungen der Krise am größten waren, blieben rechte Sozialdemokraten in 35 Nachkriegsjahren die politischen Hauptkrisenbewältiger. Nur weil Willy Brandt in seiner Jugend linksfreiheitliche Ideen vertrat und ihn auch linke Sozialdemokraten nach dem politischen Wachwechsel vom Herbst 1969 ff unterstützten, kann man die sozialliberale Koalition nicht als ein linkes Politikprojekt kennzeichen. Damit würde man Karl Schiller und Helmut Schmidt wohl großes Unrecht antun. Die Ironie der Geschichte wollte es denn auch, dass die Brandtschen Reformen, selbstverständlich von ihm und seinesgleichen ungewollt, allmählich die Totenglocken des Fordismus weltweit einläuten. Beim jetzt neu entstandenen Linksprojekt stimmt das, was draußen dran steht, nicht mit dem überein, was mehrheitlich drin steckt. Wenn das anders wäre, täte es der Demokratie in der Mitte Europas gut. Ansonsten gute Nacht.
    Freundliche Grüße
    Rudolf Reddig

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