vonhausblog 23.02.2014

taz Hausblog

Wie tickt die taz? Das Blog aus der und über die taz mit Einblicken, Kontroversen und aktuellen Entwicklungen.

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BhKpPyGIgAE_v76.jpg:largeSeit der Gründung der taz im Jahr 1978 ist Verlagsgeschäftsführer Karl-Heinz Ruch (im Bild oben) für die Finanzen zuständig. Jetzt wird er 60. Es gratulieren die 19 Chefredakteure und stellvertretenden Chefredakteure (unten), die ihn ertragen mussten.

Thomas Hartmann, Gründungsmitglied der taz; erster Chefredakteur, damals verschämt „Freigestellter“ genannt, vom Herbst 1984 bis Ostern 1987:

Wir kennen uns jetzt seit 36 Jahren, Kalle, mehr als die Hälfte unseres Lebens.

In der Gründungszeit der taz waren wir nicht immer derselben Meinung. Aber das habe ich dann auch gesagt, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Und bei einem der wichtigsten Streitpunkte, externer Investor oder Aufbau einer eigenen finanziellen Basis über eine taz-Genossenschaft, hast du den kreativen Weg gewählt, den ich damals für nicht realistisch hielt. Und du hast recht bekommen.

Jede und jeder in der taz weiß, dass du ein Schlitzohr sein kannst (aber das haben ich und andere auch schon oft gesagt), schon weil die Mischung aus deiner festen Verankerung in den zentralen taz-Gremien (wenn das keine Erfolgsstory ist: seit 35 Jahren an der Spitze eines Unternehmens, über Dutzende von Gesellschaft-Konstruktionen hinweg und trotz erheblicher innerer Turbulenzen) und deinem Stil, eher still im Hintergrund zu wirken und beharrlich deine Ziele zu verfolgen, wenig Transparenz aufkommen lässt. Da hat es schon viel Geheul gegeben.

Allerdings hat sich einiges verbessert im Laufe der Jahre. Als ich vor sechs Jahren wieder zurück zur taz kam, ist mir schnell als wohltuend aufgefallen: Inzwischen sind in der taz funktionale innere Strukturen aufgebaut, die zudem Kreativität zulassen. Doch durch die Finanzen – vor allem deren versteckten Potenziale – blicken die (weitaus meisten) taz-Mitarbeiter auch heute nicht durch. Das ist vor allem deine Spielwiese, bleibt deine Machtbasis.

Weil du dein Wirken nicht an die große Glocke hängst, bleibt deine Offenheit für kreative, neue Ansätze und Ideen eher unbemerkt. So weiß kaum jemand, dass es dir zu verdanken ist, dass die taz in Berlin (statt in Frankfurt/M.) erscheinen konnte: Gemeinsam mit Gudrun K., Heiner K. und Dieter M. hast du im Herbst 1978 einen nationalen Vertriebsweg von Berlin aus für die taz ausgetüftelt.

Damals, vor der elektronischen Zeit, schien es schier unmöglich, eine Tageszeitung ausgerechnet von der Insel Westberlin aus in die gesamte Bundesrepublik zu vertreiben (und die Besserwisser der Branche höhnten schon deshalb: alles unprofessionell). Für dich aber war damals klar: Weil deine Frau als Lehrerin das Land nicht wechseln wollte oder konnte, gab es für dich in der taz nur eine Zukunft, wenn diese in Berlin entsteht. Also habt ihr euch hingesetzt und gegen alle Erwartung der Frankfurter taz-Initiative einen Weg gefunden – inklusive einiger unkonventioneller Komponenten: Redaktionsschluss war am Anfang so gegen 12.30 Uhr, und damit es nicht noch eine Stunde früher sein muss, wurden die Druckvorlagen, die täglich nach Frankfurt mussten, das ganze erste Jahr 1979/80 von einem anderen taz-Mitarbeiter als Handgepäck in den Flieger mitgenommen – da reichte es, 10 oder manchmal auch nur 5 Minuten vor Abflug am Tegeler Flughafen zu sein.

Inzwischen ist der taz-Verlag mit seinen verzweigten Angeboten mehr als ein Zeitungsverlag, er managt die Marke „taz“ und entwickelt sich dank der Bereitschaft, immer wieder Neues auszuprobieren. Diese kreativen Spielräume gerade im Verlagsbereich sind inzwischen vielleicht die wichtigste Eigenart der taz – nachdem sie auf der redaktionellen Ebene immer mehr ihre frühere politisch-engagierte Besonderheit verliert, seitdem Lifestyle die Zeitung für neue Leserschichten öffnen soll, aber leider in Überdosis verabreicht wird. Allerdings ist die Welt kompliziert: Du bist leider auch dieser Entwicklung gegenüber zu offen. Aber das habe ich dir auch schon gesagt. Vielleicht wäre es wirkungsvoller, wenn du häufiger bei taz-Reisen mitfährst und dann Reisenden gegenüberstehst, die als jahrzehntelang treue taz-LeserInnen über die Beliebigkeit und uninteressante Themenwahl der Sonntaz klagen.

Jedenfalls: Ihr Überleben als besonderes Medium verdankt die taz dem Verlag, nicht (mehr) der Redaktion. Und das ist nicht zuletzt dein Verdienst. Musste dies mal gesagt werden?

Georgia Tornow, taz-Wirtschaft seit 1986, taz-Redaktionsleitung vom 8.8.88 bis November 91:

In der taz saß ich zuerst im Glaskasten. Und irgendwie blieb das auch so. Der Glaskasten war in der Wattstraße ins Zimmerchen der Frauenredaktion hineingebaut worden – hier saß ab Herbst 1986 die Supernova „Wirtschaftsredaktion“. Später zogen Uli Kulke und ich in einen anderen Glaskasten – der lag auf dem speedway zu Satz & Layout. Und zuletzt saß ich im Glaskasten der Redaktionsleitung in der – damals noch – Kochstraße.

Wirtschaft, das war kein „Bewegungs“-Thema. Da konnte nicht automatisch jede/r eine Meinung haben wie bei Ökologie, 1. Mai oder RAF-Hungerstreik. Wirtschaft, das war für Uli und mich die Beschäftigung mit verdammt harten Fakten und verdammt raffinierten Methoden. Für Kalle auch.

Für mich war der Geschäftsführer der taz einer der wenigen „Versteher“ – nein, kein Frauen-Versteher, ein Wirtschaftsversteher. Eigentlich hätte das die Basis für eine wunderbare Freundschaft sein können. Zumindest Komplizenschaft wäre drin gewesen. Aber Kalle komplizte nicht innerhalb der taz. Kalle hatte Berater außerhalb der taz, mit denen er die tollsten Deals einstielte: den Kauf der Kochstraße, die Initiierung der Ost-taz, die Genossenschaft … ja, das waren Erfolge, das hat sich ausgezahlt! Und das zählt bei Unternehmen.

Ich schaffte den Bewährunsgaufstieg bei Kalle nur bis zur Ebene „temporärer Bündnispartner“, als es um die Installation einer Leitungsebene ging und ich als einzige Person das komplizierte Wahlrecht überlebte. Redaktionsleitung und Verlagsleitung saßen dann oft zusammen. Und ich lernte: dass die Empörungen und scharfkantigen Differenzen der Redaktion zum größeren Teil Schall und Rauch waren, während die Verlagsseite immer die Sachzwänge auf ihrer Seite hatte – und niemand konnte die so virtuos und unauffällig in seinem Sinne interpretieren wie Kalle. Ich lernte auch, dass das Schlagwort „Professionalisierung“ dort seine Grenze findet, wo die echte Macht sitzt. Ich stieg aus, als die nächste Sparmaßnahme des Verlags erhebliche Redaktionsstellen streichen sollte – Leute, man kann auch Frauen ent-eiern WOLLEN!

Inzwischen hat Kalle eine Genossenschaft neuen Typs geschaffen – das war via „normativer Kraft des Faktischen“ ein historischer Sieg, und das ist immer noch für die taz die Überlebensstrategie in einer Medienlandschaft voller Dramen.

Mein erster Kommentar auf der Wirtschaftsseite der taz beleuchtete die Übernahme der US-Firma Celanese durch den Hoechst-Konzern – die Amerikaner hatten für ihre Firma total trickreich den Kurs hochgetrieben, und ich wünschte dem Management „Happy Bermudas!“ Bei aller notwendigen Trennschärfe, Wirtschaft bleibt Wirtschaft, und auch Mittelständler brauchen und haben ihre Tricks. In diesem Sinne, lieber Kalle, herzlichen Glückwunsch zum 60. Und: Happy Usedom!

Andreas Rostek, 1990 bis 1991 Redaktionsleitung:

Es ist leicht gesagt, heute: Ich fand Kalle immer schwer erträglich, damals, wegen der Zahlen. Ich habe sie ihm selten geglaubt, ich fand, der kocht doch sein Süppchen, auf diesen Zahlen, und das sollte so ganz anders aussehen als die tolle, klare Kloßbrühe, die so groß auf dem deutschen, ach was, auf dem europäischen Markt herauskommen sollte. Ich war damals Ende 1991 gegen das auch von Kalle betriebene Vorhaben, aus der taz eine Genossenschaft zu machen. Wollten wir doch – ich, wie eine Handvoll anderer RedakteurInnen – den großen Wurf, das große Geld, die große Zeitung, in einer Spielklasse mit La Repubblica, Le Monde, Guardian, El País. Und was wollten Kalle und die Seinen: klein bleiben (dachten wir damals).

Heute ist es, wie gesagt, ganz einfach: Kalle hatte recht. Unsere tolle große europäische taz gäbe es schon lang nicht mehr (wäre sie denn je Wirklichkeit geworden) – die taz als Genossenschaft aber blüht und gedeiht (mehr oder weniger), sie hat noch die alten Unterstützer, und sie hat neue Leser und neue Macher. Und sie baut ein neues Haus. Das heißt: Kalle baut ein neues Haus. Für die taz. Na bitte.

Recht gehabt. Recht gehabt wie in so vielem.

Dabei, was war das für ein stiller Junge, noch früher, damals zu Beginn der taz, ja, ein Jungengesicht, das das geschäftsführende Gesicht der taz wurde. Was wollte er eigentlich damals, wusste man’s, weiß man’s? Nein. Zu den Linksradikalen innerhalb der linken taz konnte er doch kaum gezählt werden, auch nicht zu den Gewerkschaftsfreunden oder den Immer-noch-Kommunisten oder den Spontis oder Feministen oder bedeutungsschwangeren Beobachtern der klandestinen Szene. Kalle doch nicht. Kalle achtete auf die Zahlen. Nahezu unerträglich für Spontis wie Feministinnen wie (fast) alle anderen. Und unerlässlich für das Überleben der Zeitung. Er machte aus dem Unternehmen taz eine andauernde Lehranstalt in Sachen Zahl. Und benutzte die natürlich. Für seine Ziele, wenn das denn andere waren, als die Zeitung weiterhin am Leben zu halten.

Dabei habe ich ihm sie selten geglaubt, seine Zahlen. Wahrscheinlich stimmten sie auch nicht. Wahrscheinlich stimmen sie auch heute nicht, jedenfalls die eine nicht – die Zahl 60. Ich habe ihn vor Kurzem mal wieder gesehen: nie und nimmer stimmt das mit der Zahl 60. So jung, wie der immer noch aussieht. Aber für welchen Geburtstag mit welcher Zahl auch immer:

Herzlichen Glückwunsch, Kalle.

Michael Sontheimer, Chefredaktion 1992 bis 1994:

An einem Samstag im Frühjahr 1978 versammelten wir uns im Seminar-Raum des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität in Berlin-Dahlem. Wir waren gut zwanzig Linksradikale, wir gründeten eine Initiative für eine linke Tageszeitung und begannen mit einer Vorstellungsrunde. Die Reihe kam an einen Mann mit langen blonden Haaren und Brille, der an der Längsseite des Tisches in der Mitte saß. „Ich heiße Kalle und studiere Volkswirtschaft“, sagte er mit einer leicht brüchigen Stimme: „Ich interessiere mich nicht so für die Redaktion, sondern für die finanzielle Seite des Projekts.“

Damit war Kalle ein krasser Außenseiter in der Runde, denn alle anderen wollten mit der Zeitung soziale Bewegungen voranbringen, Debatten innerhalb der Linken initiieren, wenn nicht gleich die Revolution herbeischreiben. Wir kannten das Diktum von Karl Marx „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, doch wir waren auf die Ideen fixiert und ignorierten die ökonomische Basis. Kalle nicht. Damit hatte er eine entscheidende Lücke entdeckt und er schickte sich bald an, sie zu füllen.

Mehr als 35 Jahre lang ist Kalle nun Geschäftsführer der taz: Das ist ein Ausmaß an Ausdauer und Kontinuität, das ebenswo bewundernswert wie furchteinflößend ist. Er hat alle in der taz überlebt. Die Redakteure und Chefredakteurinnen kommen und gehen, Kalle bleibt bestehen. Er hat nicht zuletzt so lange durchgehalten, weil er sich nicht von der taz hat völlig auffressen lassen. Geholfen haben ihm dabei auch seine drei Kinder, die er ordentlich großgezogen hat.

Kalle macht durchaus den Eindruck, als ob er über die Jahrzehnte eine milde, insgeheime Verachtung für Journalisten entwickelt hätte – zu viele Narzissten und Mietgehirne hat er in der Redaktion kommen und gehen sehen. Aber er macht auch bei einer ganzen Reihe eine Ausnahme.

Einer, der die Nerven hatte, über Jahre mit einem Bein im Knast zu stehen, wegen Konkursverschleppung, braucht eine stoische Natur. Zu der gehört eine gewisse Undurchschaubarkeit und Unnahbarkeit. Der Tiefpunkt meiner persönlichen Beziehung mit Kalle war der, als er mir im April 1994 den Beschluss meiner Abberufung als Chefredakteur schnell mal an der Straßenecke in die Hand drücken wollte. Er ließ sich dann doch auf eine Tasse Tee in meine zwei Häuser weiter gelegene Wohnung hochbitten. Ein Ausbund an Charme war und ist Kalle nicht gerade.

Aber in der insgesamt ziemlich großartigen Geschichte der taz sind solche Erlebnisse zu vernachlässigende Petitessen. Viel wichtiger ist: Bei allen großen, richtungsweisenden Entscheidungen lag Kalle richtig: Zunächst beim Start des Blattes im Subventionsparadies West-Berlin statt in Frankfurt am Main; später, von Christian Ströbele und Johnny Eisenberg diskret beraten, beim Kauf des taz-Sitzes in der Kochstraße – und jetzt wieder beim Bauprojekt in der Friedrichstraße; vor allem aber bei der Gründung der Genossenschaft und später auch der taz Panter Stiftung.

Als Schreiber kann ich Geschäftsführer nicht qualifiziert beurteilen, doch Zeitgenossen, die besser wissen, worauf es bei Verlegern ankommt, schätzen Kalle; Karl-Dietrich Seikel zum Beispiel, lange Jahre Geschäftsführer des Spiegel.

Wie gesagt: Bei allen richtungsweisenden Entscheidungen über das Schicksal der taz lag Kalle richtig. Sechzig zu werden ist keine Kunst, aber in dieser Zeit so viel richtig gemacht zu haben, ist es schon. Alle Achtung. Darauf könnte und sollte er ein wenig stolz sein – auch wenn er das nicht nach außen zeigen würde. Respekt, Kalle!

Elke Schmitter, Chefredaktion 1992 bis 1994:

Die ENIGMA (griechisch ainigma, „Rätsel“) ist eine Rotor-Schlüsselmaschine, die im Zweiten Weltkrieg zur Verschlüsselung des Nachrichtenverkehrs des deutschen Militärs verwendet wurde. Als Erfinder der ENIGMA gilt der promovierte deutsche Elektroingenieur Arthur Scherbius (1878-1929), dessen erstes Patent hierzu vom 23. Februar 1918 stammt (siehe auch: ENIGMA-Patente). Zur Fertigung der Maschine wurde am 9. Juli 1923 die Chiffriermaschinen-Aktiengesellschaft in Berlin (W 35, Steglitzer Str. 2) gegründet.“ (Wikipedia)

Die zweite Berliner ENIGMA ging am 17. April 1979 in Berlin (West) an den Start. Sie wurde eingesetzt, um journalistische, gruppendynamische und politische Sachverhalte in Zahlen und Dokumente zu verschlüsseln, deren Verständnis und Interpretation einem kleinen Kreis nicht promovierter deutscher Mitarbeiter der „tageszeitung“ obliegt. Unter dem Codenamen Karl-Heinz („Kalle“) Ruch arbeitet sie seit ihrem ersten Einsatz fehlerfrei, zuverlässig und mit bescheidenem Wartungsaufwand. Sie produziert Tabellen und Jahresabschlüsse sowie Kreditrahmenverträge, stellte in der Vergangenheit auch ohne Reibungsverluste zwischen unterschiedlichen Währungen Abgleichungen her und initiiert in unregelmäßigen Abständen alternative Entscheidungssituationen durch die eineindeutige Präsentation von Daten. Im paradoxen Gegensatz zur soziologischen Theorie Luhmanns handelt es sich hier um ein System ohne Außenwelt, das diese allerdings zyklisch in Erschütterung bringt, bis ein neuer stabiler Zustand erreicht ist.

Wie bei Verschlüsselungsmaschinen unvermeidlich, ist für Nichteingeweihte unerkennbar, ob die ENIGMA mehr Probleme löst, als sie schafft. Notwendigkeit und Unersetzlichkeit sind Grundeigenschaften ihrer Existenz, vergleichbar dem Geheimdienst eines demokratischen Staates, dessen Vorhandensein seine Notwendigkeit belegt und dessen Abschaffung Probleme nach sich ziehen würde, die wiederum nur vom Geheimdienst selber einschätzbar sind. Eine Welt ohne ENIGMA ist daher denkbar, aber nicht herstellbar, vergleichbar der Einsicht Loriots über die Rasse der Molosser: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Lieber Kalle,

ich verdanke Dir viele Stunden des Staunens, was ja an und für sich ein erfreulicher geistiger Zustand ist, da er die Langeweile, die aus Gewissheit entsteht, zuverlässig zunichte macht. Manchmal würde ich gern wissen, ob Du auch hin und wieder über die merkwürdigen Menschen um Dich herum staunst. Dann wieder denke ich mir, dass vielleicht gar nicht Du das Rätsel bist, sondern nur Dein Dasein im taz-Kollektiv. In einem Ministerium, z. B. für Wirtschaft, in einer Steuerbehörde, in einem juristischen Gremium wäre Deine Weise, in der Welt zu sein und sie bei ihrem Scheitern zu begleiten, vermutlich gar nicht exotisch, sondern beispielsweise die Schreiberin dieser Zeilen – die Dir von Herzen gratuliert und hofft, dass ENIGMA noch viele Jahre das unerschütterliche Zentrum einer Zeitung bildet, deren vornehmste Eigenschaft die Erschütterbarkeit ihrer JournalistInnen ist.

Jürgen Gottschlich, stellvertretender Chefredakteur 1992 bis 1994:

Ich erinnere mich dunkel an erste Treffen von taz-Vorbereitungsgruppen 1978 in Berlin. In einem Schülerladen in Charlottenburg trafen sich die Leute, die zukünftig gerne über Soziales, Gewerkschaften und Wirtschaft schreiben wollten. Unsere Erfahrungen mit dem Zeitungmachen waren sehr überschaubar, aber wir hatten starke Meinungen.

Um mit dem Zeitungmachen trotzdem voranzukommen, trafen wir uns so ungefähr einmal im Vierteljahr, meistens in Frankfurt, um sogenannte Null-Nummern zu produzieren, deren Herstellung zumeist weit länger als einen Tag dauerten und mit denen wir unseren zukünftigen Lesern zeigen wollten, was demnächst so täglich auf dem Tisch liegen sollte.

Dabei stellte sich natürlich schnell heraus, dass zum Zeitungmachen mehr als eine starke Meinung und eine Schreibmaschine gehörten -, es gab tatsächlich noch keine Computer – sondern auch eine Menge technischer Sachverstand, um aus ein paar vollgetippten DIN-A4- Seiten eine Zeitung zu machen.

Dass man zum Zeitungmachen auch Geld braucht, war natürlich auch jedem klar – das war schließlich einer der Hauptgründe, warum die taz dann nicht in Frankfurt, sondern in Berlin entstand: Weil es damals noch Berlin-Subventionen für Firmen gab, die sich in der Frontstadt ansiedelten. Aber es fehlte zunächst die Einsicht, dass jemand sich speziell um die Einnahmen und Ausgaben im Konkreten kümmern muss, so buchhaltermäßig eben. Da in unserer Gruppe „Wirtschaft & Soziales“ am ehesten Leute vermutet wurden, die davon Ahnung hatten, sollten wir uns darum kümmern, und recht schnell rückte da plötzlich ein relativ zurückhaltender, eher stiller Student in den Fokus, der auf den Namen Kalle Ruch hörte.

Kalle war damals Volkswirtschaftsstudent – vielleicht sogar Betriebswirtschaft, ich weiß es nicht mehr so genau – jedenfalls jemand, der sich vielleicht um diesen lästigen Bereich der Geldverwaltung kümmern konnte. Von dem, was die taz heute unter Geschäftsführung versteht, war damals noch keine Rede. Mit Macht und Einfluss schien der Posten auch nicht verbunden, und dass irgendjemand ihn für einen längeren Zeitraum übernehmen würde, war auch kaum denkbar – schließlich hatte man dann ja weniger Zeit zum Schreiben, und darum ging es ja schließlich beim Zeitungmachen.

Kalle hatte dann diesen blöden Job, sich um Mietverträge zu kümmern, Konten einzurichten und dafür zu sorgen, dass die Berlin-Subventionen auch tatsächlich auf einem taz-Konto ankamen. Trotzdem reichte das Geld natürlich nie, und Kalles wenig erfreuliche Aufgabe war es dann auch, bei jedem Treffen darauf hinzuweisen, dass kein Geld da ist und wir uns deshalb keine Löhne auszahlen können – weil nach den absolut notwendigen Fixkosten eben alles weg war.

Dafür durfte er sich dann regelmäßig am Brainstorming für die nächste Rettungskampagne beteiligen – an denen dann aber natürlich alle tazler beteiligt wurden.

In diesen ersten zehn Jahren, als die taz noch ein Verein und eine Chefredaktion völlig verpönt war und deshalb auch nicht existierte und die taz täglich um ihre Existenz kämpfte, wurde Kalle zum Geschäftsführer gestählt. Klar, dass ihn später kein Konflikt mehr umhauen konnte und keine Chefredaktion ihm – jedenfalls, soweit es ums Geld ging – jemals das Wasser reichen konnte. Schon erstaunlich, wie der stille Student von 1978 zur zentralen Figur der taz werden konnte, obwohl ihn damals und auch noch lange danach niemand in dieser Rolle gesehen hat.

Arno Widmann, Chefredakteur 1994 bis 1995:

Als ich Kalle in den ersten Sitzungen der taz in der Wattstraße kennenlernte, war er blass, blond und viel zu jung. Er war Geschäftsführer. Er sagte nichts und er machte nichts. Jedenfalls nichts, das ich wahrgenommen hätte. Allerdings war mir schon damals klar, dass eine Geschäftsführung, von der die Redaktion, weil alles glattgeht, nichts merkt, eine gute, eine sehr gute Geschäftsführung ist. Bei Vollversammlungen war Kalle, den ich immer noch nicht kannte, von Anfang bis Schluss dabei. Ohne ein Wort zu sagen. Während wir Pseudo-Alphatiere uns gewaltige Redeschlachten lieferten. Später beobachtete ich ihn, wie er die taz rettete, indem er das Haus in der Kochstraße kaufte. Ohne basisdemokratische Absicherung. Dann war er dabei, mit der Ost-taz eine Million Mark – oder waren es gar mehrere? – in die Kassen der taz zu spülen. Kalle war immer noch blass, blond und sah viel zu jung aus. Ich kannte ihn immer noch nicht. Aber ich hatte gelernt, ihn zu bewundern. Das mache ich bis heute. Jetzt ist er, das wahre Alphatier der taz, sechzig, Ist immer noch blass, blond und sieht viel zu jung aus. Ach Kalle, ich hätte Dich gerne kennengelernt! Alles Gute für die nächsten Jahrzehnte! Arno Widmann

Norbert Thomma alias Herr Thömmes, Chefredaktion 95/96:

Andrei Andrejewitsch Gromyko hat sie alle überlebt. Die stalinistischen Gräuel, vier KPDSU-Chefs, jede Menge dramatischer politischer Wendungen; von Chruschtschow bis Gorbatschow diente er geschmeidig als Außenminister der Sowjetunion – fast 30 Jahre lang.

Auch Joseph Fouché war ein Meister des political survival. Antiklerikaler, Mordbengel der französischen Revolution, Intrigant, Polizeiminister Napoleons, Monarchist – er starb tatsächlich eines natürlichen Todes.

Und nun Kalle Ruch. Wen sah man an diesem Felsen des Stoizismus nicht alles zerschellen? Fundis, Legastheniker, Stadtindianer, Kiffer, Autonome, Feministinnen, Fernsehhasser, Veganer, Soli-Gruppen, Waffenspender, Hausbesetzer, Stasispitzel, Revolutionsträumer, Kapitalisierer, Bombenleger, Autozündler, Christen, Steuerfahnder, Atomkraftgegner, Klimaleugner, Leitartikler, Schaumschläger, Nudisten, Comiczeichner, Chefredakteure, Gottgläubige, Heulsusen, Kantinenköche, Schwarzfahrer, Traumtänzer, Korinthenkacker, Polizisten, Feuilletonisten, Schlauberger, Hypochonder, Terroristen, Pazifisten, Castorblockierer, Realos Sie alle kamen in die „taz“ – und gingen wieder. Einer blieb. Länger als Gromyko. Beachtliche Leistung. Hut ab! Norbert Thomma

Arno Luik, Chefredaktion 1995 bis 1996:

Es gibt zwei Dinge, an denen Kalle schuld ist, nämlich

1. AN DER ÜBERFISCHUNG DER MEERE

2. AN DER (FORT-)EXISTENZ DER TAZ

Immense Schulden, drohender Konkurs, latente Untergangsverschleppung, lauter Dinge, die die taz seit ihrer Gründung begleiten, lauter Dinge, die normale Geschäftsführer in Angst und Schrecken versetzen und um den Schlaf bringen würden, nicht aber Kalle. Ihn haben diese Dinge nie erschüttert, obwohl er wahrscheinlich mehr als einmal wegen seiner grandios-genialen Finanztricks fast im Knast war. Aber ein Tag ohne Fisch? Gar zwei Tage ohne Fisch? Das würde Kalle erst wahnsinnig, dann grätig, schließlich handlungsunfähig machen. Was das heißt? Hände weg vom Fisch! Den kriegt Kalle! In diesem Sinne, lieber Kalle, herzlichen Glückwunsch!

Thomas Schmid, Chefredaktion 1995 bis 1996:

Lieber Kalle,

das größte Rätsel, was Du mir aufgegeben hast, war Dein Lächeln. Du hast es souverän in allen möglichen Situationen aufgesetzt. Drückte es Überlegenheit, Mitleid, leichten Spott oder einfach Verlegenheit aus? Ich weiß es nicht. Vielleicht kam es Dir einfach unkontrolliert über die Lippen. Andererseits hatte ich immer den Eindruck, dass Du alles unter Kontrolle hast, die Finanzen wie Dich gleichermaßen.

Als wir uns vor bald 35 Jahren kennenlernten, warst Du einfach der Büro-Chef, heute bist Du Geschäftsführer und virtueller Verleger. Aber Titel waren Dir vermutlich immer egal. Du hattest sie nie nötig. Einfach, weil Du – wenn es wirklich hart auf hart kam – ohnehin am Drücker warst. Legendär Dein Spruch, gefallen nach einer dieser endlosen Debatten, bei der eine qualifizierte Mehrheit eine Deiner Ansicht nach unqualifizierte Entscheidung traf: „Es ist völlig egal, was ihr beschließt – es ist sowieso kein Geld da.“ Du sagtest es mit einem enigmatischen Mona-Lisa-Lächeln.

Was ich bei allen nervenaufreibenden Querelen, die wir hatten, Dir zugutehalte, und Du hast es bestimmt oft gehört: Ohne Dich gäbe es die taz nicht mehr. Du bist vermutlich der Einzige, von dem man das mit Fug und Recht sagen kann. Manchmal war es Verstand, manchmal Intuition oder der Kuss einer Muse. Aber Du hast – vielleicht nach Nächten der Schlaflosigkeit, die Dir die Angst vor einem Konkursverschleppungsverfahren bereitet haben mag – oft zur richtigen Zeit die richtige Idee gehabt, wie die taz zu retten war. Und hast diese Idee dann auch noch gegen vielfältigen Widerstand durchgesetzt. Du warst Experte in Betriebswirtschaft, Du wurdest zum Experten in Gruppendynamik.

Du warst uns Journalisten – ob Tickerknecht oder Chefredakteur – immer überlegen, einfach weil Du von Texten mehr verstandest als wir von Zahlen. Du konntest uns gewissermaßen kontrollieren, wir Dich letztlich nicht. Du hast uns das netterweise nie in verletzender Weise zu verstehen gegeben. Du hast die Zahlen vorgestellt. Fragen hast Du geduldig beantwortet, oft mit einem freundlichen Lächeln – ein bisschen, wie man eben mit einem Kranken umgeht.

Du warst oft überzeugt, wie die taz zu retten war und welcher Weg sie in den Ruin treiben würde. Und wenn es drauf ankam, hast Du gekämpft – notfalls mit Taktiken, die Dir, das unterstelle ich nun einfach, selbst zuwider waren. Aber ich bin mir sicher, dass es Dir letztlich nie darum ging, Kollegen abzuschießen, sondern immer um das eine hehre Ziel, um die Zukunft der taz. Dafür mussten notfalls – salopp gesagt – auch Chefredakteure über die Klinge springen. Ich war nicht der einzige. Aber bei meiner Entlassung durch den faktisch von Dir geführten Vorstand hatte ich wenigstens eine Genugtuung. Mit einem Lächeln – ob es Überlegenheit, Kränkung oder einfach Verlegenheit ausdrückte, sei dahingestellt – überreichte ich Dir einen Kugelschreiber. Du hattest vergessen, die Kündigung zu unterschreiben.

Michael Rediske, Chefredaktion 1996 bis 1999:

Bildschirmfoto - 23.02.2014 - 20:31:10Am 18. November 1991 um 7.38 Uhr geht, so meldet tags darauf ein taz-intern, „der erste Telefax-Brief ein: H. F. aus Kassel zeichnet die erste Einlage.“ Zwei Tage zuvor hat der taz-Verein beschlossen, die Zeitung an eine neu zu gründende Genossenschaft zu übertragen. Eine Woche später haben bereits mehr als 1.000 LeserInnen die erste Million D-Mark Kapital zugesagt.

Eine Erfolgsgeschichte von Anfang an. So die offizielle Chronik. Wenige außer den Beteiligten erinnern sich vermutlich heute, dass harte Grabenkämpfe der Gründung der Genossenschaft vorangingen, dass die taz-Belegschaft vor dem Auseinanderbrechen stand, dass zwei Fraktionen sich wenn nicht bis aufs Messer, so doch mit Durchstechereien an Spiegel und FAZ bitterböse bekämpften.

Im ersten Halbjahr 1991 macht die taz eine halbe Million Mark Verlust, Überschuldung und Insolvenz standen unmittelbar bevor. Sie wären schon Realität gewesen, hätte nicht Kalle zwei Jahre zuvor den Kauf des Hauses Kochstraße 18 eingefädelt, das nach dem Fall der 100 Meter entfernten Mauer plötzlich das Doppelte wert war.

Die Mehrheit der Redaktion wehrte sich gegen seine Sanierungspläne (140 statt 200 Mitarbeiter), sie suchte den großen Investor, der uns mit 20 oder besser 30 Millionen retten und den Hunger-Einheitslohn von 1.500 Mark netto aufstocken sollte. Nur, der Investor zeigte sich nie – ob Augstein oder Reemtsma, keiner wollte sein Geld der tief zerstrittenen und defizitären taz anvertrauen. Kalle setzte auf eine andere Karte: viele kleine statt eines großen Geldgebers, und er knüpfte die Fäden: Aus einem ersten Besuch in Hamburg bei Olaf Scholz, damals Justiziar des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften, der Zuspruch und guten Rat beisteuerte, wurde eine Strategie.

Reden vor großem Publikum war ja nicht Kalles große Stärke. Als es zur Entscheidungsschlacht auf der Mitgliederversammlung des taz-Vereins kam, übernahm das Christian Ströbele: Nur das Genossenschaftsmodell sichere die Unabhängigkeit der taz, 7 bis 10 Millionen Mark könnten Geld gebende Genossen in den kommenden Jahren aufbringen. Viele von uns Redakteuren hatten zwar ihre Zweifel, aber das unausgegorene Investorenmodell flößte noch weniger Vertrauen ein.

Zu Recht, wie wir heute wissen. Siehe die verblichenen Titel Wochenpost, Woche, Frankfurter Rundschau, oder die heute noch schlingernde Pariser Libération. Denn Investoren verlieren ungern Geld, dafür aber irgendwann die Geduld, wenn die schwarze Null zu lange auf sich warten lässt.

Kalles Sieg auf der entscheidenden Versammlung des taz-Vereins fiel mit 132 gegen 58 Stimmen deutlich aus. Aber auch da pflegte er die vornehme Zurückhaltung des Geschäftsführers, der bis heute mehr als ein Dutzend Chefredakteure überlebt hat. Keine triumphierende Geste, nur eine nüchterner kleiner Kasten auf der Seite 3 unter seinem Namen: „taz an Leser verkauft“.

Kalle hatte wieder einmal auf das richtige Pferd gesetzt. Er wusste, dass die taz nie auf Dauer eine schwarze Null schreiben wird. Und dass der Aufbau einer Leser-Gemeinschaft (mittlerweile als community-building bekannt) am effektivsten die Existenz der kleinen, am Anzeigenmarkt nicht konkurrenzfähigen Zeitung sichern kann.

Klaudia Wick (geb. Brunst) war 1996 bis 1999 gemeinsam und gleichberechtigt mit Michael Rediske Chefredakteurin der taz:

Ich kann nicht beurteilen, wie es heute ist. Aber im Februar 1992, als ich zur taz kam, hatte Kalle Ruch in der taz einen Ruf wie ein Donnerhall: Soeben hatte sich das Genossenschaftsmodell durchgesetzt, ein schmerzhafter redaktioneller Exodus war die Folge gewesen. Der Verlust war überall spürbar. Einige meiner Kollegen meinten sogar, das sei das Ende der taz. (Und vielleicht waren die, die so schmerzlich vermisst wurden, ebenfalls dieser Meinung gewesen. Waren sie womöglich auch gegangen, um ihre Unabkömmlichkeit zu beweisen?)

Noch bevor ich Kalle Ruch persönlich kennenlernte, lernte ich den Drei-Wort-Satz kennen, mit dem er das Lamento auf den Redaktionsfluren quittierte: „Jeder ist ersetzbar.“

Es ist ein doppelbödiger Satz, von dem ich zunächst nur seine Unerbittlichkeit wahrnahm: Noch während meiner Probezeit schlitterte die taz in eine ihrer vielen Rettungskampagnen. Nicht mehr vom kollegialen Exodus, sondern vom drohenden Stellenabbau war auf den Fluren plötzlich die Rede. Ich selbst hatte die dunkle Ahnung, nach nur vier Wochen ziemlich ersetzbar zu sein. Wollte ich nicht gleich wieder rausgeschmissen werden, müsste ich unbedingt sofort unersetzbar werden. Nur wie?

Letztlich gab es dann natürlich keine Kündigungen, und ich bin sieben Jahre lang tazlerin gewesen. In dieser Zeit habe ich gelernt: Tatsächlich ist in der taz wirklich jeder ersetzbar. Kalle aber nicht. Und die, mit denen Kalle besonders gerne arbeitet, auch nicht. Man kann das für Despotismus halten oder Überlebenswillen nennen. In jedem Fall ist es menschlich.

Fakt ist: Kalles Satz stimmt. In Arbeitszusammenhängen ist es gefährlich, sich für unersetzbar zu halten. Es macht selbstgefällig. Ich habe vor allem in der Chefredaktion versucht, das möglichst nie zu vergessen. Sondern mich immer zu fragen: Was biete ich dem Laden? Und was bietet der Laden mir? Als ich beide Fragen nicht mehr beantworten konnte, bin ich zu Kalle gegangen und habe um meine Demission gebeten. Ich habe die taz 1999 ohne Groll verlassen. Und Kalles Satz wie eine Abfindung in mein Leben als Freiberuflerin mitgenommen. Der Satz nämlich ist ungemein nützlich und motivierend. Wenn man erst einmal beide Seiten begriffen hat.

Zu Kalles „Jeder ist ersetzbar“ gehörte nämlich auch sein „Aber auf dich will ich (noch) nicht verzichten.“ Es ist die verbindliche Seite dieses Satzes. Sie erzählt von Zuneigung und Treue. Manchmal sogar von Schwärmerei (ich habe das oft miterlebt, wie Kalle ins Schwärmen geriet, nenne hier aber natürlich keine Namen). Und wenn es vorbei ist, ist der Satz auch noch ein Trost: Das Leben geht weiter. Nicht nur für dich, auch für mich.

In der direkten Zusammenarbeit habe ich Kalle immer als verbindlich und worttreu erlebt. Ein verlässlicher Geschäftspartner, der Kosten und Nutzen der Zusammenarbeit bis zur Unhöflichkeit offen abwägt. Ich glaube, Kalle taugt nicht zum taz-Denkmal. Nicht einmal für ein alternatives. Es zeichnet sich doch eher eine zwar extrem erfolgreiche, aber eben doch nüchterne Arbeitsbiografie ab: Für die taz war es immer nützlicher, dass Kalle ihre Geschäfte führt, als dass er es nicht täte. Und für Kalle war und ist es offenbar immer noch schöner, sich mit wechselnden Zeitungskrisen herumzuschlagen, als es nicht zu tun. Das freut mich für beide Seiten.

Hermann-Josef Tenhagen, stellvertretender Chefredakteur 1996 bis 1998:

Lieber Kalle, Du Stoiker,

ich habe Dich in den vergangenen 24 Jahren in drei Rollen kennengelernt: Den bei Redakteuren eher unbeliebten, aber mächtigen Geschäftsführer Anfang der neunziger Jahre (der die extrem vernünftige Genossenschaftsgründung vorantrieb).

Den stoischen, in Prinzipienfragen unbeweglichen, im Alltag aber sehr flexiblen Geschäftsführer, mit dem ich es als stellvertretender Chefredakteur von 1996 bis 1998 zu tun hatte.

Und den Geschäftsführer und Vorstand des neuen Jahrtausends, mit dem ich seit meiner Wahl zum Aufsichtsrat  i m m e r  vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte.

Solche Rollen erlebt man, deshalb für jede eine kurze Anekdote. Die erste hat nichts mit der Genossenschaft zu tun, aber viel mit Deiner Rolle im Haus. Ich hatte Dich als Beschwerdeinstanz missbraucht, um mein Missfallen über einen Chefredakteur zum Ausdruck zu bringen, der aus nichtigem Grund eine Kollegin abmahnen ließ. Missfallen ist verharmlosend, ich habe herumgebrüllt. Missbraucht deshalb, weil ich dem Chefredakteur selbst damals die Meinung hätte sagen sollen. Du bist ruhig geblieben, hast zugehört, geändert hat sich nichts.

Die zweite Anekdote hat mit meiner chronischen Geldnot Mitte der neunziger Jahre zu tun. Geldnot war Dir als taz-Geschäftsführer ja durchaus vertraut. Du hast damals unbürokratisch eine Lösung gefunden, die mir Luft verschaffte und doch mit dem Gehaltsmodell vereinbar war. Prinzipientreu, aber flexibel.

Die dritte Anekdote bezieht sich auf Deinen Riesenanteil am Erfolg der taz. Wir alle kennen Deine Langzeitkurven – auch und gerade im Vergleich mit der Konkurrenz. Gebannt schauen wir auch im Aufsichtsrat auf die Auflagenkurven, die sich übereinandertürmen. Es gibt bei diesem Erfolg aber auch eine Kallekurve, die eigentlich noch viel bemerkenswerter ist. Das ist die Umsatzentwicklung unseres kleinen Genossenschaftskonzerns. Die weist nämlich beständig nach oben. Auf inzwischen über 26 Millionen Euro. Genau wie die Zahl der MitarbeiterInnen, auf über 210.

Welch große Leistung das für alle tazler und vor allem für Dich ist, habe ich z.B. vor wenigen Wochen beim Blick auf die Zahlen der einst gewaltigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesehen. Deren Umsatz ist nämlich von über 800 Millionen Euro im Jahr 2000 auf unter 300 Millionen im Jahr 2011 geschrumpft.

Kalle, Du musst nicht mehr die FAZ lesen. Unser Produkt, Dein Produkt ist wirtschaftlich erfolgreicher. Das muss hier mal gesagt werden. Und wir brauchen Dich, damit das so weitergeht!

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

Bascha Mika, Chefredakteurin 1998 bis 2009:

Die taz ist besetzt. Mal wieder. Als die RedakteurInnen morgens in der Rudi-Dutschke-Straße eintrudeln, stellen sie fest: Die Mäuse ihrer Computer sind geklaut. Einkassiert und gebunkert von einer handfesten Gruppe Studierender, die ein Propagandainstrument für ihren Streik an der Uni brauchen. Da bietet sich die kleine Zeitung doch geradezu an. Nicht nur politisch, auch praktisch. Ins taz-Gebäude kann übers Café jeder hereinspazieren; schräg gegenüber im Springer-Haus ist die flughafenähnliche Sicherheitsschleuse samt Wachpersonal deutlich schwerer zu überwinden.

Jedenfalls toben die BesetzerInnen durch die Redaktion, halten Plena ab, debattieren mit den tazlerInnen. Und dann versuchen sie, die Eingangstür zum Gebäude zu blockieren. Ich bin im Treppenhaus, höre den Lärm und laufe ins Erdgeschoss. Und da sehe ich Kalle, unseren Geschäftsführer – doch ich erkenne ihn kaum wieder. Er steht allein in einer aufgebrachten Menge junger Männer und geht körperlich ganz schön zur Sache. Setzt Schultern und Ellenbogen ein, drängt seine Gegner ab, zerrt sie weg, um die Eingangstür freizubekommen. Ich staune. Unser verhaltener Kalle – ein Straßenkämpfer. Und es macht ihm Spaß! Mir dämmert, dass er in seiner Vergangenheit noch etwas anderes getan haben muss, als die taz mitzugründen.

Wahrscheinlich hat er sich auch deshalb im Rauf und Runter, im Hin und Her der taz-Geschichte als ihr Schon-immer-Geschäftsführer behauptet. Und für das Überleben des Blattes gesorgt. Ohne Kalle – keine taz. Das ist ganz klar. Dabei sind Geschäftsführer in Zeitungen, das muss mal gesagt werden, grundsätzlich nicht zu beneiden. Schließlich haben sie es mit Redaktionen zu tun. Wer das Selbstbewusstsein, das gut entwickelte Ego und die ausgeprägte Streitlust vieler RedakteurInnen und deren ChefInnen kennt – da nehme ich mich keineswegs aus – weiß, wovon die Rede ist. Redaktionen lassen sich weder problemlos lenken noch leicht führen. Wenn sie gut sind.

Kalle zog daraus die Konsequenz, das erst gar nicht zu versuchen. Weil er die redaktionelle Freiheit enorm hochhält. Aber auch, weil er sich immer gern als Widerpart der Redaktion inszeniert. Und dazu gehört nun mal, wenig zu erklären. Tatsachen zu schaffen. Bereits in Zeiten, als die taz noch ein politisches Projekt war und basisdemokratisch regiert, konnte er aus jedem redaktionellen Überschwang mit einem Satz die Luft rauslassen: „Ihr könnt entscheiden, was ihr wollt, nur Geld gibt’s dafür nicht.“

Ist es da ein Wunder, dass es zwischen uns nicht selten richtig laut wurde? Besser gesagt, ich wurde irgendwann laut. Kalle tat meist ziemlich cool. Es gibt keinen Mann, mit dem ich mich – meinen Vater ausgenommen – so viel gestritten habe. Das hab ich Dir, lieber Kalle, oft genug um die Ohren geschlagen. Es ist ein Kompliment! Und kommt von Herzen!

Reiner Metzger war von 2004 bis 2014 stellv. Chefredakteur und ist dienstältester Vize-Chef der taz:

Der gute Deutsche ebenso wie der gute deutsche Linke beginnt alles mit einer Definition. Da geht es bei der taz-Geschäftsführung schon los: Sie steht der größten und natürlich sympathischsten WG des Landes vor. Aber als was? Es ist ja bis heute unklar, ob eher als Schamane, als Vermieter oder als Hausverwalter.

Jedenfalls nicht als Hausmeister. Dafür hat ein taz-Geschäftsführer seine Chefredaktion.

Also Kalle besser als Kalle definieren. Ist ja auch schon was. „Buschfeuer der Aufgeregtheiten“ wird dereinst die große taz-Biografie von Genosse Tom Wolfe übertitelt sein. Und Du hast manche der Aufregungsbrände selbst angezündet, oh Kalle! Da lachst Du dann hinterher dein taz-Lachen, wenn die Flammen im Konferenzraum lodern. Diesen kleinen Genuss brauchst Du offensichtlich ab und an, zum Regenerieren – vor allem der geistigen Hornhaut.

Die taz als solche geht ja immer weiter. Artikel werden geschrieben, die Zeitung erscheint dann doch. Denn wenn nix funktioniert, wenn eine Chefredaktion explodiert oder eine Geno-Versammlung entgleist, wenn irgendein interner Pipifax das taz-Kollektiv mehr empört als zehn Jahre Drohnenkrieg – so weit funktioniert die taz-WG verlässlich, die Zeitung geht vor.

Das ist so, und lässt sich auch super als Hebel einsetzen, als ultima tazio quasi.

Wozu also eine Definition? Der Laden ist eh, wie er ist. Am Ende bleibt ein Motto, vielleicht in Kreuzberger Pflastersteine gemeißelt vor dem Portal des kommenden taz-Quartiers:

Häuser kommen und ziehen, Chefredaktionen und Mitvorstände vergehen, Ruchs bestehen.

Thomas Eyerich, stellv. Chefredakteur 1999 bis 2004:

Lieber Kalle, vier Seiten – das ist schon was. Bekommt sonst nur ein neuer Krieg – wenn er in Europa ausbricht. Den zahlreichen Anekdoten und ultimativen Lobhudeleien muss ich nun keine Doubletten hinzufügen Alles Gute zum 60.

Peter Unfried war von 1999 bis 2009 stellv. Chefredakteur und ist heute Chefreporter der taz:

Als ich Mitte der 90er in die taz kam, waren da Michaela Schießl, Mariam Lau, Anita Kugler, Beate Seel und noch mindestens zwanzig weitere furchterregende politische Strategen, die jeweils ganz genau wussten, was richtig und was falsch war.

Es war vieles falsch, völlig richtig. Aber am fälschesten, am allerfälschesten war, was der Geschäftsführer Kalle Ruch sagte. Wenn er redete, fiel mir das zwar nicht auf, aber es war die demokratische oder sogar sozialistische Mehrheitsmeinung, was sollte man machen? Wenn Kalle sagte: „Leute, die Erde ist keine Scheibe“, dann sagten alle: „Ach, der Kalle. Was weiß denn der?“

Wenn ich heute in die taz komme, raunen die Leute ehrfurchtsvoll: „Hast du schon gehört? Kalle will den Linksverkehr in Deutschland einführen.“ Oder: „Kalle denkt über eine raketengetriebene Onlineausgabe nach“.

Das hat er nicht gesagt, das haben sie irgendwo über drei Ecken aufgeschnappt. Aber es klingt immer, als habe Gott gesprochen. Ich bin überzeugt: Wenn Kalle heute sagen würde, Leute, die Erde ist doch eine Scheibe, dann würden wir umdenken.

Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie er das hingekriegt hat.

Ich weiß nur: Während andere in den Sturmgewittern und Gewitterchen schnell müde wurden oder zynisch, hat er sich seinen Humor bewahrt und sogar noch Selbstironie entwickelt. Nach vielen Jahren wurde er sogar so unerschrocken, dass er den entscheidenden Schritt gehen konnte – hin zu einem wahren Unternehmensverantwortlichen, der innerhalb einer guten, aber komplizierten Unternehmenskultur aktiv die Zukunft der taz, ihrer Arbeitsplätze und damit auch die aller dahinterstehenden Menschen sichert.

Jedenfalls ist Kalle heute ein republikweit angesehener Medienmanager, ja geradezu ein solitärer Visionär. Das sagt sicher auch etwas über den Zustand der Branche aus, aber das muss ihn ja nicht stören.

Ich weiß nicht, ob er sich so entwickeln konnte, weil die Leute ihn irgendwann anders sahen, oder ob die Leute ihn anders sehen, weil er sich so entwickelt hat. Ich kann nur sagen, ich finde es eine echte Lebensleistung und habe davor großen Respekt.

Danke, Kalle

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https://blogs.taz.de/hausblog/kalle-ruch-zum-60-schamane-vermieter-oder-hausverwalter/

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