Ein Gedicht, das sich nicht reimt, über das aber derzeit alle reden: Im Kurznachrichtendienst Twitter hat das Schlagwort #Grass es in kürzester Zeit unter die Top-Themen geschafft – und auf den Titelseiten der deutschen Tageszeitungen wird wild über Günter Grass, Israel und die Aufgabe der Lyrik sinniert. Denn Günter Grass hat, meint er, gesagt, „was gesagt werden muss“.
Doch es gibt ja nicht nur Dinge, die gesagt werden müssen. Gereon Asmuth hat für die taz notiert, was sonst noch so gemusst werden muss. In ihrer Ausgabe vom 5. April druckt die taz folgende Gedichte, die sich auch nicht reimen.
Im Ressort Ausland spricht der Dichter und regierende Ministerpräsident Israels Benjamin Netanjahu
Was legalisiert werden muss
Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende ein Westjordanland ohne Siedler
allenfalls eine Fußnote ist.
Warum sage ich erst jetzt:
Die Dichtermacht Günter Grass gefährdet
den ohnehin brüchigen Nahostfrieden
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Grass
überdrüssig bin, zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien und
gleichfalls darauf bestehen
daß mit Bruhin, Sansana und Rehalim
drei weitere illegale jüdische Siedlungen im Westjordanland,
von der Regierung, also von mir, legalisiert werden, die gesetzliche
Anerkennung bekommen
Nur so ist allen, zumindest den Israelis, die in dieser Region
dicht bei dicht leben
und letztlich auch mir zu helfen.
Im Inlandsressort der taz kommt der Dichter und Regierungssprecher Steffen Seibert zu Wort:
Was dementiert werden muss
Warum schweige ich, verschweige viel zu lange,
was in Planspielen
durchgerechnet wurde, an deren Ende
eine neue Steuer als Fußnote steht.
Es ist die behauptete Notwendigkeit einer Steuer,
die von den Maulhelden der Projektgruppe Demographie in der
CDU/CSU-Fraktion für alle ab 25
gefordert wird, um die Folgen der grassen
Überalterung unserer Dichtergesellschaft abzufedern.
Jetzt aber, weil mein Land,
das von ureigenen Dichtern, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal zur Rede
gestellt wird,
dementiere ich, was dementiert werden muß.
Die Bundesregierung plant keine Demographiesteuer für junge Arbeitnehmer.
Nur so ist allen, Alten und Jungen, die in dieser von uns regierten
Region leben, ob dicht oder nicht ganz dicht,
der soziale Zusammenhalt und die Innovationsfähigkeit zu erhalten.
Im Ressort Wirtschaft & Umwelt spricht der Dichter und Eon-Sprecher Roland Schilhab
Was verteuert werden muss
Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in den Planspielen
geübt wurde, an deren Ende für Verbraucher
eine höhere Stromrechnung steht.
Es ist das behauptete Recht auf den Billigstrom
das der von Ökomaulhelden unterjochte
und zum Jubel gelenkte Verbraucher
weil in unserem Machtbereich noch immer
eine Atomanlage vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
beim Namen zu nennen,
dass wir ein schrumpfend nukleares Potenzial verfügbar haben.
Jetzt aber, weil in meinem Land,
ein weiteres AKW eingeholt wird
sage ich, was gesagt werden muss.
Für einen Drei-Personen-Haushalt mit einem jährlichen Verbrauch von
3.000 Kilowattstunden, steigt der Strompreis um 3,70 Euro pro Monat.
Nur so ist letztlich uns zu helfen.
All unseren LeserInnen sei die verdichtete taz vom 5. April daher doppelt ans Herz gelegt. Neben diesen Gedichten gibt es darin auch: Treffliche Analysen zum Text von Günter Grass. Es muss gelesen werden, was gelesen werden muss.
http://blogs.taz.de/wortistik/2012/04/08/zerfreundet/comment-page-1/#comment-87287