Sind Ostdeutsche auch Migranten? Diese Frage wird seit einem taz-Interview mit der Soziologin Naika Foroutan seit Wochen diskutiert. Entsprechend voll war das taz Café als am Abend des 26. Juni Naika Foroutan, Zeit-Autorin Jana Hensel, der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe und die Spiegel-Online-Kolumnistin Ferda Ataman miteinander debattierten. Die Moderation übernahm taz-Redakteur Daniel Schulz. Im Raum also ein ostdeutsch-migrantisches Podium, ein – wie sich später herausstellen sollte – überwiegend ebenso ostdeutsch-migrantisches Publikum und die Frage: Was hat man gemeinsam?
Die These, Ostdeutsche seien irgendwie auch Migranten, hat in den letzten Wochen vehemente Kritik erfahren. Sasan Abdi-Herrle kritisierte auf Zeit Online, die Diskriminierungserfahrungen Ostdeutscher ließen sich mit Rassismus nicht vergleichen. Anetta Kahane sah in der taz Ostdeutschland als neue Projektionsfläche für das „Heimat- und Identitätsgeschwurbel der letzten Jahre.“ Und: „Weder in der DDR noch danach war es lustig, einer Minorität anzugehören. Die Nazis im Osten haben ganze Regionen terrorisiert und tun es noch. Gemerkt haben das meist nur ihre Opfer.“
An diesem Abend wollte die taz jedoch bewusst noch einmal an den Anfang der Debatte zurück. Es sollte um die Frage gehen, was denn nun eigentlich dran sei an der von Naika Foroutan skizzierten These, Ostdeutsche und Migranten könnten künftig mehr Allianzen bilden, um Ziele wie mehr Gleichberechtigung und mehr Teilhabe zu erreichen.
Thomas Ahbe hatte die These selbst schon einmal vor einigen Jahren formuliert. Ferda Ataman hatte Foroutan in ihrer Spiegel Online-Kolumne zugestimmt und eine Allianz der beiden Gruppen gefordert – eine Einladung, die Jana Hensel wiederum „mit Gänsehaut“ annahm.
Ich Kanacke, Du Kanacke. Irgendwie sexy
Das Podium einigte sich schnell auf ein paar grundlegende Dinge: Man sei nicht gleich, aber Ähnlichkeiten gäbe es da schon. Ataman: „Ich fand Ostdeutsche früher total sexy. So ein bisschen: Ich Kanacke, du Kanacke.“ Und auch: Ja, die Erfahrung, von seinem Land verlassen zu werden sei vergleichbar mit der Erfahrung, sein Land zu verlassen. Foroutan: „Es ist nicht mehr die gleiche Welt und man ist ja auch froh, dass es nicht mehr die gleiche Welt ist, aber irgendwie hängt man dem Alten auch nach.“
Die Fakten sind ja klar: Beide Gruppen machen jeweils etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus, sind aber unterrepräsentiert in den deutschen Eliten. Zwei Ostdeutsche im Kabinett, kein Migrant. In Dax-Unternehmen, Universitäten und großen Behörden sieht es ähnlich aus. Von beiden wurde und wird Anpassung an einen fremden Mainstream erwartet. Von vielen Medien sehen sich beide Gruppen nicht verstanden. Thomas Ahbe führte aus, wie Ostdeutsche selbst in den ostdeutschen Regionalmedien sich nicht mit ihren Vorstellungen von einer gerechteren Wirtschaftsordnung wiederfinden.
Uneiniger war man sich schon bei den Ursachen. Für Hensel ist das vor allem die Unsichtbarkeit der Ostdeutschen, sie auch am Kämpfen für sich selbst hindert: „Ich versuche Ostdeutsche sichtbar zu machen. Es gibt viele, die mit ihrer Unsichtbarkeit in Wahrheit unglücklich sind.“ Thomas Ahbe hingegen sagte, das Problem sei, dass viele Menschen nach der Wiedervereinigung nie eine Chance gehabt hätten sich zu beweisen, es zu schaffen. Für diese Menschen gäbe es keine Integration mehr in die bundesdeutsche Gesellschaft.
Eine interessante Frage war auch, ob sich die potenziellen Allierten überhaupt gegenseitig als Allierte erkennen würden. Foroutan selbst sagte, wahrscheinlich würden viele Ostdeutsche sie und Ataman als Westdeutsche und damit als Teil der Mehrheitsgesellschaft lesen, während viele Migranten Jana Hensel und Thomas Ahbe nicht als Benachteilgte, sondern ebenfalls als Teil der Mehrheit verstehen würden.
Oder wie Hensel es ausdrückt: „Was passiert, wenn sich zwei nicht verwandte Gruppen zusammenschließen? Die pure Projektion.“
Selbst im Reden machten sich Unterschiede bemerkbar, Hensel und noch mehr Ahbe redeten langsamer, bedächtiger, suchender. Foroutan und Ataman schneller, pointierter, effektvoller.
Allianzen statt Solidarität
Wie könnten Allianzen zwischen Migranten und Ostdeutschen also aussehen? Sie würde sich wünschen, dass Ostdeutsche ihr beisprängen, wenn sie in der öffentlichen Diskussion angegriffen werde, sagte Ferda Ataman. Das könnte entlastend wirken. Umgekehrt funktioniere das sicher ebenso.
Lässt sich eine Strategie finden für die Tatsache, dass beide Gruppen in öffentlichen Diskursen schnell in die Defensive gedrängt werden? Lässt sich gemeinsam für mehr politische Teilhabe kämpfen? Das Podium zeigt sich optimistisch, dass die Unterstützung der anderen Minderheit in politischen Debatten Wirkung zeigen würde. Naika Foroutan sagte allerdings auch, sie möge an dieser Stelle den Begriff Solidarität nicht. „Solidarität ist ein schönes Wort, aber wenn, es gibt darin eine Machthierarchie. Jemand stellt sich vor jemand.“ Deshalb schlage sie den Begriff Allianz vor, „dann stellen wir uns nebeneinander.“
Als die Frage aufkommt, wie Interessengruppen konkret für politische Ziele zusammenarbeiten könnten, stellt man schnell fest: Im Falle der Ostdeutschen gibt es kaum Organisationen und Strukturen, in denen sie sich als Ostdeutsche organisieren. „Ihr seid so viel besser“, sagt Hensel zu Ataman. „Ihr seid lauter, ihr seid prägnanter.“ Worauf diese antwortet: „Ja, aber da könnte ich dir jetzt auch sagen: Wartet mal noch dreißig Jahre und dann gibt es das bei euch auch.“ Foroutan und Ataman sagten, mit der Islamkonferenz habe der bundesdeutsche Staat Muslime dazu gebracht, sich zu organisieren. Der Staat habe einen Ansprechpartner haben wollen, einen ähnlichen Druck habe es bei Ostdeutschen nicht gegeben.
Haben die mangelnden Strukturen Gründe, die mit der Situation der Ostdeutschen zu tun haben? Eine Zuhörerin sagt, dass man sich vielleicht auch deshalb nicht organisiert hätte, weil man sich nach der DDR von den gewohnten strengen Strukturen lösen wollten. „Das hat uns vielleicht bisher gelähmt“, sagte sie. „Vielleicht sind wir erst jetzt wieder bereit, uns zu organisieren – neu.“
Diskriminierung ist nicht Rassismus
In einem Punkt wollte das Podium einen klaren Unterschied machen zwischen den Erfahrungen der beiden Gruppen: Rassismus müsse man trennen von anderen Diskriminierungserfahrungen. „Rassismus tötet“, stellte Ataman klar. Ja, auch viele Ostdeutsche seien von Nazis verfolgt worden, wegen der falschen Kleidung oder dem falschen Haarschnitt. Aber Rassismus mache eben aus, dass die Betroffenen nicht wählen könnten, davon betroffen zu sein. Schuhe und Haarlänge könne man ändern, Herkunft und Hautfarbe nicht.
Und will man wirklich einen Zusammenhang sehen zwischen der Abwertungserfahrung der Ostdeutschen und dem überproportional starken Rechtsextremismus in Ostdeutschland?
Ataman hatte in ihrer Kolumne diese Parallele gezogen: „Könnte die Ostdeutschenfeindlichkeit von damals die Radikalisierung mancher Ossis befeuert haben?“ hatte sie geschrieben und dafür viel Kritik geerntet. „Vielleicht würde ich diesen Satz so nicht noch einmal schreiben“, sagt sie. „Aber ich habe ihn mir schon gut überlegt.“ Sie habe etwa bewusst ‚befeuert‘ geschrieben statt ‚verursacht‘.“ Auch Hensel sagt: „Ich glaube, dass es für Rassismus Gründe gibt.“ Sie wolle Rassismus nicht entschuldigen, aber Journalistin verstehen. Und dafür müsse sie nun einmal nach Ursachen suchen. Und der Zusammenbruch nach dem Mauerfall und die Erfahrungen danach, seien dabei zumindest zu berücksichtigen.
Foroutan allerdings wendet ein: Die Folgen von eigenen Abwertungserfahrungen müsse keineswegs automatisch Rassismus sein.
Das Publikum wollte selbst erzählen
Als Moderator Daniel Schulz, taz-Ressortleiter für Reportage und Recherche, das Podium für das Publikum öffnete, wollten viele Zuhörer*innen ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen erzählen. Viele sind froh darüber in einem Raum über Diskriminierungserfahrungen reden zu können, der weder jammer-, noch schwiemel-, noch rassismusverdächtig ist und von den Reaktionen ostdeutscher TeilnehmerInnen nach der Veranstaltung wird klar, dass dies vor allem deshalb geht, weil Menschen mit Migrationshintergrund wie Ataman und Foroutan es ermöglicht haben, so darüber zu reden.
Einige bekräftigten Ideen des Podiums. („Vereine gründen? Let‘s go!“). Vertreterin einer ostdeutschen Organisation hatte ihre Visitenkarten dabei und sagte, sie sei sofort bereit für eine Allianz. Andere schlugen selbst Möglichkeiten von Allianzen vor, zum Beispiel das Thematisieren ähnlicher Diskriminierungserfahrungen in Theaterstücken.
Anderen fehlten in der Diskussion Begriffe wie Klasse und Kapitalismuskritik. („Sozioökonomische Forderungen müssen auch eine Rolle spielen.“) Eine Sozialarbeiterin aus dem Bezirk Wedding hielt die Diskussion für komplett abgehoben und erzählte davon, wie in den 90ern Jahren lauter Ostdeutsche vorbei an möglichen migrantischen Kandidat*innen eingestellt worden seien.
Am Ende schloss der Moderator: „Es ist so viel gesagt worden – ich mache mir keine Illusion, dass ich die Kontrolle behalten habe.“ Es war aber auch ganz schön so.
PS: Die taz will die Debatte gerne fortsetzen. Wir melden uns.
Von HANNAH BLEY, taz-Redakteurin
Vielen Dank für die Zusammenfassung der Veranstaltung. Gibt es evl. eine Aufzeichnung davon?