Von D. Tamino Böhm
Der zweite Vortrag, der beim taz.lab auf der Tagesordnung stand, war sperrig: „Kritik der heteronormativen Vernunft“. Und dennoch war der Andrang schon eine viertel Stunde vor Beginn so groß, dass die Türsteher und Türsteherinnen den Großteil der Gäste zur Live-Übertragung ins Foyer des Haus der Kulturen der Welt schicken mussten. Martin Reichert, taz-Redakteur und Moderator der Veranstaltung, freute sich über das rege Interesse an neuem Denken hinsichtlich unserer Heteronormativität.
Ein modernes Weltbild
Mein Zugang zum Thema war kein sonderlich fundiertes. Immerhin hatte ich schon einmal etwas über Heteronormativität gelesen, nachdem ich mich wegen der Diskussionen um die Gleichberechtigung der sogenannten „Homo-Ehe“ durch Wikipedia klickte, und auf einen Artikel zu diesem Wort stieß.
Heteronormativität begleitet uns alle, das stellte ich schnell fest, den ganzen Tag und das ganze Leben lang. Es bezeichnet ein Geschlechtermodell, das Frauen weibliche Geschlechtsmerkmale, weibliche Geschlechtsidentitäten und auch weibliche Verhaltensmuster zuschreibt. Wie es Männern männliche Eigenschaften zuschreibt. Jungs tragen blau, Mädchen rosa.
Mädchen spielen mit Puppen, Jungs mit Autos. So erzieht sich die Gesellschaft ihre Jugend – und stellt klar in welche Richtung es gehen soll. Richtung Hetero. Pubertierende Jungs werden meist nur gefragt, ob sie eine Freundin haben. Die Möglichkeit, dass er schwul sein könnte, wird ausgeblendet: Eines der Hauptprobleme für Jugendliche, die ihr Coming Out erleben, weil Schwule, Lesben und Trans- sowie Intersexuelle Menschen nicht in ein zweipoliges Geschlechtermodell passen, in dem Männer Frauen lieben und Frauen Männer.
Die Kategorien in der Literatur
Dieses Ordnungssystem, das uns hilft, Wissen in leicht verständliche Kategorien mit festen Grenzen zu verpacken, findet sich auch in der Literatur wieder, und darum sollte es heute gehen. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kraß, der seinen Schwerpunkt in Gender- und Queer Studies gefunden hat, wollte uns Denkfiguren vermitteln, mit Hilfe derer wir heteronormative Texte nicht heteronormativ lesen müssen.
Wie sich Heteronomativität in der Literatur äußern kann, zeigte er an Marcel Reich-Ranickis Roman-Kanon, eine Zusammenstellung aus zwanzig Romanen von sechzehn Autoren – und nur einer Autorin. Niemand davon schwul oder lesbisch. Was nicht daran liegt, dass es keine schwulen oder lesbischen Autoren und Autorinnen gäbe. Sonst hätte es wohl nie den „Schwulen Literaturpreis“ gegeben, der über zehn Jahr in Deutschland verliehen wurde.
So kann es nicht weiter gehen
Doch was tun, mit einem solch heteronormativen Kanon? Wir könnten einen oder mehrere Gegenkanonen erstellen. Nur: Welchen Regeln würden die gehorchen? Wenn uns zum Beispiel klar ist, dass es sich bei Kanonen um Konstrukte handelt, erreichen wir, dass wir sie nicht mehr als naturgegeben sehen. Dann können wir auch die Regeln hinterfragen, nach denen wir kategorisieren. So gibt es die Kategorie Nationalität erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts und die Kategorie Sexualität erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Welche Kategorien gab es zuvor? Warum gibt es sie nun? Warum haben sich die Kategorien verändert?
Nun könnte jemand einwenden, es handele sich bei diesen Denkansätzen um Selbstverständlichkeiten, die die Leser und Leserinnen automatisch anwenden. Dabei fällt es natürlich schwer, eigene Sichtweisen zu überdenken. Die Gäste jedenfalls verlassen den Vortrag teils mit ziemlich nachdenklichen Gesichtern. Vielleicht denken sie ja in nächster Zeit ein bisschen weniger heteronormativ.
Tippfehler – es sollte natürlich heißen:
Diese grundlegenden Menschenrechte werden freilich erst dann für alle Menschen gleichermaßen zu verwirklichen sein, wenn man der zweigeschlechtlichen Ordnung und Heteronormativität ihre Grundlage entzieht: die bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft!