Von Helmut Höge
Als 1989 das taz-Haus in der heutigen Rudi-Dutschke-Straße 23 gekauft wurde, veränderte dies Organisation und Bewusstsein des Kollektivs gründlich: In der Fabriketage in der Wattstraße 11, wo die taz vorher saß, war alles auf einer Ebene gewesen; fortan verteilten sich die Abteilungen auf sechs Etagen.
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Die Umorientierung von der Horizontalen in die Vertikale ging nach der Genossenschaftsgründung 1992 immer weiter: mit ChefredakteurIn, Ressortleiter, stellvertretenden Ressortleitern usw.
Gleichzeitig verschwand der Anspruch, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu überwinden. Das ging so weit, dass extra jemand bestimmt wurde, der die zwei Kaffeemaschinen auffüllte, und eine externe Reinigungsfirma das Putzen übernahm. Zudem organisierte sich die Abo-Abteilung fast als Callcenter. Auch die einst umsonst von Senatsdienststellen abgestaubten Büromöbel wichen zunehmend schickeren Arbeitsplätzen. Ähnliches galt für die Elektronik.
Die erste (politische) taz-Generation bestand bewusst aus Nichtjournalisten. Mit dem Schlagwort „Professionalisierung“ änderte sich das dahingehend, dass sich fast alle Redakteure und Autoren in den Hybrid zwischen Wissenschaft und Alltag, sprich Journalismus einfanden. Das geht bis zum Gruner-&-Jahr-Schulformat „Reportage“ mit szenischem Einstieg und Personalisierung des jeweiligen gesellschaftlichen Missstands.
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Gleichzeitig fand ein schleichender Wechsel vom Vorbild Libération zum Vorbild Guardian sowie von den harten zu den weichen Ideologien statt, den der französische Philosoph Jean Baudrillard beizeiten bereits so gesehen hatte: „Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antisemitismus und -rassismus, die Ökologie – das sind die weichen Ideologien, easy, post coitum historicum, zum Gebrauch für eine leichtlebige Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien kennt. Die Ideologie einer auch politisch neosentimentalen Generation, die den Altruismus, die Geselligkeit, die internationale Caritas und das individuelle Tremolo wiederentdeckt. Herzlichkeit, Solidarität, kosmopolitische Bewegtheit, pathetisches Multimedia: lauter weiche Werte, die man im Nietzscheanischen, marxistisch-freudianistischen und Situationistischen Zeitalter verwarf.“
Baudrillard weiter: „Diese neue Generation ist die der behüteten Kinder der Krise, während die vorangegangene die der verdammten Kinder der Geschichte war. Diese jungen, romantischen, herrischen und sentimentalen Menschen finden gleichzeitig den Weg zur poetischen Pose des Herzens und zum Geschäft. Sie sind Zeitgenossen der neuen Unternehmer, sie sind wunderbare Medien-Idioten: transzendentaler Werbeidealismus. Dem Geld, den Modeströmungen, den Leistungskarrieren nahestehend, lauter von den harten Generationen verachtete Dinge. Weiche Immoralität, Sensibilität auf niedrigstem Niveau. Auch softer Ehrgeiz: eine Generation, der alles gelungen ist, die schon alles hat, die spielerisch Solidarität praktiziert, die nicht mehr die Stigmata der Klassenverwünschung an sich trägt. Das sind die europäischen Yuppies.“ Und die taz ist ihre Zeitung.
taz-Zeitleiste: Wie alles begann
Libération hatte zu Beginn die Intention, genau jenen „verdammten Kindern der Geschichte“, von der Baudrillard spricht, eine Zeitung zu liefern. Die Journalisten sollten ausschwirren, um ihnen das Wort zu erteilen; eigene Artikel waren gar nicht erwünscht, der Journalist sollte sein Handwerk den Unterdrückten zur Verfügung stellen, damit sie ihre Stimme erheben konnten.
In einer revolutionsschwangeren Zeit sind die Rollen nicht wichtig, jeder tut mehr, als er kann, auch Professoren leiten die Steine, die über dem Strand liegen, in die vorderen Reihen der Demo weiter (siehe den Film „Maidan“, stumme Bilder eines zähen, zornigen Aufstands, der mit einer Zeitverzögerung von 45 Jahren ähnliche Dinge wie Mai’68 hervorgebracht hat).
Unter Serge July wurde das schnell zu den Akten gelegt, Libé war eher eine Art Frankfurter Rundschau, ging später fast pleite und wurde u.a. mithilfe eines sympathischen Rothschild-Bankers gerettet.
Peperoni: Baudrillard halte ich zugute, mit dem Vergleich zwischen den „behüteten Kindern der Krise“ und ihren taffen Vorgängern (seine Generation) einen wunden Punkt auf emotionale und gleichzeitig analytisch-interessante Weise anzusprechen. Er spricht damit tiefere historisch-psychische Schichten des Selbstverständnisses an, initiert eine brilliante Ausgangsbasis für eine Debatte.
Die angepassten Kinder der Krise sind immerhin unsere Kinder (ich oute mich, bin 60, befinde mich also irgendwo zwischen Samuel Beckett und Lady Gaga). Und wir sind selber die Kinder der Nazis…
Was die Frage aufwirft, wie unsere Gesellschaft historisch immer wieder neue, verblüffende Situationen hervorbringt, die mit sehr gegensätzlichen politischen Einstellungen verbunden sind. Das kann sich schneller ändern, als wir denken!
Helmut Höge geht damit auf unsere Isolation, eine große Verwundung der Sensibilität jener bewusst handelnder Mitglieder der Gesellschaft ein, die sich durch die radikal angepasste Massen gerade in der BRD ausdrückt: Nur 60.000 etwa haben z.B. jene harmlose Petition unterschrieben, die sich gegen die Totalüberwachung aller europäischen Bürger durch diverse Geheimdienste richtete (andererseits gibt es mit den Flüchtlingen solidarische sympathische Gegendemos, die einiges bewirken).
Müssten sich nicht sämtliche grüne und wirklich liberale/freiheitsinspirierte Parteien Europas nach den Enthüllungen Snowdens weigern, im Parlament ihren Platz einzunehmen? Eben solange, bis diese Totalüberwachung und ihre faschistischen, brutal in unsere Privatsphäre eingreifenden Geheimagenturen abgeschafft worden sind. Es geht doch nicht um Merkels Handy!
So ist es: Schon lange wird unsere Kritik nicht mehr als Waffe oder gar Gegenmacht empfunden: Wir können sagen, was wir wollen, wir können zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, es bedeutet politisch rein gar nichts mehr (punktuell schon, aber sehr punktuell). Wie die Griechen, die wählen können, wen sie wollen, es würde vermutlich nichts (oder nur sehr wenig) an der Wirtschaftspolitik ihres Landes ändern, da alle inzwischen in eine globalisierte Zwangsgemeinschaft eingebunden sind, mit entsprechenden institutionellen Mechanismen.
Die Taz war zuerst die Stimme der vielseitigen, enthusiastischen (feministisch-antiatom, pro-Bauer) Gruppen und Initiativen der Bewegung und Gegenkultur der 70er. Jörg Magenau hat gut beschrieben, wie sie dann mit der Zeit und der schrumpfenden Bewegung ging bzw sich mehr und mehr von ihr verabschiedete. Immerhin hat sie sich wie hier scharfe Selbstkritik – was ist schärfer als der Yuppie-Vorwurf – und ein recht buntes Spektrum erhalten (gute lokale Berichterstattung z.B. bei Flüchtlingsthemen, Senat, Wirtschaft – sowie Bewegungsseiten). Das Spektrum reicht von klugen, leider zu früh verstorbenen Denkern wie Christian Semler bis zu Matthias Bröckers, der dem Führerkult nicht abgeneigt ist (zumindest bei den Russen. In seiner Einführung zu „Wir sind die Guten“ spricht er von dem weiten, großen Land, das nach dem Chaos der 90er Jahre unter Jelzin einen starken Führer gebraucht hätte. Erinnert doch sehr an das Chaos unserer 30er Jahre. Und da es etwa 115 Millionen ethnische Russen gibt, die „beschützt“ werden müssen in von „Faschisten“ beherrschten Randgebieten des Reiches wie dem Baltikum und der Ukraine, ist eigentlich logisch nicht einzusehen, wie etwa ähnlich viele deutsch-Sprechende ohne Führer auf noch viel kleinerem Raum zurechtkommen sollten…).