von 30.04.2009

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Heinz Bude, Soziologe der Universität Kassel, machte vor allem durch seine Studien der so genannten Achtundsechziger von sich reden. Seine jüngste Publikation ist „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“.
Zum tazkongress kam er nach Berlin, um der versammelten Mannschaft im Auditorium ‚Entfremdung‘ zu erklären. In der Liebe zeige diese sich als Unfähigkeit zum Außersichsein. Im Politischen als eine Haltung ohne öffentliche Leidenschaft. Und für die Arbeit ist ‚Entfremdung‘ nichts anderes als die Unfähigkeit zum Stolz.
Unten Budes Beitrag als Text, hier auch in Ton und Farbe:

Entfremdung – ein klassischer Begriff. Was um Himmels Willen soll das? Man könnte einwenden, es ist die Wiederverwendung eines verbrauchten Begriffs. Man könnte einwenden, es ist der Versuch der Wiederanknüpfung an ein goldenes Zeitalter der Kritik, der Kulturkritik, der Gesellschaftskritik, wo der Kritiker und vielleicht, wenn man daran anknüpft, auf der Kommandohöhe des Durchblicks zu bringen, um über die zu richten, die sich in kleinen Fluchten verlieren, in falschen Träumen und in vergeblichen Anstrengungen. Man kann über Familienidylle in Begriffen der Entfremdung sprechen, den Rückzug in Familienidyllen, über den Auftrittsglanz, von Leuten, die Andy Warhol zu ernst genommen haben und das nächste Supermodel oder der nächste Superstar sein wollen.
Man kann auch über Bildungsbeflissenheit reden in vielen Privatschulen. Das wäre vielleicht auch alles Entfremdung. Aber man muss doch zugestehen, Entfremdung nach 20, 30 Jahren der Hochzeit des Redens über Entfremdung: Entfremdung ist ein verbrauchter Begriff. Nämlich dann ein verbrauchter Begriff, wenn er ein angemaßtes Wissen über die Gesellschaft impliziert und ein überheblicher Blick des Überblicks über das, was sich in der Gesellschaft tut.
Trotzdem, nehmen wir mal an, es ist ein verbrauchter Begriff, trotzdem gibt es das Gefühl der Entfremdung. Es gibt die Intuition, dass irgendetwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft, in der Art und Weise unseres Zusammenlebens und es gibt die Suche nach Maßstäben, die Kritik.
Eben vor der Tür ging es darum „Was ist denn heute noch linke Politik?“ Wie kann man denn heute noch begründen, wenn man gegen etwas ist oder zumindest der Meinung, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, nicht das letzte Wort ist. Man wirklich etwas ändern müsste an unserer Gesellschaft, deren Ökonomie eine Ökonomie auf falsche Versprechen gewesen ist.
Also es gibt dieses Gefühl und es gibt die Suche nach Maßstäben, es gibt auch das Gefühl von Entfremdung. Und ich glaube, es wäre nicht gut, wenn man dieses Gefühl alleine ließe – begrifflich alleine ließe und sagte, nein, man kann gar nicht mehr über Entfremdung reden, die Leute haben zwar das Gefühl, aber das ist alles Einbildung.
Wenn man über Entfremdung redet und ich glaube, das ist die Situation, die Jan Feddersen angesprochen hat, ich glaube, wir befinden uns in einer Situation nach der Kritik der Kulturkritik. Es war lange Zeit en vogue, besonders auch in linken Kreisen, eine Kritik der Kulturkritik vorzutragen. Also zu sagen, Adorno, berühmter Aufsatz über den Jazz, das sind doch alles nur Ressentiments gegen die Popkultur gewesen. Würden wir heute sagen. Das ist doch alles ein bildungsbürgerliches Ideal gewesen und wer sich hinstellt und sagt, dass im Fernsehen doch alles nicht in Ordnung ist, der hat nicht übersehen, dass das Fernsehen eben was für Aufsteiger ist und dass das Fernsehen heute auch Kirmes ist, was soll man gegen Kirmes haben? Was soll man gegen Damen ohne Unterlaib haben? Also wir müssen eigentlich Kritik der Kulturkritik machen.
Und ich glaube, das hat sich leer gelaufen, weil bestimmte Dinge einfach ekelhaft sind. Und man das Gefühl hat, es ist möglicherweise mit der Kulturkritik wie mit der Pornografie. Man kann es außerordentlich schlecht definieren, was Pornografie ist, aber wenn man es sieht, weiß man es.
Und möglicherweise ist es so mit der Kulturkritik. Es ist schwer Maßstäbe zu formulieren, aber wenn man es sieht, weiß man, was ekelhaft ist. Wann das so ist, befinden wir uns in der Zeit nach der ironischen Affirmation oder wir müssen vielleicht sagen, die ironische Affirmation ist nicht mehr die ultimative Geste des Denkens heute. Es geht nicht mehr um die freundliche Hinnahme von Differenzierung, von Pluralisierung und von Individualisierung, sondern die ganzen Begriffe schmecken fehl, leer und faul. Aber ausgerechnet Entfremdung als Leitbegriff einer Wiederbesinnung auf eine nicht mehr denkfaule, nicht mehr beliebige, nicht mehr unengagierte Kulturkritik. Ausgerechnet der Begriff der Entfremdung?
Ich denke, man muss zunächst einmal dieses Zauberwort mit dieser eigentümlichen Suggestivität, die es bis heute hat, in Frage stellen. Man darf nicht vergessen, Entschuldigung, was Derrida, was Foucault gegen die Vorstellung der Gegenwärtigkeit eines Sinns, gegen die Vorstellung der Priorität von Reflexion und gegen die Vorstellung einer Berufung gesagt haben. Denn das alles kann in einem naiven Entfremdungsdenken enthalten sein. Dass man weiß, was die Wahrheit heißt, dass man denkt, Reflexion ist wichtiger als Praxis. Und man kann denken, es gibt so etwas wie die Selbstgegenwärtigkeit des Bewusstseins.
So ohne Weiteres kommt man nicht auf die Kommandobrücke der Gesellschaftskritik. So einfach geht das nicht. Aber muss man sich deshalb mit der Schmerzlosigkeit eines Daseins abfinden, das nur noch danach fragt, was mir gefällt und was nicht? Was ein Objekt meiner Wahlen sein kann und was nicht. Was eine Erkenntnis wert ist und was keine Erkenntnis wert ist. Also in etwas einstimmen, das keinen Sinn mehr dafür hat, dass man sich verpassen, verfehlen und dass man sich was vormachen kann und dass man möglicherweise sogar alles versäumen kann. Das wäre ein Dasein, das ein Bewusstsein davon hätte, dass man alles versäumen kann, das nicht mehr nur allein den subjektiven Schmerz kennt, sondern ein Gefühl der objektiven Tragik hat.
Ich sagte, Entfremdung ist ein Zauberwort und es ist geeignet, Ressentiments zu aktivieren, Wut zu beschleunigen und für denjenigen, der dem Aufstand der Entfremdeten entgegensieht, Angst zu machen. Es ist ein gefährliches Zauberwort, weil es an schlechte deutsche Traditionen erinnert, die eine reine Innerlichkeit gegen eine verdorbene Äußerlichkeit in Stellung bringen, wo Politik ein schmutziges Geschäft, Arbeit ein Fluch und der Mensch zum Funktionär von Rollen degradiert wird. All das, könnte man sagen, sind entfremdete Zustände. Auf Entfremdung beruft sich der Protest gegen die industrielle Sklaverei, wo unter der Peitsche der Produktivitätssteigerung die Grenzen zwischen Erwerbszeit und Freizeit, zwischen Betrieblichkeit und Privatheit, zwischen Arbeit und Nichtarbeit eingerissen werden. Auf Entfremdung beruft sich die Kritik als Unterhaltung, wo Personen wichtiger als Programme sind. Und auf Entfremdung beruft sich das Unbehagen einer populären Kultur, die Subjektivität in einem Moment anreizt, um sie im nächsten zu denunzieren. Sie alle wissen, das ist der Trick von Bohlen und Klum.
Wer sich über Entfremdung beklagt, hat Umwälzungen im Sinn. Zumindest manche von Ihnen kennen noch Herbert Marcuses Weigerung: Such nach Formen einer Aktion zur Befreiung des Menschen zu seinen wahren Möglichkeiten! Die Evokation von Entfremdungserfahrungen operiert mit der manichäischen Unterscheidung zwischen einer entfremdeten Welt der Monotonie, der Wiederholung, des Stumpfsinns, der Zerteilung und der Zerstückelung und einer unentfremdeten Welt, in der der Mensch durch seine ursprüngliche und unverstellte Allsinnigkeit nicht betrogen wird.
Ich möchte Marx und Engels einmal zitieren aus der deutschen Ideologie über diesen merkwürdigen kommunistischen Zustand, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis, (das ist das Zitat) der Tätigkeit hat, sondern in jedem beliebigen ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies und morgen jenes zu tun. Jedes Mal muss ich an Roberto Blanco dabei denken, heute so, morgen so.
Also die Forderung uneingeschränktes Grundeinkommen für universelles Künstlertum. Und solange das noch nicht hergestellt ist, das universelle
Grundeinkommen, konserviert die Pädagogik unsere kommunistische Utopie. Sie alle kennen die Rede vom eigenkonstruktiven Kind, das man nicht anleiten muss, das selber lernt, das sich nicht der Unterweisung und der Mühe des Lernens unterziehen muss. Sie alle kennen die Vorstellung vom Jugendlichen in der ungezwungenen Assoziation seiner Peergroup und Sie alle kennen, was uns die Pädagogik über das Mehrgenerationenhaus als Künstlerkolonie erzählt, wo die Mühen der Arbeit ins freie Spiel der menschlichen Tätigkeiten verwandelt werden. Ich hab gar nichts gegen Henning Scherf. Das fühlt sich alles außerordentlich verführerisch an, aber das kann man ernsthaft alles so nicht mehr sagen und denken. Dem ganzen Entfremdungsdenken liegt nämlich das Ideal eines Einsseins zugrunde, in das wir immerzu zurückkehren und das wir uns immerzu widerstandslos zurücksehnen. Das ist immer die Vorstellung eines ursprünglichen Einsseins. Die Wirkungsgeschichte von der Marxschen Selbstentfremdung des Menschen ist ungeheuerlich. Gespenstisch würde Jacques Derrida sagen, und reicht bis uns hinein, bis in unsere Tage. Der Mensch ist nach Marx ein Produzent und dahinter steht die Vorstellung, das menschliches Tun Produkte hervorbringt, die unserer Verfügungsgewalt entgleiten und die sich gegen den Produzenten wenden und weil die Produktionsmittel unter kapitalistischen Eigentumsverhältnissen systematisch entwendet werden, Macht über unsere allgemeinen menschlichen Angelegenheiten bekommen. Der Mensch wird zu einem Teil, zu einer Maschinerie des Betriebs, der Staatsapparate und der Warenhäuser und der Zerstreuungsmedien und nicht umgekehrt. Der Mensch dient einem anderen und nicht das andere ihm. Wir leben in einem System, das Entäußerung nur als Entfremdung möglich macht und daher die Verwirklichung unserer eigensten Absichten vereiteln. Dass andere die systemische Existenz solcher Vereitelungen und prinzipielle Ablenkung ist dann nur als Zurücknahme, als Wiedervereinigung, als Einbringung in uns selbst denkbar. Ein Satz von Hegel: “Alles kommt wieder zurück.“ Wir haben uns entäußert und es geht im unentfremdeten Zustand alles wieder in uns selber zurück. Das ist, darin sind sich Adorno und Derrida einig, der Ursprungspunkt aller Totalitarismen. Ein süßer, aber auch böser identitärer Traum der Identifizierung unseres Anfangs im Nichts. Denn woher kommen unsere Projekte, woher kommen unsere Absichten, woher kommen unsere Ideen? Doch nicht aus uns selbst! Sondern aus dem Kontakt mit Dingen, Personen, Vorstellungen, Worten, Tönen, die nicht von uns stammen. Am Anfang ist ein Bruch, eine Zerspaltung, die, wie man heute modisch sagt, eine Differenz macht. Die Entfremdung verfälscht nicht unsere Absichten, sondern entfaltet sie erst. Die Verkehrung ist ursprünglicher als der Ursprung und kann nie und nirgendwo zurückgenommen werden. Handeln und Sprechen bedeutet die Bewirkung einer von den Absichten und Intentionen nicht vorhergesehene Wirkung. Wir sagen mehr als wir meinen, wir finden was anderes, als wir suchen. Was Zweck war, zeigt sich unerwartet als Mittel zu einem vorher nicht gesehenen Zweck. Das ist eine ganz andere Denkweise für ein lebendiges Sein und über eine reiche Existenz. Es bedeutet die Abkehr von einem Zirkel der Verzweiflung in der Entfremdungstheorie. Dass wir immer daran verzweifeln, dass das, was wir der Welt geben, zurückkommt und wir immer nur verzweifelt den Abgleich suchen mit dem, was doch in uns den Ursprung haben sollte.
Und jetzt, weil wir 60 Jahre Bundesrepublik und wenig Zeit haben, erlauben Sie mir einen Hegelschen Sprung unter Zeitdruck: Dieses Unverzweifelte, dass man sagt, aus dem anderen bekomme ich das, was mir möglich wird, dieses Unverzweifelte gehört zum Begriff der Bundesrepublik. Ich meine die Bundesrepublik nicht als eine Ansammlung von Merkmalen, nicht als eine Wirtschaftsform ohne Daseinszweck, sondern ich meine die Bundesrepublik als Idee. Wenn man eine Idee der Bundesrepublik hat, dann ist es die Idee der Unverzweifeltheit. Wenn man Bundesrepublik sagt, und nicht BRD oder Deutschland, meint man die tiefe und lange Erholung von den Träumen eines verloren gegangenen Ursprungs oder eines ursprünglichen Einsseins. Die Emanzipation vom Leiden an der Entfremdung kann man dann, wie das viele tun, als Verwestlichung bezeichnen – die Emanzipation vom Leiden der Entfremdung. Aber man kann auch einfacher sagen, es ist die Einübung in Veränderungs- und Verhandlungsmöglichkeiten. Dem anderen eine Chance geben, nicht immer nur aus sich selber bestehen, das Doppelgängertum, die Rollenhaftigkeit nicht nur hinzunehmen, sondern möglicherweise sogar zu genießen, vor allem aber sich etwas beantworten zu können, ohne schon vorher zu wissen, was dabei heraus kommt, das ist Bundesrepublik. Also Idealismus durch Pragmatismus ersetzen, Eigentlichkeit durch Verspieltheit, Ganzheit durch Vielheit oder in einer beliebten Gegenüberstellung Identität durch Differenz. Das wäre eine schöne Bilanz einer postnationalen Nation, wo die lästige Ironie über die heroische Tragik gesiegt hätte. Weitermachen ist wichtiger als richtigmachen, tun ist wichtiger als vorstellen, erfinden ist wichtiger als wahrsagen.
Aber was ist dann mit dem Gefühl der Entfremdung? Alles nur Schall und Rauch? Nut eine Einbildung aufgrund einer halluzinatorischen Idealisierung? Sind wir alle nur Kinder, wenn wir das Gefühl von Entfremdung haben, wenn es uns zum Kotzen ist manchmal? Ich möchte der Ironie deshalb heute nicht das letzte Wort geben, sondern der Tragik ihr Recht.
Entfremdung ist das trotzige Aufgeben einer Ahnung von Eigenem. Die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass alles schief gehen kann und das zwanghafte Wichtignehmen des Erlebnisses gegenüber der Erfahrung – das ist Entfremdung.
Entfremdung ist das trotzige Aufgeben einer Ahnung vom Eigenen, ist die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass alles schief gehen kann und ist das zwanghafte Wichtignehmen. Erlebnisgesellschaft. In Erfahrung steht steckt immer auch Enttäuschung drin. Wenn man eine Erfahrung macht, hat man immer auch eine Enttäuschung. Um sich vor Enttäuschungen zu schützen und immer wieder neue Erlebnisse suchen, das ist Entfremdung.
Entfremdung herrscht, wo man alles immer nur von sich beurteilen muss und sich nichts überlassen kann. Der ganz normale Narzissmus in den Welten unserer Selbstähnlichkeit, das ist Entfremdung. Wenn wir nur die Selbstähnlichkeit suchen, wenn wir nur darauf achten, die narzisstische Geschlossenheit unserer Erfahrung nicht gebrochen wird, das ist Entfremdung. Entfremdung ist, wenn nichts leuchtet, wenn uns nichts ergreift und wenn uns nichts auf den Grund setzen kann. Entfremdung wäre dann die Angst vor der Selbstentfremdung. Genau umgekehrt als bei Marx. Nicht die Selbstentfremdung ist das Problem, sondern die Angst vor der Selbstentfremdung. Die Angst davor, sich etwas überlassen zu können und sei es ein großes Gefühl, und sei es eine tragische Empfindung. Und sei es die Intuition, dass die Dinge furchtbar sind.
Entfremdung wäre dann auch die Unfähigkeit zur Trauer in einem ganz anderen Sinne: wie die Unfähigkeit zur Verpflichtung. Weil man nicht einen unendlichen Abstand denken kann zu dem, was man sich verpflichtet hat und zu dem man irgendwie ahnt, dass es eine andere Welt wäre. Wenn dieser unendliche Abstand nicht möglich ist, weil man sofort Erlebnis sucht, man sich nur in der Selbstähnlichkeit eingerichtet hat, weil nichts einen erschüttern kann, dann, glaube ich, ist man in einem Zustand der Entfremdung.
Lars Gustaffson hat mal gesagt, es gibt immer drei Dinge, die die Leute interessieren: Arbeit, Liebe und Politik. Entfremdung in der Arbeit wäre dann simpel gesagt die Unfähigkeit, Stolz zu empfinden. Stolz, etwas in Gang zu setzen. Nicht Stolz, dass das Produkt ein Ereignis wäre, sondern der Stolz, etwas in Gang zu bringen. Und zwar nicht nur im Sinne einer einzelnen Wirkung, die man wieder kontrollieren kann, nicht im Sinne eines eng geführten Kontrollbewusstseins, sondern der Stolz darauf, an dem Vollzug eines Vorgangs beteiligt zu sein, an dem andere auch beteiligt sind. Stolz darauf zu sein, etwas in Gang gebracht zu haben. Auch wenn es vielleicht verläuft, wenn es scheitert, aber in dem Moment einen Stolz darauf gehabt zu haben, das ist sozusagen der Vorgriff des Unentfremdeten. Die Fähigkeit zu diesem Stolz.
Entfremdung wäre auch die Unfähigkeit; damit wäre ich bei der Liebe; die Unfähigkeit der Hingabe an ein Außersichsein. Weil man den anderen immer nur als Projektion von sich selber sehen kann. Entfremdung ist das Eingeschlossensein in die eigenen Projektionen vom anderen. Das Unentfremdete wäre der Moment der Hingabe, ein Außersichsein. Wo man außer sich gerät und von dem anderen so berührt ist, dass die Frage, ob er mit meinen Projektionen übereinstimmt, nicht mehr wichtig ist.
Aber es gibt vielleicht auch so etwas wie Unentfremdetheit in der Politik. Entfremdet ist eine Haltung zur Politik, die sich nicht vorstellen kann, dass es öffentliche Leidenschaft gibt. Unentfremdet wäre dann vielleicht ein Verhältnis zur Politik, wo ich es meiner Selbstachtung für schuldig erachte, dass wir, wie Margalit mal gesagt hat, in einer anständigen Gesellschaft leben. Dass es zu meinem Selbst gehört, die Idee zu haben, dass man in einer anständigen Gesellschaft lebt. Das muss nicht immer realisiert sein, das hat möglicherweise einen unendlichen Abstand. Aber irgendwie ein schlechtes Gefühl dabei zu haben, in einer nicht-anständigen Gesellschaft zu leben. Und dafür Leidenschaft entwickeln zu können. Andere Leute haben andere Leidenschaften, aber dass man Leidenschaft dafür haben kann, dieser Frage nachzugehen. Und damit am Ende, dass man nicht in seinem subjektiven Schmerz verkapselt ist, wäre dann das Unentfremdete, sondern sich der objektiven Tragik unserer Verhältnisse nicht zwanghaft verschließen muss. Ein bisschen pastoral am Ende. Trotzdem vielen herzlichen Dank!

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