Anläßlich seines großen heutigen Ehrentages sei noch einmal an den schönen Kohl-Artikel in der taz Printausgabe vor einigen Wochen erinnert, den viele online tazler damals nicht lesen konnten:
„Vor 20 Jahren wurde Helmut Kohl ‚Vater der Einheit‘ –
VATER WERDEN IST NICHT SCHWER…
In diesen Tagen jährt sich zum 20. Mal der sogenannte Zehn-Punkte-Plan des Pfälzers. Dieser Plan ist bis heute das einzig belastbare Indiz oder Dokument dafür, daß der ‚Kanzler der Einheit‘ zu dieser, der Einheit, auch etwas Eigenes beigesteuert hat. Also daß er nicht nur, wie alle anderen Führungskräfte des Westens, den Ereignissen hinterherstolperte.
In seiner ganzen Art, seiner Provinzialität, seiner gereizten, humorlosen Spießigkeit, war Kohl das westliche Gegenstück zu Honecker. Beide fast zwei Jahrzehnte lang im Amt, wirkten sie auf ihre Mitmenschen wie ausgestopfte Tiere in einer Welt, die längst mit Stil, Coolness und Weltläufigkeit mehr zu tun hatte als mit dem deutschen Heimatfilm. Das Biopic über Kohl vor zwei Wochen im Fernsehen zeigte wohl zu recht einen rentnerhaften Trottel, der bei der ganzen Revolution immer nur Bahnhof verstand und sich in bittere Binsenweisheiten rettete.
Dennoch ist es heute Konsens unter so gut wie allen Deutschen, den Dicken aus der Pfalz als den Vater der deutschen Wiedervereinigung zu sehen. Wenn er, was in allernächster Zukunft erwartet wird und durchaus bange, stirbt, wird es lange keine Chance mehr geben, dieses Etikett anzuzweifeln. Dann wird er für Generationen ein zweiter Bismarck sein und bleiben. Dann wird ihm wohl für immer ein Ruhm zuerkannt, der in Wirklichkeit den wahren Aktiven jener Zeit gehört, den Menschen im Osten. Denn über Tote spricht man nur Gutes, erst recht über den ‚Vater der Einheit‘! Selbst tiefrote Linke, die ein halbes Leben lang an ‚Birne‘ verzweifelten, geben sich nun ausgewogen: der Mann war eine Heimsuchung, aber die Einheit hat er gut hingekriegt.
Wirklich? Noch nicht einmal der Zehn-Punkte-Plan taugt tatsächlich als Nachweis für politisches Handeln. Während die Massen bereits lautstark die Einheit skandierten und forderten, spricht dieses Papierchen, das Kohl mit ein paar mediokren pfälzischen Mitarbeitern à la Teltschik nachts mehr improvisierte als erarbeitete – einzig um irgendwie am Ball zu bleiben – , noch ausdrücklich nur von einer Konföderation in weiter Ferne. Der Zettel mit den meist nichtssagenden Allgemeinplätzen ist mit den Verbündeten nicht abgesprochen und bewirkt einzig eine beträchtliche Verstimmung, also bei genau denen, die Kohl mit seinem Handeln noch erreichen könnte.
Als Gorbatschow ihm dann wenig später trotzdem die Einheit vorschlägt, weiß Birne nicht mehr, was er sagen soll. Der ganze Prozeß rauscht an ihm vorüber, wie ein Schnellzug, dessen Waggons er nicht mehr zählen kann.
Erst als die Einheit Realität geworden ist, greift Kohl wieder ein. Und zwar, um den dazugewonnenen Landesteil in kürzester Zeit zu zerstören. Obwohl jeder VWL-Student weiß, was passiert, wenn man in einem Werk den gleichen Lohn zahlt wie in einem, dessen Produktivität achtmal höher ist, zieht Kohl sein Ding brachial durch. Die Wirtschaft im Osten bricht vollständig zusammen und für immer.
Auf diesen Zusammenhang hingewiesen, reagierte der Altkanzler immer gleich. Sein Gesicht begann zu strahlen, und er tat eine Anekdote kund, wohl hundert-, oder tausendmal, keine so oft wie diese, und immer mit diesem verschmitzten Lächeln eines Mannes, der sein Gegenüber gleich überraschen wird: Er habe einmal, griente er, in der Menge der DDR-Protestierer ein Plakat gesehen, auf dem der Satz stand ‚Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zur D-Mark‘. Danach nur noch ein triumphierender Blick, der sagen sollte: Seht her, die wollten unser Geld und sonst gar nichts. Deshalb mußten wir so handeln.
Das Schlimmste daran ist noch nicht einmal, daß Kohl die Leute, die da so lange ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Karriere riskiert hatten, im Grunde für ganz normale, ordinäre Bettler hielt. Noch schlimmer ist, daß er sich selbst niemals vorstellen konnte, daß es im Leben je um etwas anderes gehen könne als um die Maximierung von Bimbes.
Dieser Ost-Staat, in dem man so wenig Bimbes machen konnte, wurde nun rasch abgewickelt, mit der Wirtschaft gleich alles andere mit. Es ging schnell. Die Wirtschaft im Westen gönnte sich das Strohfeuer von ein paar Extra-Profiten. Der Kanzler verschränkte die Hände hoch über dem Kopf, diese Geste, für die er wohl eher das Copyright verdient hätte als für irgend eine vaterländische Tat, grinste sein Kohl-Grinsen, und die Medien jubelten, endlich: ‚Glückwunsch, Kanzler!‘
Wir aber wollen uns merken: Helmut Kohl war nicht der Vater der deutschen Einheit.
Er war die Rache an ihr.