Wohlverdiente Mittagspause. Zwischen eifrigem Diskurs und speed-networking ein mindestens ebenso schnelles und heißes Hühnercurry mit Reis für den fleißigen Laboranten.
Am Ufer der Spree widme ich mich also bei strahlendem Sonnenschein dem leiblichen Wohl, bestaune meine sportlichen Mitmenschen, die im Kampf gegen Krebs bei der parallel stattfindenden Veranstaltung hinter der Auster um die Wette rudern.
Auch die Bierzeltgarnituren hier auf der Terrasse sind Örtlichkeit des schnellen Netzwerkens und Kennenlernens. Mir gegenüber nimmt einer von der Technik-Crew Platz. Wir kommen rasch ins Gespräch.
Der Kerl hat eine West-Berliner-Bilderbuch-Biographie. Aus SO36 kommt er, sagt er, und erklärt mir im Kurzformat, die Postleihzahlgeschichte der Berliner Bezirke. Wegen der hohen Mietpreise – „Für die sind all die Yuppies verantwortlich, die plötzlich Gefallen am Ranz-Chic des alten Kreuzbergs gefunden haben“ – musste er während des Studiums wegziehen. Studentenbude im Wedding, dem Arbeiterviertel des frühen 20. Jahrhunderts. Das Elend der Tuberkulose und des feuchten vierten Hinterhofes ist heute abgelöst vom Elend des Hundehaufens im Briefkasten. Schöne Scheiße da…
Aber zur TU war’s nur ein Katzensprung und das eindeutig ein Vorteil, weiß mein Techniker. Die Zigarette, die er sich auf dem Weg zur Uni angesteckt hat, hat bis zum Ascher direkt am Eingang des Hörsaals gereicht. „Damals“ durfte man nämlich auf dem Unigelände noch rauchen. Damals hat man nicht versucht, an erwachsenen, selbstständigen Menschen herumzuerziehen.
Das Arbeitsamt für Studenten hat ihm einen Gelegenheitsjob, quasi als „Leiharbeiter“, im Haus der Kulturen der Welt organisiert. Und weil es ihm dort gefallen hat – all die spannenden Veranstaltungen, all die Leute die man dort kennenlernt: Man kann eine ganze Menge für sich persönlich mitnehmen! – und weil er wohl auch ganz gute Arbeit leiste, ist er dort geblieben. Als Angestellter. Auf den Luxus der selbstbestimmten Selbstständigkeit verzichtet er zugunsten des taz-Abo-Sonderangebots oder der Einladung nach Peking, die er bei seiner Tätigkeit hier unter anderem abstauben kann. Einmal hat eine chinesische Punk-Band in der Auster gespielt und die Front-Frau hat ihn eingeladen ins ferne Asien. Sie wolle ihm das China jenseits der Touristen-Anlaufstellen zeigen, habe sie ihm versprochen: die Welt der Clubs, der Musik, der Kontroverse – vielleicht ein bisschen so, wie früher in der DDR?! Biermann auf Chinesisch? Aha.
Die geplante Reise muss aber noch ein oder zwei Jahre warten; momentan sei noch ein ganz anderes Projekt am Laufen: der Umzug zurück in die Heimat. Auch, wenn der Kreuzberger lange im Wedding gelebt hat – der Görli, das Lido, die BullBar und die Hähnchenbräterei… das Herz hat eben doch immer an seinem Kiez gehangen. Dort, wo er in der Jugend Häuser besetzt und sich gemeinsam mit anderen Linken üble Schlägereien mit der Polizei geliefert habe.
Und er gesteht: Er war er sogar bereit, die Seite zu wechseln und sich eine Eigentumswohnung zu kaufen. Die war nämlich zu Zeiten der Immobilienkrise richtig günstig zu haben und es gibt sogar noch Kohleofen. Da kommt eben doch das Traditionsbewusste ein bisschen raus. Nee, spießig sei er sonst ja nicht. Schließlich würde er ja nächste Woche, beim Straßenfest am 1. Mai auch wieder mit dabei sein. Und bei Berliner Pilsner lautstark wettern gegen all die Sozial-Touristen und Yuppies, Immobilienhaie und Politiker.