vondorothea hahn 27.08.2010

taz Blogs

110 Autor*innen | 60 Blogs
Willkommen auf der Blogplattform der taz

Mehr über diesen Blog

In fast allen Orten der USA, die ich bislang besucht habe, gibt es eine Stätte, die in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte führt.  In New Orleans erinnert eine Skulptur am Mississippi-Ufer an den Holocaust. Die Farben und Motive ändern sich je nach Position der Betrachterin. In der Hauptstadt Washington steht das Holocaust-Museum mit dem weltweit größten Dokumentationszentrum zu dem Massenmord an den Juden. Im kalifornischen Los Angeles befassen sich vier Museen und Studienzentren mit dem Thema.

Was das Holocaust Museum in der texanischen Stadt El Paso von den anderen Gedenkstätten unterscheidet, ist eine Zahl: Elf Millionen. In den Prospekten, die das Museum beschreiben, ist die Rede von elf Millionen Opfern.

Um diese Zahl zu verstehen, gehe ich an einem glühend heißen Samstagnachmittag an die Oregon-Straße.  In der klimatisierten Kühle des Museums in Texas, tauche ich eine Stunde lang in deutsche Geschichte ein:  Hakenkreuze, NS-Abzeichen, Judensterne, ein Viehwaggon, Haare, Koffer und Stacheldraht. Sowie Bilder und Objekte, die jüdisches Leben in Europa vor der Zerstörung erzählen.

Am Ende läuft mir ein alter Mann über den Weg. Henry Kellen hat den Krieg in Kaunas überlebt. Ein litauischer Bauer hat ihn, seine Frau und einen Neffen versteckt. Als die drei im Herbst 1944 – nach der Ankunft der Roten Armee – das Versteck verlassen, sind sie die einzigen Überlebenden ihrer Familien. Kellens Vater ist in den Stunden vor der deutschen Invasion ermordet worden. Seine Mutter, seine Geschwister, seine Onkel und Tanten und seine Vettern und Basen sind von Deutschen deportiert und ermordet worden.

“Ich habe gute Gründe, nicht freundlich zu Deutschen zu sein”, sagt Kellen zu mir. Dann beginnt er einen langen und freundlichen Bericht über sein Leben. Zwischendurch will er von mir wissen, warum ich ausgerechnet in das Holocaust-Museum gekommen bin. Obwohl es in El Paso so viele andere Museen gibt.

Nach dem Krieg haben Kellen, seine Frau und der Neffe einen neuen Anfang gemacht. Am 4. Juli 1946, dem Unabhängigkeitstag der USA, landen die drei Überlebenden auf dem Armeestützpunkt Fort Bliss am Ortsrand von El Paso. Ihren für Texaner schwer aussprechbaren Familiennamen Kacenelenbogen amerikanisieren sie. Henry Kellen arbeitet wieder in seinem Beruf als Textildesigner.

Über den Holocaust herrscht in der Familie jahrzehntelanges Schweigen. “Meine Frau und ich haben entschieden, nicht darüber zu sprechen”, sagt der alte Mann: “es ging einfach nicht”.  Ähnlich gehen auch andere Holocaust-Überlebende in El Paso mit der schweren Erinnerung um. Manche von ihnen sind direkt aus Europa nach El Paso gekommen. Andere auf dem Umweg über das benachbarte Mexiko.

In den 80er Jahren ist das Schweigen nicht länger haltbar. In den USA machen Bücher und Zeitschriften Furore, die den Holocaust leugnen. 1983 bekommt ein besonders lautstarker negationistischer Autor eine regelmäßige eigene Sendung in Texas:  Ernst Zündel, ein Deutscher der damals in Kanada lebt, unterzeichnet einen Vertrag mit einem Fernsehsender in El Paso. Zündel darf jeden Sonntag zur besten Sendezeit behaupten, der Holocaust habe nie stattgefunden.

Kellen protestiert. Schreibt Briefe. Will verhindern, das sich Geschichte wiederholt. “Hass kann zivilisierte Gesellschaften zerstören”, sagt er. Als Kind, bei den Großeltern in Königsberg, hat er Deutsch gelernt. Als junger Mann hat er die Zerstörung jener Zivilisation erlebt.

Nach langem Streit beendet das Fernsehen die Sendung. “Der Anwalt hat hart gearbeitet”, meint Kellen anerkennend. Die Auseinandersetzung verschafft auch seinem eigenen Leben eine radikale Wende. Kellen ist Rentner und soeben verwitwet, als er im Jahr 1984 das erste Holocaust-Museum in El Paso eröffnet. .

Das Zeugnis-Ablegen und die Erinnerung bleibt seine Hauptbeschäftigung. Kellen geht fortan in texanische Schulklassen. Besucht das Yad Vashem in Israel. Und bereist mitteleuropäische Länder auf der Suche nach “Memorabilia”. In Majdanek besorgt er Haare und Kinderschuhe von KZ-Gefangenen. In Polen kauft er eine Thora-Rolle.

Die “Memorabilia”, die alten Fotos aus Kellens Familie aus Lodz, Kaunas und Königsberg und die historischen Filme und weiteren Videos,  die das Museum und andere Forschungszentren beigesteuert haben, sind in dem Holocaust Museum zu sehen. Es belegt ein komplettes Gebäude im Zentrum von El Paso, verfügt über einen Kreis von Förderern, ist mit Ausnahme von acht Tagen, das ganze Jahr über geöffnet und hat längst eine Existenz, die es von seinem Gründer unabhängig macht.

Im Juli ist Kellen 95 geworden. Das Fest fand in seinem Museum statt – zwischen Fotos und Dokumenten aus Ghettos und aus Konzentrationslagern und Berliner Dokumenten über die Planung des Völkermordes an den Juden.

Doch damit ist Kellens Anspruch noch nicht erschöpft. Er versteht das Museum als Gedenkstätte an alle Massenmorde der Nazis. “Es sind nicht nur 6 Millionen Juden ermordet worden”, sagt der alte Mann in El Paso, “sondern auch Zigeuner und sowjetische Gefangene. Das sollen die Leute wissen.”

Das ist seine Antwort auf meine Frage in El Paso.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/holocaust/

aktuell auf taz.de

kommentare