vonHeiko Werning 26.10.2011

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Ich kann nicht einschlafen. Zweifel quälen mich. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? In welcher Epoche schreiben wir? Das sind so die Fragen, die mich kein Auge zutun lassen. Mich tief empfindenden Schriftsteller. Wenn da nicht immer diese Selbstzweifel wären! Ist das überhaupt Literatur? Schreibe ich überhaupt zeitgemäß? Habe ich zuviel Kaffee getrunken am Nachmittag?

Aber ich kenne sie gut, die Nächte, in denen ich nichteinschlafen kann. Ich habe vorgesorgt. Ich habe mir die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ans Bett gelegt.

Da trifft es sich gut, dass einer von uns, nämlich Maxim Biller, endlich einige Antworten für uns gefunden hat. Und sie in die Zeitung hineingeschrieben hat, unter dem schönen Titel „Ichzeit“.

„Wir leben, lesen und schreiben schon lange in einer literarischen Epoche und wissen es nicht.“ Und in der Tat – ich hätt‘s nicht gewusst. Aber hätte ich es zumindest ahnen können? „Vielleicht ahnen wir es, wenn wir nach der Lektüre von Tellkamps Turm denken, das war noch besser als eine Folge von Breaking Bad.“ Nein, ich hätte es nicht ahnen können. Denn mir gefällt nicht nur jede einzelne Folge von Breaking Bad besser als Tellkamps wichtigtuerischer Langeweiler-Turm, sondern sogar jede Ausgabe der Sendung mit der Maus. Umso wichtiger also, dass Maxim Biller endlich mit der Sprache rausrückt, selbst wenn ich dafür seinen ganzen, langen, wahrscheinlich sehr tief empfundenen und sicher nicht schlecht bezahlten Artikel in der FAS lesen muss, sonst werde ich es nie erfahren, denn außer Maxim Biller kam, glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn, dass die besten Romane der letzten 25 Jahre mehr verbindet als ihre Qualität: „Dass die besten Romane der letzten 25 Jahre mehr verbindet als ihre Qualität, kam, glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn.“ Ich lese gebannt weiter.

Angefangen hat alles, so Biller, mit Rainald Goetz, weil der sich beim Vorlesen „selbst verletzte“, indem er sich nämlich vor der Kamera beim Vorlesen eine kleine Schnittwunde zugefügt hat, womit er „etwas unerhört Neues wagte“, denn „er stellte seine ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins grelle öffentliche Licht.“ Darauf hätte im Grunde natürlich auch schon vorher mal jemand kommen können: Einfach mal seine eigene Person ins grelle, öffentliche Licht stellen! Darauf hätte natürlich auch schon vorher mal jemand kommen können, nach all den Jahrhunderten voll schwächlicher, unglaubwürdiger, langweilender Er-Erzähler: „Die Literatur braucht wieder ein starkes, glaubhaftes, mitreißendes Erzähler-Ich – sonst hört ihr uns, die tief empfindenden Dichter und Denker, im immer lauter werdenden Medienlärm nicht mehr.“ Und Biller im Medienlärm nicht mehr zu hören – das ginge ja nun gar nicht!

Es folgte Fausers Rohstoff: „Dieser Roman tut weh, so schön und tief empfunden ist er. Und genau das ist er auch.“ Also: Das genau ist er: schön und tief empfunden. Das tut weh. „Wie schade, dass der existenzielle Trinker Fauser, der ein paar Jahre später morgens um vier auf einer bayerischen Autobahn betrunken überfahren wurde, über seinen Amy-Winehouse-Tod nicht mehr selbst schreiben konnte. Es wäre sein stärkster Text geworden.“ Das ist in der Tat sehr schade. Man könnte den Gedanken vielleicht sogar noch einen Tick weiterdrehen und bedauern, dass im Grunde ja nicht nur Jörg Fauser seinen Tod ebenso wenig beschreiben konnte wie Amy Winehouse den ihrigen nicht mehr zu besingen in der Lage war, sondern auch sonst hat im Grunde ja noch niemand fundiert über seinen eigenen Tod schreiben können. Ein Jammer, manch schöner Text ist uns dadurch sicherlich verloren gegangen. Und wahrscheinlich wird dieses große literarische Projekt wieder keiner angehen, wenn Biller es nicht eines Tages selbst tut. Meinen Segen hätte er.

Und seinen auch, denn: „Viele der besten, wichtigsten Bücher der letzten zweieinhalb Jahrzehnte wären ohne den extremen persönlichen Einsatz ihrer Verfasser undenkbar gewesen.“ Wer hätte das gedacht? Bücher schreiben kostet persönlichen Einsatz! Warum hat mir das vorher niemand gesagt? Als ich noch etwas anderes hätte lernen können, Bauarbeiter oder Altenpfleger oder irgendwie so was halt. Aber zumindest Ihr, Ihr emporstrebenden, tief empfindenden Nachwuchsschriftsteller, Ihr seid nun gewarnt. Ihr könnt noch umkehren!

Wir leben also, um uns der Ausgangsfrage anzunähern, in einer Epoche, in der Bücher unter dem extremen persönlichen Einsatz ihrer Verfasser entstehen. Was meint Biller damit? Dass er so lange am Schreibtisch sitzen muss, bis ihm der Arsch wund geworden ist?  Und dabei genötigt ist, ein Glas Rotwein zu trinken und Musik zu hören? Nein, ganz so zügellos muss es dann doch nicht sein: „Und es mussten nicht immer gleich Sex, Drogen und Musik im Spiel sein.“ Puh. Das wäre ja auch vielleicht ein bisschen sehr extrem, wenn es zum Schreiben nötig wäre, mal Sex gehabt zu haben – da gäbe es ja praktisch keine Literatur mehr.

Doch glücklicherweise reichen auch andere Extremerfahrungen. So etwa bei W. G. Sebald: Der nämlich hätte seine „unvergesslichen Erzählungen nie schreiben können“, wenn, ja – wenn er nicht umgezogen wäre. Nach England nämlich, „nach Norwich, in eine Gegend, mit der ihn so viel verband wie Walter Benjamin mit den Pyrenäen.“ Die Literaten der neuen Epoche gehen also bis zum äußersten: Sei es, dass sie sich vor der Kamera einen Kratzer zufügen, sei es, dass sie umziehen, die am tiefsten Empfindenden sogar bis nach England.

Oder nehmen wir als Beispiel Monika Maron. Die musste, Grenzerfahrung Nummer eins, in der DDR leben. Und dann, man kann immer noch eins draufsetzen: „Sie musste jahrelang heftig mit dem System kokettieren, bis sie zu dieser literarischen Weltklasseleistung fähig war.“ Welche Entbehrungen Schriftsteller heutzutage auf sich nehmen müssen, hier wird es deutlich. Manche müssen sich sogar an das herrschende System anbiedern, mehr persönlicher Einsatz ist im Grunde ja gar nicht denkbar. Außer vielleicht durch Christian Kracht, der nämlich „verwöhnt, blasiert und eine Weile fast immer wie im Rausch auf dieser Welt“ war, bis er „sich plötzlich hinsetzt und mit 1979 einen wunderschönen Anti-Kapitalismus-Klassiker schreibt, dessen traurige Hauptfrage lautet: Wie schafft es ein dekadenter Narziss, sein Ego zu besiegen?“ Und dafür musste er eben, die Literatur macht nun mal keine Gefangenen, erst mal ein dekadenter Narziss sein. Auch kein leichtes Schicksal.

Goetz, Kracht, Sebald, Maron – da fehlt doch aber jemand in der Aufzählung der besten, tief empfindenden  Literaten der neuen Epoche, denke ich. Ah, natürlich: Maxim Biller. „Und dass ich selbst wegen eines angeblich hyperrealen Buchs vom Verfassungsgericht ein Publikationsverbot bekam, sieht in diesem Zusammenhang plötzlich wie eine Literaturkritik aus, wie eine vorweggenommene Epochenzuordnung.“ Allerdings. Das berühmte Publikationsverbot für Maxim Biller. Der seither jeden seiner Texte nur noch konspirativ in subversiven Geheimschriften veröffentlichen kann. Der FAS etwa. Meine Hochachtung steigt ins Unermessliche.

Unabhängig von all dem könnte ich mich natürlich jetzt auch fragen, ob es nicht normal ist, dass Autoren ihre Erfahrungen verarbeiten. „Ist es nicht normal, dass Autoren ihre Erfahrungen verarbeiten?“, fragt Biller mich, um zu antworten: „Ja, aber nicht gleich alle und nicht gleich alle so intensiv.“ Aber ist das schon alles? Ach wo: „Und es gibt eine weitere Gemeinsamkeit“ – ich kralle mich ins Kopfkissen: „Fast jedes der bedeutenden deutschen Bücher der vergangenen Jahre kommt“, Achtung, jetzt kommt’s!, „Fast jedes der bedeutenden deutschen Bücher der vergangenen Jahre kommt in der ersten Person Singular daher“. Eine neue Epoche, zweifellos! Denn: „Nur ein kräftiges Erzähler-Ich kann die faszinierende, den Leser mitreißende Illusion erzeugen, dass der Erzählende und der Schreibende ein und dieselbe Person sind. Das muss und das kann heute gar nicht anders sein.“ Oder um es mit Adorno zu sagen: Nach Auschwitz kann man eben keine Literatur mehr in der dritten Person Singular schreiben.

Kurz bevor ich einnicke, frage ich mich noch, was der ganze Scheiß eigentlich soll. Warum es wichtig ist, dass wir die Bewohner einer neuen literarischen Epoche sind. „Warum ist es wichtig, dass wir die Bewohner einer neuen literarischen Epochen sind?“, entziffere ich durch die noch halb geöffneten Augen. Tja, warum? „Ich weiß immer gern, wo ich bin und warum ich dort bin – damit ich so bald wie möglich wieder verschwinden kann.“

Zufrieden nicke ich ein. Meine Texte sind allesamt hochgradig authentisch. Selbst erlebt. Praktisch durchgängig in der ersten Person Singular. Ich bin von Westfalen in den Berliner Wedding gezogen, mit dem mich mindestens so viel verbindet, wie Walter Benjamin und W. G. Sebald zusammen mit dem Himalaya. Ein Narziss bin ich sowieso, und ich habe sogar mal heftig mit dem herrschenden System kokettiert, indem ich im Bundesinnenministerium vorgelesen habe. Alles in allem: Ich bin ein zertifizierter, tief empfindender Schriftsteller der Ichzeit. Wir wissen das nun, Maxim Biller und ich. Und das Beste: Weil er es jetzt weiß, wird er so bald wie möglich verschwinden.

Sehr zufrieden schlafe ich ein.

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