Von Indien aus offizielle taz-Kommentare zu schreiben fällt mir zunehmend schwerer. Das einzige, was man hier über Deutschland erfährt, ist der tagesaktuelle Stand des DAX sowie die Empörung über die deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan beziehungsweise die Freude über die Nichtbeteiligung im Irakkrieg. Und natürlich auch das nur im muslimischen Teil der Bevölkerung, die allerdings mehrere hundert Millionen Menschen ausmacht. So habe ich mich notgedrungen entschlossen – auch wegen der Bundestagswahl in der Heimat, die, wenn ich mich recht erinnere, am 26. oder 27. September stattfindet – in der heutigen taz (Printausgabe) einen Kommentar über Afghanistan zu schreiben. Ich fordere Euch, so Ihr in Deutschland lebt, auf, die taz zu kaufen. Für jene, die wie ich im fernen Ausland sein müssen, stelle ich den Text am Ende hier ins Netz.
Hinweisen möchte ich auch nochmal auf die Einstellung des Blogs zeitgleich mit der Verkündung des Wahlergebnisses (siehe Blogeintrag vom 3.8.2009). Blogwart Broeckers zieht dann gnadenlos den Stecker raus, da sollte sich niemand etwas vormachen.
Und nun der taz Kommentar:
„Joachim Lottmann / Marx 2.0 / Afghanistan steht nicht zur Wahl
WARUM SIND UNSERE JOURNALISTEN SO FEIGE?
Es gab einmal einen Journalisten, der schrieb Kommentare und hieß Rudolf Augstein. Alle 14 Tage vertrat er im SPIEGEL den immer gleichen Standpunkt zum immer gleichen Thema: Realpolitik sei besser als Kriegspolitik. Er wiederholte sich dabei so hemmungslos und schamlos, dass er von jedem vorgesetzten Medienkollegen auf der Stelle gefeuert worden wäre, hätte es einen gegeben. Er schrieb einfach immer dasselbe: Man dürfe keinen Unrechtsstaat militärisch angreifen, so schlimm der auch sei, denn sonst müsse man noch 50 andere angreifen, die noch viel schlimmer seien. Zudem züchte der Krieg stets noch mehr Gewalt. In seinem letzten Kommentar wenige Tage vor seinem Tod agitierte er erneut gegen den Irakkrieg und lobte Kanzler Schröder für dessen militärische Zurückhaltung.
Das ist lange her. Die Haltung, die Entschiedenheit, die Strahlkraft. Heute gibt es keinen Journalisten, der Vergleichbares in Sachen Afghanistan sagt. Politiker schon. Lafontaine, Gysi, Ströbele und manche Basis-Grüne, die gesamte Führungsriege der Linkspartei. Aber keine Journalisten. Die übernehmen die Sprachregelungen der regierenden Parteien.
Das ist sehr seltsam. Denn diese Sprachregelungen sind ja schon auf den ersten Blick falsch. Noch nie waren Begründungen für einen Krieg so offensichtlich falsch wie bei diesem. Nehmen wir allein die ersten drei: Ohne die Bundeswehr würden die Taliban dort Terroristen ausbilden. In Wahrheit kontrollieren die Besatzungstruppen nur ein paar Städte, und die Taliban bilden weiter aus, wen und wo sie wollen. Andernfalls hätten sie noch mindestens 20 andere chaotische Dritte-Welt-Staaten, in denen sie wunderbar ihre Terrorcamp-Zelte aufschlagen könnten. Oder: Die Bundeswehr ist für den zivilen Aufbau da. In Wahrheit traut sie sich aus ihren Bunkern nicht raus und überläßt 90 Prozent des Gebietes sich selbst. Zudem bewirken ein paar hundert Aufbauhelfer in einem Staat von dieser Größe gar nichts. Genauso gut könnte man behaupten, ein paar Hundertschaften Bauarbeiter in Wuppertal veränderten Deutschland. Oder: Die Luftschläge schrecken Terroristen ab und sind auch gegen den Opiumanbau gut. In Wahrheit haben die Bomben aus heiterem Himmel dieselbe Wirkung wie in Vietnam. Sie schweißen das Volk zusammen, inklusive Taliban. Und der Opiumanbau hat sich vervielfacht, seitdem wir da sind. Inzwischen ist der Weltmarkt mit afghanischem Opium geradezu überschwemmt. Oder, dritthäufigste Lüge, man dürfe erst rausgehen, wenn man die Polizei und die Sicherheitskräfte dort ausgebildet habe. Seit acht Jahren wird das nun behauptet und gebetsmühlenhaft wiederholt, ohne dass einer unserer namhaften Journalisten das mal nachgeprüft hätte. Dabei ist es offensichtlich die pure Spinnerei. Ein paar hundert hat man ausgebildet in dem ganzen Jahrzehnt, ein paar hunderttausend wären nötig gewesen. Wie sollen die paar verschreckten Zivis und Angsthasen in Uniform das auch schaffen? Es ist Blödsinn, aber keiner sagt es, besser: keiner schreibt es.
Das alles ist bekannt und sonnenklar. Regierende Politiker dürfen das wahrscheinlich nicht sagen. Das ist beschämend genug, aber wenigstens nachvollziehbar. Sie stehen halt unter dem Druck der Amerikaner. Aber die Journalisten? Warum lügen sie mit? Wer oder was treibt sie zu schreiben, unsere Armee sichere am Hindukusch unsere Freiheit? Man dürfe die Afghanen jetzt nicht im Stich lassen? Man sei nicht kopflos da reingegangen und werde jetzt nicht kopflos rausgehen, und so weiter? Warum schreibt keiner: doch, wir sind da kopflos reingegangen, und die 90 Prozent, die wir gar nicht erreichen, sind heilfroh, wenn die todbringenden Bomber endlich vom Himmel verschwinden. Und unsere Freiheit haben wir mit der absurden Militärpräsenz nicht verteidigt, sondern gefährdet, und zwar fundamental. Weil jeder von uns getötete Muslim die Taliban erst stark gemacht hat.
Warum schreiben die Kollegen das nicht? Schlägt die mehrheitliche Empörung in der Bevölkerung deshalb nicht in Massendemonstrationen um? Ja, nicht einmal in eine geänderte Wahlentscheidung? In drei Tagen werden die allermeisten Menschen jene Parteien wählen, deren Kriegslügen sie durchschauen. Und das ist vielleicht gar nicht einmal ihre Schuld.
Es ist ein Versagen des deutschen Journalismus, dem zu vertrauen die Menschen in sechs demokratischen Jahrzehnten gelernt hatten. Gut, dass Rudolf Augstein schon tot ist. Er hätte diesen Niedergang seines Berufsstandes nicht überlebt.
JOACHIM LOTTMANN
(Der Autor veröffentlicht heute seinen neuen Roman ‚Der Geldkomplex‘, Kiepenheuer & Witsch, 322 Seiten, Euro 9,95)“
DER GELDKOMPLEX im Netz: lottmann_dergeldkomplexlr1