von 01.03.2011

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Lernen, lernen, lernen – Freizeit kommt im Lehrplan zu kurz (Foto: Laura Bernschein)

Das Hobby zum Beruf machen. Oder zumindest etwas anderes, was einem Spaß macht. Gedanken, die fast jedem, der über seine berufliche Zukunft grübelt, in den Sinn kommen werden. Abwegig sind diese Gedanken sicher nicht, auch wenn die deutsche Bildungspolitik ihr bestes tut, um Umstände zu schaffen, in denen sie genau das werden.

2016 ist es so weit. Die Umstellung auf das G8 wird deutschlandweit vollzogen sein, mit Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein werden die letzten Bundesländer ihre letzten G9-Jahrgänge zeitgleich mit den ersten Abiturienten des G8 in die Studien- und Berufswelt entlassen. Der Jahrgangsclash ist nur der Auftakt an Verschlimmbesserungen, die das neue System mit sich bringt – und im Gegensatz zu den restlichen ist es eine einmalige.

„Irgendwas mit Medien“, antworten viele zukünftige Abiturienten, auf die Frage, was sie denn später studieren wollen. Eine Aussage, die fast schon zur geflügelten Sprechweise geworden ist. Ähnlich populär: „irgendwas mit Menschen/Kindern“. Mediale und soziale Studiengänge also. Studiengänge, die durch das G8 in kräftiger Zusammenarbeit mit dem verstaubten Numerus Clausus-Aufnahmeverfahren der meisten Studiengänge, ad absurdum geführt werden.

Das achtstüfige Gymnasium fordert seinen Tribut früh. Bereits Fünftklässler verbringen ihre Nachmittage an der Schule, damit der Lehrplan durchgebracht werden kann. Hausaufgaben und Lernaufwände stehen auch noch an. So hat ein Sechstklässler im G8 trotz der immens höheren Anzahl an Schulstunden zu Hause mehr Arbeit zu erledigen als ein Zehntklässler im G9, wie der Focus berichtet.

Die größten Streichungen nimmt das G8 nicht im Lehrplan vor, sondern in der Freizeit. Und so gefährdet es das Unternehmen „Hobby zum Beruf machen“. Wer nicht die freie Zeit hat, ein Hobby zu entwickeln oder auszuleben, der kann natürlich auch später im Studium keines vertiefen. Doch selbst wer einer solchen Beschäftigung nachgeht, hat oft das Nachsehen. Hier kommt der Numuerus Clausus – kurz NC – ins Spiel.

Denn wer ein gutes Abitur haben will, der muss seine Energie in die Schule stecken, und das im G8 so sehr wie kaum jemals zuvor. Wer Kompetenzen auf einem Gebiet aufbaut, das hauptsächlich in der Freizeit stattfindet, hat die Zeit dafür nicht, wie etwa eine Reportage der ARD zeigt. Umso sinnentleerter ist es da, einen NC bei einem Fach einzufordern, das auf Interessen außerhalb der Schule basiert. Beispiel Filmwissenschaften: Der kompetenteste Anwärter auf diesen Studienplatz ist nämlich derjenige, der sich aus eigenem Antrieb heraus schon viel mit Filmen beschäftigt hat – anstatt zu lernen. So kommt er dann auf einen Notendurchschnitt, der nicht ausreicht, um das zu studieren, wofür er am geeignetsten wäre. Andere hingegen, die ihre Zeit in nichts als Noten investiert haben, qualifizieren sich für das Studium.

Sogar traditionell von der Schule geförderte Bereiche leiden unter diesem Systemfehler. Theatergruppen, Technik-AGs oder Musikkurse können sich in den strengen Stundenplänen nicht mehr behaupten und bleiben auf der Strecke. Und die sozialen Studiengänge? Nun ja, wie soll ein Kind soziale Kompetenzen aufbauen, wenn es seine Nachmittage am Schreibtisch statt bei Freunden verbringt? Eben.

Das Problem liegt im System. Es fordert die volle Energie der Schüler, während das veraltete Aufnahmeverfahren durch Numerus Clausus beibehalten wird. Die Kinder und Jugendlichen werden ihrer Freizeit und damit Erfahrungen, die zur Persönlichkeits- und Interessenentwicklung wichtig sind, beraubt, weil sie sonst keine Chance auf einen Studienplatz haben, der vielleicht auf eben diesen Entwicklungen aufbaut. Und dann kommen sie gleich in die nächste in Grund und Boden skalpierte Misere: Dann winkt nämlich das Bachelor-Studium. Eine neue Antwort auf die Frage, was sie später machen wollen, sollten sich die Schüler auch ausdenken. Mein Vorschlag: „Irgendwas mit guten Noten.“

Text: Jan-Niklas Jäger

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