vonWolfgang Koch 03.05.2007

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Es passiert mir immer wieder, dass sich gegen Ende meiner Friedhofsführungen jemand aus dem Gruppe löst, zu mir an die Spitze des Zuges eilt und die schwierige Frage stellt: »Warum haben die Wiener so eine besondere Beziehung zum Tod?«

Obwohl ich mich seit vielen Jahren mit der Sepukralkultur im allgemeinen und der schönen Leich‘ im besonderen beschäftige, kommt mir eine Antwort schwer von den Lippen. Das hängt zunächst damit zusammen, dass schon viele andere vor mir diese Frage zu beantworten versucht haben.

Was wurde da nicht alles ins Treffen geführt? Von der Charakterlosigkeit des Wieners bis zu seinem angeblichen Hang zur Melancholie. Eine latente Depression in der Seele wurde behauptet, die nicht zwischen Lebenden und Toten unterscheiden mag; eine lokale Spielart der Weltlust, die die Ars moriendi (die Kunst des heilsamen Sterbens) braucht, um sich pudelwohl im Leben zu fühlen, usw. usf.

Man hat schliesslich diese legendäre Beziehung des Wieners zum Sterben überhaupt in Abrede gestellt. Sein Hang zu Skeletten und Särgen, zu Pompfunebre und Schmachtfetzen, hiess es, sei ihm ganz zu Unrecht angedichtet worden.

Tatsächlich haben die abendländische Totenkulte ja nicht gerade zwischen Nussdorf und Simmering das Licht der Welt erblickt. Nehmen wir nur einmal die monumentalen Totentanzmalereien in Europa her, oder die Totentanzliteratur – beides ist gut erforscht, und nur ein einziges Mal stand Wien in den sieben Jahrhunderten ihrer Existenzen im Mittelpunkt.

Warum – andere Frage – hat der Wiener eine besondere Beziehung zum Wein? Das ist leichter zu beantworten. Die Stadt hat ein halbes Jahrtausend lang vom Export dieses Lebens- und Genussmittels donauaufwärts gezehrt. Der sentimentale Ausfluss der Heurigenkultur, er beruht bis heute auf knallharten ökonomischen Fakten. Man schaue sich nur mal den Bustourismus im Weinort Grinzing an.

Der Wiener Kult um die Vergänglichkeit alles Seienden – er hat sicher keine ökonomische Ursache. Die schwarze Seite des Wieners entspringt vielmehr einer ganz bestimmten historischen Epoche, nämlich der zwischen 1600 und 1750, also der Barockzeit. Damals bekam der Tod in der europäischen Kultur ein Doppelgesicht. Im gleichen Mass, wie seine Darstellung immer erschreckende Züge annahm und dazu neigte, allgegenwärtig zu werden, im gleichen Mass begegneten die Menschen seiner Realität um unerschrockener und selbstbewusster.

Wir reden viel und gerne von der Epoche der Aufklärung. Das ist gut so! Doch dass auch die Jahrzehnte davor etwas zum modernen Bewusstsein beigetragen haben könnten, das kommt uns nur schwer in den Sinn.

Dabei beschreibt dieser kontrastreiche Gegensatz vom Allgegenwärtigkeit und Furchtlosigkeit des barocken Todes genau die psychologische Disposition, die die WienerInnen zum Hinscheiden einnehmen: Ich fürchte dein schreckliches Antlitz nicht, weil ich dich im Finsteren sehen kann! Mögen andere diesen Gedanken makaber nennen, geschmacklos oder sentimental, dem Wiener ersetzt er ganze Bibliotheken von Schuld und Gnade, von Verdammnis und Erlösung.

Das Barock war eine Epoche des kirchlich gepredigte Sinnes für alles Angsteinflössende. Gewiss. Aber es war eben auch eine Epoche, die äusserst opulente Antworten auf den christlichen Sündenfall formulierte.

Es kann kein Zufall sein, dass der berühmte Todtenspiegel des Abraham a Sancta Clara der einzige originäre Beitrag Wiens zum westlichen Totenkult war. Wenn diese Buspredigt je als malerische Ausstattung der Totenkapelle zu Loretto (der Wiener Hofkirche) existiert hat, dann wurde er mit der Kapelle 1784 zerstört.

Worum ging es in diesem Werk? Dem Menschen wurde in der Busspredigt Abraham a Sancta Claras ein Spiegel vorgehalten: gewalttätig und obszön. Alles Furchterregende des Todes löste sich auf in einer Pornographie des Grauens. Das Klapperl, der Klapperhans, aber war fortan kein Mächtiger mehr, sondern bloss ein Bevollmächtigter, kein unhintergehrbarer Abgrund der Existenz mehr, sondern bloss ein Rädchen im Getriebe des Weltgeschehens.

Diese Linie entlang läuft das besondere Verhältnis des Wieners zum Tod.

© Wolfgang Koch 2007
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