Vor einigen Monaten schon habe ich hier einen Text eingestellt, der sich mit den schlimmen Zuständen im Prenzlauer Berg (nicht jedes Kind darf auf eine gestalttänzerische Förderschule!) beschäftigt hat, unter dem zutreffenden Titel Die geschundenen Kinder vom Prenzlauer Berg (und der, nebenbei bemerkt, auch in meinem druckfrischen Buch In Bed with Buddha enthalten ist). Diesen trug ich unlängst bei der Reformbühne Heim & Welt erneut vor, was den im Prenzlauer Berg ansässigen Kollegen Jakob Hein zu einer, wie ich neidvoll zugestehen muss: sehr lustigen Replik motiviert hat:
::
Das Geständnis
(c) Jakob Hein
Hallo. Mein Name ist Wilko. Wilko Werning. Wo ich herkomme? Aus dem Wedding. Wie bitte? Wilko Werning aus dem Wedding. Ich glaube, das habe ich schon mal gehört. Und: Leute sind für weniger gestorben.
Meine Eltern sehen mich als ein soziales Experiment. Sie sind als Akademiker in den Wedding gezogen, wo sie probiert haben, einfach unter den Einheimischen zu leben. Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht genau. Mein Vater ist Biologe, vielleicht wollte er die Artenvielfalt dort studieren. Er hat schnell Kontakt zu den Einheimischen gefunden und ist mit ihnen zahlreiche Tauschbeziehungen eingegangen. Sie haben ihn schließlich als den weißen Mann in ihrer Mitte akzeptieren gelernt. Dadurch hatte er die Möglichkeit, zahlreiche, viel beachtete wissenschaftliche Publikationen über Leben und Sterben im Wedding zu veröffentlichen. Immerhin sind sie also nicht erst nach meiner Geburt dahingezogen. Was ich ihnen zum Vorwurf mache ist, dass wir nach meiner Geburt nicht dort weggezogen sind. Meine Eltern wollten sehen, ob es möglich ist, dass ein Kind westdeutscher Akademiker auch im Wedding überlebt, ohne dass diese Akademiker vorher den Wedding in eine leicht modifizierte Version der Braunschweiger Fußgängerzone transformiert haben. Man kann das vielleicht am besten mit dem Auswildern von Tieren vergleichen, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind. Während mein Vater noch der freundlich akzeptierte Ausländer war, wollte er, dass ich wirklich einer von ihnen werde.
Sie haben mich dann an der Harald-Juhnke-Grundschule im Soldiner Kiez angemeldet. Selbst Tarik, Achmed und die ganzen anderen Väter aus der Seestraße haben zu meinem Vater gesagt, dass das doch vollkommen unnötig sei, sie würden ihre Kinder dort niemals anmelden, die Grundschule um die Ecke sei doch ausreichend urwüchsig. Aber es musste der Soldiner Kiez sein. Meine Eltern sind jeden Morgen eine Stunde gefahren, nur um mich dort hinzubringen. Am Nachmittag holten sie mich immer ab, ich war froh, endlich wieder Erwachsene zu sehen. Denn Erwachsene bedeuteten immer gute Nachrichten für mich an der Juhnke, egal, ob es nun meine Eltern oder die Uniformierten vom SEK waren, die meistens Mittwoch vorbeikamen.
Wenn ich meinen Vater fragte, ob es denn irgendwo wirklich solche Schulen geben würde wie in meinen Büchern, wo Erwachsene Buchstaben an Tafeln malte, dann knirschte er zwischen seinen Zähnen hervor, dass es solche Schulen wohl im Prenzlauer Berg geben würde, dass so was aber nichts für uns Weddinger sei.
In der Pubertät begehrte ich dann auf. Ich setzte durch, dass ich zu einer Realschule in Reinickendorf gehen durfte. Dort entwickelte ich mich zum Ärger meiner Eltern schnell zu einem der besten Schüler. Ich war so begeistert von der Möglichkeit zu lernen ohne zu prügeln und freute mich, meine ersten Lehrer ohne Uniform jeden Tag wieder begrüßen zu können. Schließlich bekam ich sogar eine Gymnasialempfehlung. Meine Lehrer meinten, meine besondere Stärke sei die Mathematik. Da gebe es die Heinrich-Hertz-Oberschule in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg.
Meinen Eltern sagte ich, dass ich die Schule abgebrochen habe und mich den ganzen Tag mit meinen alten Kumpels aus der Juhnke in der Spielothek treffen würde. Das machte sie stolz und ich bekam immer einen Schein unter mein Kopftuch gesteckt. Heimlich fuhr ich dann zu Severin, der am Kollwitzplatz wohnte, wo ich meine Unterrichtsmaterialien und ein paar Klamotten zum Umziehen versteckt hatte. Am Nachmittag machte ich hier noch die Hausaufgaben und gurgelte mit dem Wein seiner Eltern, um auch ja nach Alkohol zu riechen, wenn ich nach Hause kam. Bevor ich nach oben ging, hing ich meistens noch ein paar Minuten vor „Maximilian’s Spezialitäten“ herum, um den Milchkaffee-Geruch aus den Klamotten zu bekommen. Kiffen musste ich nicht mehr, das hatten mir meine Eltern erlaubt.
Was ich heute beruflich mache, ist schwer zu erklären. Ich habe Mediengestaltung und Politikwissenschaften studiert. Ich beurteile den Wert von Werbeagenturen anhand ihrer Kampagnen und bewerte dann deren Börsenwert mit Hilfe eine Internet-Portals, dass ich in einer Art Joint-Venture der Zigarettenindustrie und der Atomstromanbieter aufgebaut habe. Die prognostizierten Werte verkaufe ich dann als Optionen an global operierende Hedge-Fonds. Das Geschäft läuft ganz gut. Ich habe mir kürzlich eine ziemlich große Wohnung in der Lottumstraße gekauft, der Makler hat gesagt, das Haus sei früher einmal besetzt gewesen. Das Beste daran war, dass ich zwei Plätze in der Tiefgarage dazu bekommen habe, weil ich sonst nicht gewusst hätte, ob ich den Jeep oder den Jaguar auf der Arbeit unterstellen soll.
Meinen Eltern kann ich nicht sagen, was ich mache. Sie glauben immer noch, dass ich Hartz-IV beziehe. Damit sie nicht fragen, ob sie mich einmal besuchen können, habe ich ihnen gesagt, dass ich ohne festen Wohnsitz bin. Sie sahen richtig gerührt aus.