vonJakob Hein 22.08.2007

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Am Sonntag las mein Kollege Jakob Hein bei der Reformbühne Heim & Welt einen Text zu der bizarren Diskussion um den in der Birthler-Behörde “entdeckten” Schießbefehl vor. Es ist mir gelungen, ihm dieses Dokument zur Veröffentlichung im “Reptilienfonds” abzutrotzen, womit bitte diese Debatte nunmehr als abgeschlossen zu werten ist.

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Architektonische Spitzenleistung

„Genossen, ich begrüße Euch zu unserer heutigen, außerordentlichen Regimentsversammlung mit dem Gruß der Freien Deutschen Jugend ‚Freundschaft!’“

„Freundschaft!“

„Einziges Thema des heutigen Tages ist das Verhalten des Genossen Gefreiter Hoffmann im Postenbereich in der Wachschicht vom gestrigen Mittwoch. Genosse Feldwebel Bollmann, Sie waren der Diensthabende. Wenn Sie kurz Bericht erstatten würden!“

„Zu Befehl, Genosse Regimentskommandeur! Gestern, Mittwoch, den 18. Mai 1978 übernahm der Zug IV der Dienstgruppe 2 die dritte Wachschicht im Postenbereich 12. Die Wachübergabe verlief planmäßig, es wurden keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Gegen 22.37 Uhr dann wurde von den Genossen Hoffmann und Fellner beobachtet, wie sich eine Person dem Grenzbereich näherte. Auf Ansprache der wachhabenden Genossen reagierte die Person nicht, sondern schien weiterhin mit dem Versuch beschäftigt, das Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik auf illegale Weise zu verlassen. Nachdem die Person mehrfach von den Genossen Hoffmann und Fellner angesprochen worden war, nahm der Genosse Hoffmann seine Dienstwaffe in die Hand und unternahm Anstalten, daraus einen Schuss in Richtung der Person abzugeben. Dies konnte nur durch das besonnene Handeln vom Genossen Fellner verhindert werden. Dieser beschlagnahmte die Dienstwaffe des Genossen Hoffmann und brachte ihn unverzüglich zum Diensthabenden Offizier der Wache. Ich veranlasste die sofortige Herausnahme des Genossen Hoffmann aus der Wache und meldete das Vorkommnis gemäß der Befehlskette an meinen vorgesetzten Offizier.“

„Vielen Dank, Genosse Feldwebel. Genosse Hoffmann, was haben Sie zu diesem Bericht zu sagen?“

„Na ja, das stimmt alles so ungefähr, Genosse Regimentskommandeur.“

„Können Sie mir sagen, was Sie zu ihrem Handeln bewogen hat?“

„Wir waren auf Wache und ich habe diese Frau gesehen, wie sie rübermachen wollte. Und dann haben wir ihr zugerufen, dass sie zu uns kommen soll, und als sie das nicht gemacht hat, wollte ich von der Dienstwaffe Gebrauch machen.“

„Und warum, um Himmels willen, wollten Sie von der Dienstwaffe Gebrauch machen?“

„Die Frau wollte fliehen und ich war auf Wache, ich dachte, es sei das Normalste von der ganzen Welt, dass ich auch auf meine Dienstwaffe zurückgreife.“

„Sie dachten also. Sie dachten! Genosse Hoffmann, was ersetzt das Denken für den Soldaten?“

„Die Befehle?“

„Wie bitte!“

„Die Befehle.“

„Genau! Und: Hatten Sie einen Befehl auf diese Frau zu schießen?“

„Nein, nicht direkt.“

„Was heißt hier: Nicht direkt? Hatten Sie oder hatten Sie nicht?“

„Nein.“

„Und warum wollten Sie dann schießen?“

„Na, wir sollen doch die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik schützen.“

„Ja genau, das ist Ihr Auftrag. Das, und nicht blindwütig auf irgendwelche unbescholtenen Bürger der DDR zu schießen. Mein Gott, was da alles hätte passieren können, ist ja nicht auszumalen! Haben Sie darüber mal nachgedacht?“

„Nein.“

„Wie bitte? Sollte das ein Nein gewesen sein? Können Sie sich vorstellen, welchen Eindruck es machen würde, wenn Angehörige der Grenztruppen der DDR auf ihre eigenen Bürger schießen? Das wäre ein gefundenes Fressen für die westlichen Hetzmedien. Die würden ja denken, wir müssen mit Waffengewalt verhindern, dass uns die eigenen Bürger weglaufen, die wir doch schützen müssen.“

„Na ja. Ich dachte, wir bekommen diese Gewehre und es gibt die Selbstschussanlagen und überall ist Stacheldraht und scharfe Hunde und ein hundert Meter breiter Grenzstreifen, der immer sorgsam geharkt wird, um Fußabdrücke zu erkennen, und alles ist hell beleuchtet und wir laufen zu zweit oder zu dritt über sehr kurze Postenbereiche, da dachte ich eben, wir sollten notfalls auch die Schusswaffe einsetzen.“

„Ich habe Ihnen schon mal gesagt, der Soldat braucht sein Gehirn nicht zum Denken, sondern zum Entgegennehmen von Befehlen. Ich hoffe, dass das heute alle hier verstanden haben. Wir schützen die Staatsgrenze der DDR vor feindlichen Übergriffen durch imperialistische Aggressoren und achten auch darauf, dass unsere Bürger nicht versehentlich das Grenzgebiet betreten, um sie vor der Gefahr zu bewahren, faschistisch-imperialistischen Aggressoren zu begegnen sowie die gärtnerisch-architektonische Spitzenleistung unserer Grenztruppen zu beschädigen. Dies erfolgt, indem wir die Bürger freundlich, aber bestimmt auf ihr Versehen hinweisen und nicht anders. Sollten die betreffenden Bürger tatsächlich die Absicht haben, das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet zu betreten, geben wir sachdienliche Hinweise, wie sie sich zum nächsten offiziellen Grenzübertrittspunkt begeben können. Der Genosse Hoffmann wird bis auf weiteres vom Wachdienst abgezogen und in die Küche versetzt, der Genosse Fellner erhält zwei Tage Sonderurlaub sowie als besondere Auszeichnung ein Foto vor der Truppenfahne. Kompanie abtreten!“

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https://blogs.taz.de/jakob-hein-zum-neu-entdeckten-schiessbefehl/

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