Wie entstehen in der taz die Titelseiten? Unser Chef vom Dienst erklärt, wie es zu dem Papst-Titel “Oh, mein Gott” kam – und über welchen Titel er sich schämt. In den vergangenen Wochen konnten die Leser aus 60 taz-Titeln die Titelseite auswählen, die ihnen am besten gefällt – wir zeigen hier die besten neun taz-Titel. Das Interview mit Klaus Hillenbrand führte Luise Strothmann.
Klaus, du machst seit über 20 Jahren regelmäßig die Seite eins. Weißt du schon, wie die taz-Titelwahl ausgegangen ist?
Nein, sagst du’s mir?
Rate doch mal!
Der Papst ist auf jeden Fall ganz weit oben! Hm. Dieser Klinsmann könnte auch dabei sein, weil er relativ frisch ist. Und Merkel.
Nicht schlecht. Papst, Bush und Merkel sind’s. Der Papst kam von dir sofort – warum musste diese Seite funktionieren?
Weil es die maximale Reduktion einer Nachricht war. Alles schwarz, und was im Mittelpunkt stand, war nicht mehr die Nachricht, sondern die Kommentierung. Dann ist die Seite eins am stärksten. Wenn du eine Geschichte hast, die jeder schon kennt. Wir müssen nicht mehr schreiben: Übrigens, ein neuer Papst ist gewählt, und es handelt sich um Ratzinger. Wir können sofort kommentieren: Oh, mein Gott! Dass ist der Trick der Seite eins: Je bekannter die Nachricht, desto mehr kann man spielen.
Jetzt mal richtig “Sendung mit der Maus”: Wie entstehen solche Seiten?
Die spontane, geniale Idee ist der Idealfall, die Regel ist: viel Arbeit. Immer einer der Chefs vom Dienst – kurz CvDs – ist für die Seite eins zuständig. Der oder die kommt um acht, liest erst mal Nachrichtenagenturen und überlegt: Welche Themen gibt es für die Seite eins? Nach der großen Morgenkonferenz hat man dann so drei oder vier Themen. Dann fragt man rum: Korrespondenten, ob genug dahintersteckt. Die Fotoredaktion, wie man das bebildern könnte. Dann kommt die Konferenz um halb zwei, da stelle ich vor: Wir haben das hier und das und möglicherweise noch das hier. Und ich wäre für dieses Thema. Dann sagen die anderen: Super. Oder sie sagen: Nee, das ist doch vollkommen beknackt. Und dann geht man noch mal in sich.
Wie hab ich mir das denn vorzustellen? Du sitzt allein an deinem Schreibtisch und malst Kringel?
Nein, das wär ja furchtbar. Da ist noch ein anderer CvD, der dir gegenübersitzt, und die Fotoredaktion neben dir. Und die Chefredaktion, die regelmäßig vorbeikommt. Zusammen überlegt man. Und es gibt eben Tage, da hat man überhaupt keine Idee.
Und dann?
Dann frage ich die Leute, die durch den Raum gehen. Geniale Schlagzeilen entstehen oft so. Die Überschrift “Münte is Beck” zum Beispiel stammt von einem Wirtschaftsredakteur, der bei keiner Konferenz war, aber er lief bei uns vorbei und meinte einfach so: Macht doch “Münte is Beck”.
Hat schon mal ein Praktikant die Schlagzeile gemacht?
Klar, öfter. Ich gehe ständig zu Praktikanten und in die Korrektur, zu Leuten, die weniger in der Nachrichtenlage drin sind, und frage: Verstehst du diese Schlagzeile? Wenn jemand dann die Stirn runzelt, weiß ich, das kann ich vergessen. Und wenn er anfängt zu lachen, ist es natürlich toll. Die Gefahr ist groß, dass Überschriften verkopft werden. Man beschäftigt sich Stunden mit einem Thema und findet seine Überschrift am Ende ganz toll, aber Menschen, die von dem Thema noch nie etwas gehört haben, begreifen überhaupt nichts.
Ist das eigentlich anstrengend, immer lustig sein zu müssen?
So lustig sind wir ja auch nicht. Das bleibt zwar im Kopf der Leute hängen, aber tatsächlich kommt das einmal in der Woche vor. Es gibt aber Tage, wo man denkt, da muss jetzt was Witziges her, weil das Thema sich anbietet – zum Beispiel Wahlkampf, eine Steilvorlage für einen Gag -, und dann sitzt man da ohne Idee. Das kann extrem anstrengend sein.
Nervt es dich, dass die taz-Titel oft auf witzig reduziert werden?
Ja, schon. Es geht nicht nur darum, witzig zu sein, sondern darum, die wahre Geschichte zu bringen, den Hintergrund mit in die Überschrift zu bekommen oder Originalität. Du kannst keine witzigen Überschriften machen über Krieg oder Naturkatastrophen. Letzte Woche, als wir die Geschichte gemacht haben mit den Namen der Ermordeten in Teheran, da verbot sich alles Witzige. Aber du kannst trotzdem eine originelle Titelseite machen, weil keine andere deutsche Zeitung ihre erste Seite für so ein Thema frei räumen würde.
Gibt es eine Seite eins, für die du dich schämst?
“Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord”. Da ist ein Kind in Sachsen ertrunken, und die Mutter – und eine Zeit lang auch die Polizei – glaubte, es sei von Neonazis ertränkt worden. Aber es stimmte nicht. Da ist die taz übers Ziel hinausgeschossen. Witzig oder nicht: Als Erstes muss die Nachricht stimmen.
Wirst du bei Ausrutschern auf Titelseiten angesprochen?
Klar! Das geht so weit, das meine Mutter anruft und sich beschwert.
Setzt ihr manchmal ein Thema auf die Seite eins, weil euch dazu so eine schöne Zeile einfällt?
Ich wüsste kein Beispiel. Das ist ja die Logik von Boulevardzeitungen, die haben eine Zeile, und dann machen sie die entsprechende Eins. Das wollen wir nicht. Das Wichtige ist nicht die lustige Schlagzeile, sondern die Message, die Nachricht, die wir bringen wollen.
Hast du Überschriften im Kopf, die du irgendwann machen möchtest?
Eine gibt es, die weiß ich schon seit fünf Jahren. Die mache ich, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt. Aber ich sage dir natürlich nicht, welches.
Hast du schon eine Schlagzeile für Schwarz-Gelb?
Nein, so arbeiten wir nicht. Uns wurde das manchmal unterstellt. Bei “SPD deutlich über 5 Prozent” hat sich die Berliner SPD beschwert und gemutmaßt, da hätten wir wochenlang dran gearbeitet. So was ist Quatsch.
Ist die taz-Seite-eins vielleicht manchmal auch einfach ein Trick, das Beste aus einer Mangelsituation zu machen? Hübsche Verpackung für mäßige Geschichten?
An der Kritik ist schon was dran. Die Seite bringt den Knalleffekt, und oft ist wenig dahinter. Wir haben einen tollen Titel, dann blätterst du um, und die Nachricht ist relativ konventionell und nicht gerade exklusiv. Andere Zeitungen haben einen öden Titel, sind aber manchmal inhaltlich besser, weil sie mehr Leute haben und mehr Kohle. Allerdings ist es auch oft genau andersherum.
Inwiefern?
Dass du direkt merkst, dass es hier eine Menge Leute gibt, die extrem gute, genau recherchierte Texte machen. Das kriegst du nämlich dann zu spüren, wenn du mit ihnen dazu eine Seite eins machst und sie deine Worte genau abklopfen. Wir CvDs sind ja keine Spezialisten, wir verstehen uns als Blattmacher. Unser Ziel ist es, eine Zeitung zu machen, die maximal interessiert. Ich denke dabei auch oft in boulevardesken Schlagzeilen, natürlich. Du musst Spaß an so was haben, Spaß, mit Sprache zu spielen. Die Spaßbremse kriegst du automatisch eingebaut, weil wir genügend Kollegen hier haben, die darauf achten, dass der Inhalt wirklich haargenau stimmt.
Klaus Hillenbrand, Jahrgang 1957, kam in den Achtzigern als Praktikant zur taz. Seine erste Stelle hatte er als Asienredakteur – ohne je in Asien gewesen zu sein. Später leitete er das Inlandressort. Heute ist er als Leiter des CvD-Büros Chef der Titelchefs. Das Interview mit ihm erschien am Wochenende in der Sonntaz.
So entstand der Papst-Titel “Oh, mein Gott”
Es ist der 19. April 2005, halb sieben abends. Normalerweise ist die Seite eins der taz um diese Zeit schon lange fertig. Aber der Vatikan tagt noch. Um 18.43 Uhr kommt die Eilmeldung: Ratzinger ist Papst. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Zwei, drei Minuten Ideen, fünf Sekunden Entscheidung. Der Vorschlag kommt von Jens König, damals Chef vom Dienst: Schwarze Seite, “Oh, mein Gott!” in Weiß. Jens König: “Die Aussage ist, Ratzinger ist scheiße, aber es sollte eben nicht so plump kommen.” Es wurde dann leider nur die zweitmeist erwähnte Seite des Tages (nach dieser hier). Der Trost, vier Jahre später: 916 taz.de-User wählten den Titel auf taz.de zur Nummer 1.
So entstand der Titel “Bushs historische Rede”
Am 23. Mai 2002 hält US-Präsident Bush eine Rede im Bundestag. In der taz läuft der Fernseher. Redakteure kreisen drum herum, bleiben stehen. Dann bricht es heraus: “Das war doch nichts!” Was schreibt man über so eine Rede? Carlo Ingelfinger, Chef des Schwerpunktressorts, schlägt vor, die geplante Seite drei weiß zu lassen. So wird es beschlossen. Kurz darauf telefonieren die Chefs vom Dienst mit dem Parlamentsbüro, erzählen von der etwas anderen Berichterstattung. Von den Korrespondenten kommt sofort: Das muss eine Eins werden, das wäre doch verschenkt! Der zweite Platz bei der taz-Titelwahl mit 739 Stimmen bestätigt: richtige Entscheidung.
So entstand der Merkel-Titel “Es ist ein Mädchen”
Selten hat ein Titel in der taz so lange überlebt. Chefin vom Dienst Frauke Schirmbeck hatte die Schlagzeile schon für den 19. September 2005 gemacht, den Tag nach der Bundestagswahl. Dass Merkel Kanzlerin wird, schien klar. Als erste Frau, Kohl nannte sie “mein Mädchen”, also: “Es ist ein Mädchen.” Aber dann kam der Wahlabend und das knappe Ergebnis. Für die Seite hieß das: Geburtstermin verschoben, Überlebenschancen unsicher. “Titelseiten werden schnell wieder verworfen”, sagt Frauke Schirmbeck. Das Mädchen überlebte: Am 11.Oktober wurde der Titel gedruckt. Bei der taz.de-Titelwahl bekam er 616 Stimmen, Platz 3.