Ich habe das Theater am Rand wieder nicht gefunden, obwohl ich sicher schon zehn mal da war. Eigentlich ist es gar nicht zu verfehlen, es liegt nämlich direkt an der Oder in Zollbrücke im Oderbruch. Aber das Oderbruch ist von Irrwurzeln durchzogen – immer wenn man denkt, jetzt hat man die Richtung zur Oder, bäumt sich die Straße wieder nach einer anderen Seite weg, ohne einem Alternativen anzubieten. Und dann die Orte; ich kann doch nicht dauernd anhalten und auf der Karte suchen. Aber ich kann mir auch nicht merken, ob es nun Neuletschin, Neutrebbin, Neulewin oder Neuküstrinchen war, wo ich abbiegen musste, ob es die Güstebieser Loose oder die Zäckericker Loose oder was für eine Loose war, die ich zu durchqueren hatte.
Es ist die Geschichte des Oderbruchs, in der ich mich verirre. Die tausend Quadratkilometer waren ursprünglich Sumpf- und Wassergebiet und wurden vor 250 Jahre trocken gelegt. Das Gebiet ist von Hunderten von Entwässerungsgräben durchzogen, die auch heute noch den Straßen ihren Verlauf diktieren und benachbarte Ortschaften auf komplizierten Zickzackwegen verbinden.
Das Theater am Rand lädt heute Abend zu einem Vortrag über die Wasserwirtschaft im Oderbruch unter dem schönen Titel „Flut und Vorflut“ im Oderbruch. Als ich endlich die entscheidende Stichstraße Richtung Deich gefunden habe, erhebt sich vor mir, dunkel abgehoben vom schneebedeckten Untergrund, ein monströser Bau aus hölzernen Bauelementen aller Art. Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann haben 1998 in einem kleinen Fachwerkhaus nebenan mit ihrem Theater begonnen, das zunächst als Kuriosität, dann als ländlich-kultureller Leckerbissen schnell in der ganzen Region bekannt wurde. Den wachsenden Zuschauerzahlen wurde eine Freiluftbühne gebaut, die ein paar Jahre später ein Dach auf dicken Baustämmen bekam. Für den Winter wurden auch die Seiten mit Heuballen und Holzverschalungen geschlossen. Lichterketten schlängeln sich um die Kontur des Gebäudes und erinnern an die Formgebung anthroposophischer Bauten – bloß keine rechten Winkel!
Im Inneren fächern sich Sitzgestänge bis unters Dach auf. Der Vortrag von Prof. Dr. Joachim Quast vom Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg hat schon begonnen. Ich liebe Experten. Sie lehren uns die Benutzung von bewusstseinserweiternden Begriffen wie „Meliorationen in Auenlehmböden“, die ein nachhaltiges Gefühl von Informiertheit hinterlassen. Die Powerpoint-Präsentation läuft flüssig hinter ihnen ab, während sie ihre zu maßvollen Aussagen verpackten Erkenntnisse in den Raum entlassen. Prof. Quast möchte Bewusstsein in der Bevölkerung schaffen; er sagt auch, wie er sich dieses Bewusstsein wünscht: „gesunder Menschenverstand auf der Basis von Ergebnissen!“ Ich lausche mit angehaltenem Atem, noch bevor ich verstanden habe, worum es genau geht. Längs- und Querschnitte der Grundwassersituation im Oderbruch helfen mir auf die Sprünge. Ich liebe Schaubilder. Gepunktete, längs und quer schraffierte Flächen, Kurven, die trotz aller Abweichungen ihrem Ziel zustreben. Prof. Quast beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem Oderbruch. Er ist der Meinung, dass die Wasserspiegel in den Poldern angehoben werden müssen aus Gründen, die offenbar mit den Erdschichtungen zu tun haben. In die Deiche müssen Durchleiter für das Oderwasser in die alten Oderarme eingebaut werden. Das sind keine akademischen Spielchen. Das letzte Oder-Hochwasser 1997 brachte die Katastrophe in greifbare Nähe, das nächste kommt bestimmt. Und bevor das Wasser über die Deichkrone schwappt und das Land überflutet, dringt es in großer Menge unter den Deichen hindurch und drückt das Grundwasser hoch. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Pumpstationen, Schöpfwerken, Gräben und Vorflutern.
Den Grundwasserspiegel überall unter Kontrolle zu halten ist auch wichtig, um das Absinken von Chemikalien aus den Äckern ins Grundwasser zu verhindern, meint Quast. Aha, so so! Aber war er nicht der Meinung, dass die Wasserstände in den Gräben ohnehin zu niedrig sind? Ich hab’s doch nicht wirklich verstanden.
Beeindruckt haben mich die Fotos eines elektrischen Modells vom gesamten Oderbruch. Es gibt nämlich eine verblüffend genaue Analogie zwischen Wasserkraft und elektrischer Kraft. Darum konnten die Forscher aus dem genauen Messnetz der Grundwasserstände und der dazwischen wirksamen Gefälle ein Netz aus Hunderten von elektrischen Widerständen aufbauen. Mit Potentiometern werden Wasserdrücke darauf simuliert und die Stromverläufe geben Aufschluss über das Verhalten der unterirdischen Wassermassen. Das Modelleisenbahn-große Objekt wurde 1971 gebaut, noch vor der Möglichkeit von Computersimulationen. Es ist von großer sinnlicher Überzeugungskraft. Ich frage mich, ob es diese Modellanordnung noch irgendwo gibt. Ab ins Technik-Museum!
Kenneth Anders stellt in einem zweiten Referat das Projekt des Oderbruchpavillons vor, einer vorerst nur virtuelle Einrichtung, die Aufschlüsse über das Oderbruch von allen denkbaren Seiten gibt. www.oderbruchpavillon.de, eine sehr schöne Seite. Was mir allerdings fehlt, ist eine leicht durchschaubare Straßenkarte.
Die Straßen im Oderbruch sind vor allem deshalb so verwirrend, weil es kaum topografische Gründe für ihren Verlauf gibt – oft fährt man im rechten Winkel und manchmal im Kreis. Das hängt mit den alten Schlägen zusammen – eigentlich sind es alte, aneinander geknüpfte Feldwege.
Was die Schwierigkeit anbelangt, diese wasserbaulichen Dinge zu verstehen (im Oderbruchpavillon gibt es auch einen Text dazu) – wir werden einige Wasserorte zu einer Radtour zusammenstellen und sie so erläutern, dass sich die Sache hoffentlich erschließt. Am 23. Juni findet diese Tour statt – vielleicht hast Du ja Lust, mitzukommen. Wir kümmern uns dann um die Route.
Grüße, Kenneth