Am Mittwochmorgen mache ich einen Ausflug vom Ausflug. Ich hatte mir gedacht, dass ich meinen eingegipsten Daumen auch in Berlin herumtragen kann. Ich habe guten Kontakt zu einigen Berlinale-Facharbeitern, die verbilligte Kartenkontingente beschaffen können. Daraus habe ich mir ein einwöchiges Kinoprogramm zusammengestellt, mit einer Lücke am Mittwochvormittag. Da muss ich zum Verbandswechsel ins Strausberger Krankenhaus, das direkt am S-Bahnhof Strausberg Nord liegt. Hier habe ich fünf Tage ein Bett belegt, nachdem mir vor zwei Wochen die Daumensehne geflickt worden war. Zuvor war ich einige Tage im Wriezener Betriebsteil desselben Krankenhausunternehmens, wo man mir nach einem Armbruch operativ eine Schiene einsetzte. Das wollte ich gerne, damit ich nicht solange mit einem Gips rumlaufen muss.
Wer in ein Krankenhaus gerät, noch dazu in eines im ländlichen Osten, muss sich unter das Joch von unverständlichen Maßnahmen beugen, die ab morgens um sechs an jedem Patienten exekutiert werden. Das fällt mir schwer. Aber ich hatte schon in Wriezen meinen Laptop dabei und damals noch alle Finger frei. Also schrieb ich noch im Krankenbett einen detaillierten Beschwerdebrief an die Krankenhausverwaltung, dessen Kritikpunkte in taktisches Lob für weniger misslungene Dienstleistungen eingebettet waren.
Kluge Zurückhaltung
Noch bevor ich in der folgenden Woche zuhause den Brief überdenken, überarbeiten und abschicken konnte, riss die Daumensehne der operierten Hand. Und dann saß ich schon wieder in der Notaufnahme. Innerlich beglückwünschte ich mich, dass ich den Beschwerdebrief, der auch auf die gelangweilte Stimmung in der Notaufnahme einging, noch zurückgehalten hatte. Der untersuchende Oberarzt war ungewohnt aufmerksam; er war sich offenbar nicht ganz sicher, dass der Riss keine Folge seiner Operation war. Er überwies mich zu seiner auf Handoperationen spezialisierten Kollegin im Strausberger Krankhaus. Mit ihr führte er die Sehnenoperation am nächsten Tag durch.
Dann hatte ich Zeit, die Ausstattung, Leistungen und Stimmung der beiden Betriebsteile zu vergleichen. Das Gespräch mit den Bettnachbarinnen im 4-Bett-Zimmer hielt ich, wie in Wriezen, niedrig dosiert, las, hörte Musik, räumte die Dateien in meinem Laptop auf. Die abermalige Ruhigstellung machte mich milde. Ich stand auf und legte mich hin, wie es von mir erwartet wurde, schluckte die bereit gestellten Medikamente ohne weitere Nachfrage und fügte mich in den Stationsalltag. Mein Bedürfnis, mich zu beschweren, war verflogen, auch wenn es immer wieder zu merkwürdigen Situationen kam. Eines Morgens zum Beispiel, als ich aus dem Bad kam, war das Zimmer leer, alle Betten und Mitpatientinnen weg. Ich fand sie ein Zimmer weiter rechts wieder. Man hatte es einfacher gefunden, zum Zweck der Grundreinigung jeweils ein Zimmer ganz zu räumen und die Patienten komplett zu verschuben. Die angemeldeten Telefone klingelten im leergeräumten Zimmer weiter und die Angehörigen wunderten sich. Währenddessen wischte die Stationshilfe in unserem grundgereinigten Zimmer Staub, weil sie das nun mal jeden Morgen macht.
Kantisches Pflichtgefühl zur Kritik
Auch das nahm ich nach etwas Murren hin. Aber dann gewann mein kantisches Pflichtgefühl wieder die Oberhand. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass eine solidarische Gesellschaft sich nur auf der Basis von Kritik entwickeln kann – produktiver Kritik im sokratischen Sinn: aufrichtig, wohlmeinend und kompetent. Und wenn ich dieser Meinung bin, dann muss ich das auch tun.
Am Empfang gab es Vordrucke für die Meinungsäußerung von Patienten. Die A5-Zettel trugen den Aufdruck „Ihre Meinung ist uns wichtig“ und enthielten Kästchen zu einigen möglichen Kritikpunkten wie Ordnung auf der Station, Aufklärung, Essen, medizinische Behandlung, mit denen in der Bewertung zwischen schlecht, mittel und gut gewählt werden konnte. Es gab auch einen Kasten in der Größe von 4 mal 12 cm für Kritikpunkte, die bei den Auswahlpunkten nicht berücksichtigt waren. Ich machte ausführlich Gebrauch davon, benutzte in Ergänzung auch die leere Rückseite des Blattes, kritisierte zum Schluss, dass auf dem Zettel nicht steht, wer eigentlich „wir“ ist, an den diese Kritik gerichtet wird, und dass ich doch gerne eine Reaktion hätte, ob meine Kritik angekommen und angenommen ist, gab dazu auch meinen Namen und meine Adresse preis.
Das alles liegt zehn Tage zurück. Nun betrete ich das Gebäude wieder, gehe durch den Flur der Station, begegne der korpulenten Stationsschwester, die mit ausgebreiteten Armen an mir vorbeisegelt. Ich weiß nicht, ob sie mich wiedererkennt. Auf jeden Fall erkennt sie mich als ambulante Patientin und sagt: „Sie setzen sich auch noch in den Warteraum drüben, ja?“ Das mach ich doch gerne. Ich habe ein Buch dabei und etwa eine Stunde, bis die S-Bahn fährt, die ich brauche, um meinen nächsten Film zu sehen. Ich grüße freundlich und setze mich mit dem üblichen Abstand von jeweils einem Stuhl zwischen die Wartenden. Mir gegenüber sitzt ein Ehepaar mit verbundenem Zeigefinger, daneben eine Frau, offenbar von der Station, die ein weiß umwundenes Handgelenk mit der anderen Hand stützt, links von mir eine Frau mit unklarer Diagnose, und rechts setzt sich nach ein paar Minuten eine weitere Patientin, die mit Gehhilfen in den Raum gekommen ist.
Wut und Großmut
Ich lese ein bisschen, kann mich aber nicht richtig konzentrieren. Die Stimmung im Raum dringt zwischen mich und die Zeilen. Der Ehemann springt auf, läuft raus, kommt zurück. Seine Frau gestikuliert, den verbundenen Finger hebend, mit ihrer Sitznachbarin. Der Mann ist empört, weil sie für neun Uhr bestellt wurden, und nun ist seine Frau immer noch nicht dran. Dafür wurde eine Frau vorgenommen, die viel später gekommen ist. Das ist doch unerhört. Ja, das sind die von der Station, wird erwidert, die kommen vor. Aber die haben doch Zeit, können doch auch auf ihrem Zimmer bleiben!
Der Mann steigert sich in seine Wut über die Ungerechtigkeit des Wartens immer weiter rein, repetiert laut die Reihenfolge, in der die Patienten gekommen sind. Wenn jetzt noch jemand vorgezogen wird, dann geht er aber rein. Als die Stationsschwester kommt und mich mit ihrem Blick fixiert, springt er schon auf. Aber sie will nur wissen, warum ich mich nicht bei ihr angemeldet habe, damit die Reihenfolge auch stimmt. Ich denke, na, sie hat mich doch gesehen und gesagt, ich soll ins Wartezimmer gehen. Es steht auch nirgendwo was vom Anmelden. Aber noch ist kein Schaden entstanden. Ich bin nach dem Handgelenk, nach dem Zeigefinger, nach der unklaren Diagnose, aber vor den Gehhilfen dran.
Das Ehepaar wird endlich erlöst und mitgenommen, das Handgelenk, obwohl stationär, wurde nicht vorgezogen. Nun äußert sich die bisher schweigsame unklare Diagnose. „Warum die nicht warten können! Das weiß man doch, dass man warten muss. Da nimmt man sich doch Zeit!“ „Bei meinem Orthopäden muss ich manchmal zwei Stunden warten“, gibt die Gehhilfe an. Die unklare Diagnose weiter:“ Die wissen in meinem Betrieb, dass ich erst mittags komme. Hab mir extra nen Tag Urlaub genommen. Ich hab Zeit! Ist mir egal, wann ich dran komme.“ Ich kann das nicht so bestätigen. Es ist kurz vor zehn. Wer weiß, wie lange die unklare Diagnose brauchen wird. Um zwanzig nach zehn muss ich los, wenn ich die S-Bahn zu „Irina Palm“ noch kriegen will. Ich druckse kurz. Ach was, Fragen kostet nichts! „Wenn Ihnen das egal ist, wie lange Sie warten, ob Sie mich dann wohl vor ließen?“ frage ich die unklare Diagnose behutsam.
Es stellt sich raus, dass sie auf dieselbe S-Bahn wie ich spekuliert hat. „Na ja, die fahren ja bloß alle 40 Minuten, aber macht ja nichts, ich hab mir ja Urlaub genommen“, sagt die unklare Diagnose. Sie ist entschlossen, großmütig zu bleiben, sowohl zu mir wie gegenüber dem S-Bahn-Fahrplan. Das sehen die Gehhilfen anders. „Ist egal, wie viele Leute von hier nach Berlin fahren, die ändern den Fahrplan nicht. Gucken Sie sich mal an, wie viele Autos da immer stehen, wie viele da in die Stadt fahren! Die ändern den Fahrplan auch in 10 Jahren noch nicht. Das ist schon seit dreißig Jahren.“ Ich spreche ihr Mut zu, dass man vielleicht doch schon eher auf einen kürzeren S-Bahntakt hoffen kann, auch um mein schlechtes Gewissen gegenüber der unklaren Diagnose zu beschwichtigen, die wegen ihrem nicht rückholbaren Großmut weitere Zeit im Wartezimmer verbringen muss.
Die Kehrseite der Kritik
Als sie aufgerufen wird, trete ich ins Behandlungszimmer. Ich habe mir schon einen Text zurecht gelegt, um diese Eigenmächtigkeit zu erklären. Aber das ist gar nicht nötig. Ich werde ausgewickelt, frisch eingewickelt, ermahnt und kann gehen. Den beiden noch Wartenden wünsche ich einen schönen Tag und wende mich zum Gehen. Dieses schöne Erlebnis von Selbstorganisation möchte ich mir doch gerne notieren. Wo finde ich ein Blatt Papier? Am Empfang gab es ja die Beschwerdezettel. Die waren auf der Rückseite frei.
Ich stecke mir also im Vorbeigehen ein Blatt ein. Erst in der S-Bahn sehe ich, dass es verändert ist. Es ist größer, jetzt A4, es trägt eine Aufschrift: Krankenhaus Märkisch Oderland, Betriebsteil Strausberg, und eine Unterschrift vom „Qualitätsmanagement-Team“. Die Auswahlantworten sind in dreizehn Rubriken aufgeteilt, zu denen eine Benotung zwischen 1 und 5 möglich ist. Die Noten 1 und 2 sind mit einem Smilie verstärkt, die miesen Noten 4 und 5 werden durch ein schlecht gelauntes Smilie mit herabgezogenen Mundwinkeln kommentiert. Der Kasten in der Mitte ist auf 5 mal 17 cm vergrößert. Für die, die das Platzverschwendung finden, ist er mit der Textzeile „Freies Feld für freie Meinung:“ beschriftet. Unten wird nun ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, seine Adresse anzugeben und anzukreuzen, ob man eine Rückantwort wünscht. Die brauche ich jetzt nicht mehr; meine Kritik ist offenbar angekommen.
qualitätsmanagement in krankenhäusern ist eine fürchterliche krux und ich frage mich immer wieder, ob die das alles eigentlich ernst meinen. ich war mal bei denen im büro: ein flip-chaart, vollgemalt mit kryptischem irgendwas, was sie später dann mittels power-point-folie vorführen – und man sitzt da und fragt sich: „und nun?“
QM in menschlichen dienstleistungen ist im grunde firlefanz, denn das verhalten von menschen ist nicht prognostizierbar und somit auch nicht standardisierbar. QM im krankenhaus bläht die bürokratie auf, führt zu parasitärem führungsstil und ersucht die tatsache zu unterhölen, dass die praktikerInnen diejenigen sind, die den laden am laufen halten. wer kontrolliert, muss es selber können. und davon haben sich die meisten QM-mitarbeiterInnen zum stellenantritt deutlich distanziert.