vonImma Luise Harms 17.09.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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„Eigentlich müsste man die hochbinden“, sagt Thomas und zieht eine schlappe Tomatenranke nach oben, „aber jetzt lohnt es sich auch nicht mehr“. Die Unterseite hängt voller kleiner blassgelber Kugeln. Eine wilde Sorte, gelbe Cocktailtomaten, von ihm auf der Fensterbank aus Samen vom letzten Jahr gezogen. Man pflückt und isst sie fast wie Weintrauben.  „Und die werden alle noch reif, wenn man sie in die Sonne legt.“ Ich sitze auf einem Grasbüschel und wickle skeptisch einen Halm um meinen Finger. Thomas rechnet aus, wie viel Tomätchen an einem Busch hängen, wie viel die wiegen. Wenn er sie für, sagen wir, 2 Euro das Pfund verkauft… Thomas hat im Kopf schon wieder einen neuen Geschäftszweig in seiner breiten Lebensmittel­produktionspalette aufgemacht. Da kann man nichts machen.

Ich lenke das Gespräch auf die Kartoffeln, die hinter uns auf dem ehemaligen Schweineacker noch in der Erde liegen. Ja, die die letzten Reihen müssten auch eigentlich heute noch raus. Schlechte Ernte dieses Jahr, kleine Kartoffeln. Sonne und Regen zur falschen Zeit, nicht so viele Kartoffelkäfer wie im letzten Jahr, auch weil Biogift ins Spiel gebracht wurde, aber Krautfäule, die das Wachstum der Pflanzen vorzeitig beendet hat. Bei Traudel, der Nachbarin, haben die Kartoffeln viel besser gestanden. Sie hat eine Knolle von anderthalb Kilo geerntet. „Damit jeh ick anne Zeitung“, hat sie großspurig angekündigt.

Thomas holt die Grabegabel, ich einen Eimer.  Er sticht seitlich in den Erdwall, in dem die Knolle, in kleinen Sippschaften organisiert, verborgen ist. Ich knie in der Rille dahinter und lauere ihr auf. Als Säugling haben meine Eltern mich in der Kartoffel­furche abgelegt, hat meine Mutter erzählt; das war in der Nachkriegszeit, als sie die liegen gebliebenen Kartoffeln von den Feldern gesucht haben. Aber halt – nach der Ernte gibt es ja gar keine Hügel und keine Furchen mehr! Das stimmt was nicht. Da werden sie in ihrem Hunger wohl doch mal heimlich auf die Felder gegangen sein. Und ich als Säugling in der Furche!

Die Gabel bricht die Stützkraft des Hügels auseinander, er reißt in der Mitte auf; der Blick ins Innere  wird freigelegt. Ich nehme einen großen Klumpen in die Hand und breche ihn auf der Suche nach Kartoffeln auseinander. Die gelb-braune Krume sieht aus wie eine Gesteinsformation in Miniatur, mit Platten, Kanten, Graten, Rissen. Der Boden hier ist nicht besonders fruchtbar, sandig mit Einlagerung von Lehm­linsen, habe ich gelernt. Aber voller Leben. Wenn man genau hinsieht, gibt es überall feine und gröbere Wurzeln, Würmer, Larven, verschiedene Käfer die eilig zu entkommen versuchen, und kleine grüne Keimlinge. Thomas hat sich auf seine Gabel gestützt. „Ich sag dir, in so einer Schaufel Erde sind mehr Lebewesen als auf der ganzen Erde“, erklärt er mir.  Während ich noch über das Paradoxon grübele, wie der Teil eines Ganzen mehr enthalten kann als das Ganze selbst, hat Thomas den Gedankenfaden fallen gelassen und die Gabel wieder aufgenommen.

In der nächsten Erdspalte schimmert es gelb. „Da! Da sind sie!“ Die kleine Linda hat ihre ganze Familie verraten. Die Grabegabel fördert sie zutage, alle die kleinen, mit Lehm aneinander gebackenen Geschwister. Das sind Pellkartoffeln. Schälen kann man vergessen. Manchmal hängt die verblichene, dunkel und schrumplig gewordene Mutterknolle noch dran.

Man sticht zielgenauer, wenn man die Reste des Krauts an der Oberfläche erkennt. „Hier ist wieder eine drunter“, sagt Thomas und deutet mit der Gabelzinke auf ein Stückchen schmutziges Paketband, das aus der Erde ragt. Tatsächlich, wieder ein Abendbrot. Aber höchstens für einen. Uns fallen die verschiedenen Witze von dicken Kartoffeln ein, die wir jetzt besser verstehen können. Als Kind habe ich lange über die Bedeutung des Spruchs nachgedacht, mit dem mein etwas zynischer Papa uns manchmal aufzog: „Wenn wir dich nicht hätten – und die dicken Kartoffeln… Dann müssten wir alle die kleinen essen!“ Das Kind – rausgekürzt aus der Kartoffelgleichung! So lernt man schon früh, das Los seiner eigenen Bedeutungslosigkeit auf sich zu nehmen.

Eine Woche später ernten wir wirklich kleine Kartoffeln. Die Bamberger Hörnchen sind die Trüffeln unter den Kartoffeln. Man kann sie nicht ernten, man muss sie im Erdboden suchen.

Der Karlshof ist eine Landkommune nicht weit von Templin. Sieben Erwachsene und zwei Kinder leben in dem 50er-Jahre-Siedlungshaus am Rand eines Anwesens, dessen Stallungen, Scheunen und Haupthaus nach und nach instand gesetzt werden. Der Karlshof gehört zur Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit, kurz PaG, ein Zusammenschluss von Kommuneprojekten aus Stadt und Land, die sich gegenseitig die Steigbügel halten. Die Leute vom Karlshof propagieren das Prinzip der nicht-kommerziellen Landwirtschaft, kurz NKL, und praktizieren es auch. Sie bauen Kartoffeln nicht an, um sie zu verkaufen, sondern weil es Menschen gibt, die Kartoffeln brauchen, und die sie von ihnen auch kriegen sollen – im Rahmen eines komplexen, vermittelten und vor allem nicht von Geld kontrollierten Austausch- und gegenseitigen Hilfesystems. Teil des Systems ist, dass Menschen, die Kartoffeln wollen, im Herbst kommen und sie mit ernten.

Zur Kartoffelernte-Woche sind auch Thomas und ich gekommen, auch wir im Rahmen eines komplexen, vermittelten und nicht von Geld kontrollierten Dienstleistungssystems, dem nicht-kommerziellen Kulturtransfer, kurz N2Kt. Es ist nicht so, dass wir nicht gerne ein bisschen Geld verdienen würden. Das könnten wir wirklich brauchen. Aber vor die Alternative gestellt, Lebenszeit gegen Geld zu tauschen oder was auf die Beine zu stellen, was nützlich ist und Spaß macht, haben wir uns doch meistens für das zweite entschieden. In der Hoffnung, dass das gewürdigt wird, was auch manchmal der Fall ist. Man kann daraus auch eine Theorie machen.

Die freien Abendstunden der vielleicht 40 aus Berlin hergekommenen HelferInnen nutzen wir, um ihnen kritische Filme über Nahrungsmittelproduktion aufs Auge zu drücken. In Reichenow und Umgebung ist das Interesse für solche Politik-verdächtigen Themen sehr zurückhaltend. Also bringen wir die Filme dort hin, wo wir Menschen mit der passenden Motivation vorzufinden hoffen. Natürlich ist Thomas auch aus kollegialem Interesse an der Kartoffel und ihrer Ernte gekommen. So verbringen wir den Tag, der eine  mehr, die andere weniger, auf dem Feld.

Ich treibe mich in der Küche herum, mache Besuche in der Kartoffel-Sortierhalle und auf dem Feld und liege manchmal auch nur bäuchlings im Gras, das Gesicht zur Seite gedreht, der herbstlichen Sonne zugewandt. Die Hände zausen die Grasbüschel. Sie sitzen erstaunlich fest, die grünen Inselchen, mit ihren vielen kleinen Wurzeln haben sie sich in der Erde verankert. Und unter diesen Wurzeln geht das bröselige Gemisch von Gesteinskörnchen weiter, Schicht um Schicht, immer tiefer runter.  Da sind lange Wurzeln von Brennnesseln, darunter andere, mit denen in der Nähe stehende Bäume in der Tiefe herumtasten. Da sind Wühlmausgänge im Boden oder Reste von Pflanzen, die langsam verrotten, Steine, die nach rätselhafter Reise hier liegen geblieben sind, Samen und Keime, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Noch tiefer gibt es vielleicht Mauerreste, deren Zeit Geschichte geworden ist, oder Wasseradern, die irgendwo hinführen. Mir wird schwindelig, bei der Vorstellung, dass eigentlich die ganze Erde aus Erde besteht, mehr oder weniger. Und ähnlich wie beim Schwimmen in einem tiefen See überfällt mich die Vorstellung, die Oberfläche könnte plötzlich nicht mehr tragen und ich stürzte in die Tiefe unter mir. Aber die Erde ist dicht. Sie trägt. Ich kann ganz ruhig daliegen.

Das Bamberger Hörnchen ist so groß wie ein Daumen. Wie ein großer Zeh, wenn es gut gewachsen ist, wie eine Bohne, wenn es so kümmerlich geblieben ist wie in diesem Jahr. Das Hörnchen widersteht der Erntemaschine. Die Erde ist viel zu schwer und klumpig, sie hält die kleinen gelben Kügelchen fest umschlossen. Die Erntegruppe versucht ein paar Reihen mit der Maschine, der sogenannten Wühlmaus, abzutragen. Dann gibt sie auf. Alles ist verklebt.

Während die anderen weiterziehen, ernten Thomas und ich eine Reihe mit der Grabegabel und unseren Händen ab. Wir suchen die Bodenperle und wir finden sie auch immer mal wieder. Natürlich ist das schwer; man braucht Theorien, woran man erkennt, wo sie sein könnte. Wir geraten sofort in Streit über die effizienteste Methode. Die aufgebrochene Erde auf der Gabel stillhalten und die Risse untersuchen, oder die Erde durch die Zinken rieseln lassen, oder den ganzen Klumpen umdrehen und vorsichtig auseinander ziehen. Thomas ist der Kartoffelexperte, das lässt er sich nicht nehmen, aber ich bin die Ingenieurin, die in jeder Situation Ursache-Wirkungs-Erforschung und Handlungsoptimierung betreibt; das lass ich mir auch nicht nehmen. So arbeiten wir uns, immer auf den Fehler des  anderen lauernd, giftig zickelnd durch die Reihe und kriegen dabei aber doch einen Eimer voll.

Die anderen sind schon zur Sava übergegangen. Da lässt sich die Erntemaschine besser einsetzen. Der Treckerfahrer hat eine schwierige Aufgabe, er müsste eigentlich vorne und hinten gleichzeitig gucken. Vorne, ob die Räder in der Furche bleiben, hinten, ob die Schaufel der Erntemaschine den Hügel auf der richtigen Höhe abträgt, so dass die Kartoffelbüschel richtig erfasst und die Kartoffeln nicht etwa durchgeschnitten werden. Die Erdschicht läuft auf ein Band aus Eisenstangen, durch die die Erde abfallen soll, dann werden die Kartoffeln seitlich ausgeworfen, theoretisch jedenfalls. Praktisch verschwinden sie oft unter kleinen Hügeln nachfallender Erde. Ein Mitläufer muss die ganze Zeit Gestrüpp wie Disteln, Hundskamille, Beifußpflanzen aus der hochgehobenen Erdschicht herausrupfen, damit die Erde sich von den Kartoffeln trennen kann.

Dahinter kommen die Sammler und Sammlerinnen mit ihren Eimern. Wie die Vögel picken sie die Spur des Traktors ab, durchkämmen die kleinen Erdwälle mit den Händen. Man wühlt und sammelt abschnittsweise, alleine, in festen Zweier- oder Dreiergruppen oder in immer neuer Nachbarschaft. Man führt problemorientierte Gespräche, die nur kurz zum Ausleeren der Eimer unterbrochen werden, man zieht biografische Erkundigungen ein und fragt dann auch irgendwann nach dem Namen. Junge Leute, zwischen zwanzig und dreißig die meisten, die studieren oder sich irgendwie in einer städtischen oder ländlichen Existenz durchschlagen, aber alle die Hoffnung haben, außerhalb der gesellschaftlichen Normen von Erfolg ihr Glück und ihre Bestimmung zu finden.

Mutig sind sie auch, haben keine Angst vor Kitsch und Klischees. Es wird gesungen am Rande der Erdkrume – Kartoffellieder im Kanon, so gut es geht, aber auch Choräle oder Volksweisen aus aller Herren Länder, die man sich gegenseitig beibringt.

Die Sava ist geerntet. In der Bergehalle werden die ganz kleinen für Pellkartoffeln aussortiert, dann die guten Dicken, die 1A-Sortierung sozusagen. Die mittleren werden als Pflanzkartoffeln abgefüllt, sind aber auch zum Essen bestimmt, weil es sowieso die meisten sind.

Die Entscheidung, ob eine Kartoffel groß, klein oder mittel ist, ist gar nicht so einfach. Zwei Prototypen sind an die Wand genagelt. Wir halten unsere ganz unterschiedlich geformten Modelle ab und zu zur Probe daneben: ist das nun noch klein oder schon eher mittel? Man kann die ausgebuchteten, die kugelig-runden, die elegant-länglichen Formen gar nicht auf einen Begriff bringen. Die, die ich als schadhaft aussortiert habe, werden von P., einem ruhigen jungen Mann mit dunklem Bart, verstohlen noch einmal durchgesehen. Nach einigem Zögern zeigt er mir, dass die kleinen Macken nicht schlimm sind, dass die Kartoffel so was selbst heilen kann und daher für die Premium-Sortierung völlig in Ordnung ist. Aber die Pflanzkartoffeln müssen einwandfrei sein, damit keine Viren eindringen können. Ich hatte die Anweisungen von V. anders verstanden – keine Ahnung, wer von denen, die hier etwas erklären, tatsächlich was von der Sache versteht. P. fährt fort, mir gegenüber am Kartoffeltisch zu prüfen und zu sortieren. Ich beobachte vorsichtig seine Entscheidungen. Mein verbindliches Lächeln beantwortet er mit einem ernsten Blick. Keine Kontaktaufnahme möglich. Mir wird unbehaglich und unsicher. Mit der nächsten Fuhre kehre ich aufs Feld zurück.

Die Eimer wandern über den Acker, die Schubkarren füllen sich, der kleine Traktor zieht seinen Hänger beladen weg und kommt, erleichtert über den unebenen Boden rumpelnd, zurück. Ich flechte mich in die Reihe periodisch aufrückender SammlerInnen wieder ein.  Einer der Hunde mit kurzem schwarzem Fell und rosa Strass-Halsband, genannt Taxi, legt mir einen Unkrautstrunk in Greifnähe hin, der allerdings als Stöckchen nicht besonders taugt. Ich kriege ihn nur ein paar Reihen weit geworfen. Taxi dreht sich gelangweilt weg und wartet auf bessere Angebote. Ich werfe eine Kartoffel; da fegt er los. Die Kartoffel nutzt sich schnell ab, sie ist bald angekaut und durchgesabbert, auch wenn Taxi sie sehr vorsichtig apportiert. Jetzt hat er den alten Strunk wiedergefunden und trägt ihn mir noch eine Weile hinterher.

Am dritten Tag ist das halbe Feld abgeerntet, wir fahren die fünfte Sorte ein. Drei weitere liegen noch im Acker. Noch immer beobachte ich fasziniert, wie die Schaufel der Erntemaschine den Boden abschält, hochhebt, aufbrechen und zerfallen lässt und ihn in einer Spur von durchsiebter Erde wieder zurücklässt. Das Leben im Acker­boden wird aufgestört und muss sich neu organisieren. Der Regenwurm klemmt noch zwischen Erdklumpen und Kartoffel. Er hat sich vor der Schale fein zusammengeringelt. Er isst keine Kartoffel, nur die sie umgebende Erde, deshalb ist er der Freund des Bauern – viel Regenwürmer, gute Erde. Anders die Quecke, dieses bösartige Gewächs, das an der Oberfläche als harmloses Gras in Erscheinung tritt, sich in der Tiefe aber mit Wanderfeldzügen ihr Siedlungsgebiet erschließt. Sie durchbohrt die Kartoffel überall, wo sie auf sie trifft. Man kann sie beim Kartoffel Sortieren zwar meisten herausziehen, aber sie hinterlässt doch einen schwarzen Kanal. Beim Schälen kann man sich nur entscheiden, den dunklen Tunnel zu akzeptieren oder die ganze Kartoffel zu zerlegen. Die Quecke ist der Feind des Bauern. Thomas hatte sich deshalb mit dem Wollschwein verbündet, das gerne Quecke frisst und den Acker auf der Suche nach der Graswurzel umgewühlt hat.

Das Leben in der Erde geht einen langsamen, durch das Medium verdichteten Gang. – einen blinden Gang. Ein Leben ohne Perspektive. In der Erde gibt es kein Raumerlebnis, man sieht nicht, wer da auf einen zugekrochen kommt. Die sozialen Gefüge entstehen nicht durch die Beobachtungen und Einschätzungen der gegenseitigen Absichten, sondern erst im unmittelbaren Aufeinandertreffen. Es macht also zum Beispiel keinen Sinn, sich schon von Ferne zuzulächeln. Alle Konfrontationen finden ohne Vorwarnung statt. Das ist ja irre: ein Leben ohne Angst! Wenn der Wurm vom Maulwurf gefunden und die Kartoffel von der Queckenwurzel getroffen wird, ist es sowieso schon zu spät für Angst. So gesehen ist das Leben im Schoß der Erde ein sorgloses Leben.

Am Abend wollen die ErntearbeiterInnen „Soylent Green“ sehen, ein etwas öder Science-Fiction-Schinken aus den frühen 70er Jahren mit Charlton Heston und Edward G. Robinson. Es geht darum, dass die Erde keine Nahrung mehr hervorbringt und deshalb die gestorbenen Menschen in geheimen Fabriken zu Lebensmitteln verarbeitet werden. Wir hätten lieber etwas Anspruchsvolleres gezeigt, aber hier wollen die Leute Filme zum Thema, und das ist ja auch gut so.

Vorher soll es eine Verkostung der Kartoffelernte geben, habe ich mir überlegt. Ich sammle von allen Sorten eine Tüte ein, von den fehlenden grabe ich eine Probe aus dem Acker. Die ersten, Sava und Desiré, waren schon fertig in 25 kg-Säcken abgewogen und verpackt. Ich mache bedenkenlos die Säcke auf, um je zwei, drei Kilo herauszuholen. Da die Kartoffeln nicht verkauft sondern einfach weitergegeben werden, ist es ja auch egal, ob nun 25 oder 22 kg in dem Sack sind.

„Wie willst du die denn alle gleichzeitig kochen?“, fragt E. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht: es gibt nur drei Gasflammen. Wie kann ich die gekochten Kartoffelsorten auseinanderhalten? Stoffbeutel! Ich suche in den Küchen, Bädern und Vorratskammern alle Einkaufsbeutel aus Stoff zusammen, die ich finden kann, und knote die verschiedenen Häufchen darin ein; die Aufdrucke auf den Säcken notiere ich mir zur Identifizierung der Sorten: Adretta, ockerschalig genetzt, mehlig-kochend, ist in „Naturpark Märkische Schweiz“. Hansa, die grau-gelbe, runde, robuste, in „billig, aber Bayer“. Linda, die blütengelbe, glattschalige, elegant längliche, festkochende Lieblingssorte ist in „Calendera, italienische Spezialitäten“. Agria, mit der dunkelbraunen Pelle, mehlig bis festkochend, ist in „die Welt-Klasse, eine Zeitung von Format!“. Désiré, die rosa Kartoffel in „Loderhof-Apotheke, Rosenheim, Bahnhofstr.“. Die langgezogene dunkelrote Rosara ist in „ebsco – Print- und Online-Zeitschriften“. Und die dankbare, in diesem Jahr recht klein gebliebene SAVA in „Agya-Produciones, Montevideo, Uruguay“. Und die Handvoll Bamberger Hörnchen, die ich mich getraut habe, von der mageren Ernte zu nehmen, knote ich schließlich in einer Kinderwindel ein.

Die Stoffsäcke dampfen in großen Töpfen vor sich hin wie die große Wäsche.  In den herunter  gekrempelten Säckchen und mit Schildern gekennzeichnet werden die gekochten Kartoffeln auch angerichtet. Dazu reiche ich Butter und Salz, oder Margarine für die VeganerInnen, oder für die Fleischbedürftigen Griebenschmalz vom Wollschwein – eben dem Schwein, das von Thomas’ Acker die Quecken getilgt hat, bevor dort Kartoffeln wachsen konnten.

Die ErntearbeiterInnen beißen in das gelbe leimige oder das hell aufbrechende Kartoffel-Fleisch, loben und vergleichen, erzählen von ihren Vorlieben. Ditta fehlt, wird festgestellt. Stimmt, die habe ich nicht gefunden. Es wäre auch kein Stoffbeutel mehr da gewesen. Aber ich finde sowieso nicht so einen großen Geschmacksunterschied zwischen den Sorten. Auch Thomas bringt beim Kosten mit geschlossenen Augen die Hansa und die Linda durcheinander. Für den Kartoffelsalat kommen alle Sorten in eine große Schüssel. Beim gemeinsamen Pellen singen wir einen Kanon, den ich auf dem Kunstmarkt in Wilhelmsaue gelernt habe:
„Ein – sehr – harter – Winter – ist – –
wenn/ein/Wolf/ein/Wolf/ein/Wolf/den – andern – frisst!“

Das kann uns nicht passieren. Wir haben Kartoffeln.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/09/17/kartoffelernte/

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kommentare

  • liebe imma,

    beim vergleich, wie die sorten schmecken, haette ich gerne mitgemacht…
    obwohl kind vom lande, habe ich nie kartoffeln gelesen, nur heu geerntet und kuehe gehuetet…, regenwuermer zeigte mir die mutter verbunden mit der information, sie lebten ungeruehrt weiter, auch nachdem sie ein spaten durchschnitten hat – das hat mich damals sehr erstaunt und beeindruckt. Ob ich auch so unverwundbar sein wollte?

    die projektwerkstatt auf gegenseitigkeit, die du beschreibst, imponiert mir leserin, vielleicht ist sowas für mich eine variante, wenn ich in fünfeinhalb meine lebenszeit frei habe…

    liebe grüße, auch an thomas mit seinen tomatenplänen!

    lena

  • wie schön!

    liebe Imma,

    im Nachgang der werktätigen Woche machte mich der vergegenwärtigte Zwang “…Lebenszeit gegen Geld tauschen zu müssen …” am nachdenklich-und wütendsten; der Leserest hingegen war ein sinnlich-wohltuender Kurzurlaub, der ländliche Ruhe in den Reuterkiez brachte.

    Im(m)aginiert, aber wirksam. Danke Dir.

    herzlich
    Ingrid

  • Liebe Imma,
    das war bis jetzt der schönste Text, den ich über den Karlshof gelesen habe. Donnerstag war ich zum Sortieren dort. Heute werden wohl auch die letzten Kartoffeln klassifiziert sein. Herzliche Grüße bolle

  • Liebe Imma,
    ich wollte noch etwas zu deinem obigen Text “Kartoffelernte” anmerken: Er liest sich anfangs, wo es um das Ernten der Kartoffeln geht, wie ein Paradox, denn geht es dabei in Wirklichkeit nicht darum,dass man Kartoffeln anbaut, pflegt und erntet – statt zu schreiben?
    Gruß
    h.h.

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