1995 haben wir unseren Bauwagen auf die Nordseite des Gutshofgeländes in Reichenow gezogen. Von dort sieht man in die Neue Dorfstraße. Sie ist eine grasbewachsene Fläche, durch die sich ein kaum sichtbarer Schotterweg zieht. Einsame Strommasten stehen vor niedrigen Häusern. Hinter ihnen geht die Sonne auf. Das Gras sieht dann silbrig aus. Manchmal steht ein Pony darauf. Einmal war auch ein kleiner Zirkus da.
Die 90er Jahren waren die Zeit der großen Privatisierungswellen. Nicht nur das Volkseigentum der ehemaligen DDR wurde zerstückelt. Privatisierung war Teil der New Economy. Alle wollten irgendwas verkaufen. Ich hatte Angst um die kostbare Leere der Neuen Dorfstraße. In der Zeit entstand der folgende Text.
Die Gemeindekuh (von 1995)
Die Treuhand hat die halbe Republik verscherbelt. Mit der Bahn-AG und der Telekom sind Grundbedürfnisse wie das nach Kommunikation und Transport aus der staatlichen Verantwortung in die Verfügungsgewalt des Privatkapitals übergewechselt. Nun schaut auch der Berliner Senat um sich, welche öffentlichen Einrichtungen er noch verkaufen kann, um vergangene und zukünftige Regierungssünden zu finanzieren.
Die sprachlichen Euphemismen für solche Transaktionen vernebeln deren Absichten. Da ist von der „Hereinnahme von Investoren“ oder von „Kapitalgebern“ die Rede. Institutionen, die der öffentlichen Versorgung dienen und das bisher einigermaßen kostendeckend getan haben, werden als „Tafelsilber“ ins Visier genommen, wie traditionsreiche, etwas angestaubte, aber eigentlich doch überflüssige Renommierobjekte, deren Verlust man im Alltag kaum bemerken würde.
Solche Bilder sind trügerisch. Der Wechsel in den Eigentumsverhältnissen beleuchtet den doppelten Charakter dessen, was wir unter „Eigentum“ verstehen, nämlich exklusives Nutzungsrecht und Verantwortung, und verschiebt den Akzent von der (staatlichen) Verantwortung auf das (private) Nutzungsrecht. Genau diese Verschiebung wird denen gegenüber, deren Interessen dabei auf dem Spiel stehen, verschwiegen und verschleiert. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Privatisierung öffentlichen Eigentums als Kuhhandel.
Berta ist die Gemeindekuh, sie frisst tagsüber das Gras auf der Gemeindewiese, nachts steht sie im Stall von Bauer Kuno, der sich um sie kümmert und sie melkt. Er hat das Verfügungsrecht über Berta, musste sich dafür aber verpflichten, die Milch zu einem festgesetzten Preis an die Dorfbewohner zu verkaufen.
Der Stall ist baufällig, Kuno will einen neuen bauen. Dazu braucht er Geld. Der Agrarhändler Hubert ist bereit, Berta zu kaufen, aber nur, wenn ihm das Recht, sie weiter auf der Gemeindewiese grasen zu lassen, mit übertragen wird. Der Kauf lohnt sich für Hubert nur, wenn die Kuh entweder mehr Milch gibt oder die Dorfbewohner einen höheren Preis dafür zahlen, so dass der Kaufpreis nach einer gewissen Zeit wieder in seine Kasse zurückgeflossen ist. Berta kann aber nicht mehr Milch geben und die Dorfbewohner sind nicht bereit, dem Verkauf zuzustimmen, wenn die Milch bei Hubert teurer wird.
Kuno droht nun an, dass Berta geschlachtet werden muss, weil er sie nicht mehr weiter unterbringen kann, und dann gäbe es gar keine Milch mehr. Eingeschüchtert stimmen die Dorfbewohner dem Handel nun zu. Kuno bekommt das Geld und baut einen neuen Stall, den er für Bertas Unterbringung an Hubert verpachtet. Hubert setzt den Milchpreis hoch, um die Pacht zu finanzieren und den Kaufpreis zurückzugewinnen. Die Dorfbewohner aber sind nicht reicher geworden. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihren Milchverbrauch einzuschränken. Hubert bleibt auf der Milch sitzen, nun lohnt sich das Geschäft für ihn nicht mehr. Berta wird also doch geschlachtet. Das Recht, auf der Gemeindewiese zu grasen, verkauft Hubert an eine Ponyfarm. Er hat sein Geld wieder raus, weil er bei Bertas Kauf diesen Verlauf der Dinge schon mit einkalkuliert hatte. Auch Kuno ist nicht geschädigt, er hat einen neuen Stall. Aber die Dorfbewohner sind ohne Milch. Und Berta, die sie ihnen hätte geben können, hat ihr Leben verloren.