vonImma Luise Harms 28.09.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Frau H. hat einen Albtraum. Alle Menschen, über die sie geschrieben hat, drängen an ihr Bett und verlangen Rechenschaft. Sie werden nicht weggehen, bis da was richtig gestellt ist. Es kommen immer mehr. Auch solche, über die Frau H. nie etwas Persönliches gesagt hat. Sie finden sich falsch zitiert, ihre Lebensverhältnisse verzerrt dargestellt. Ihr Dorf kommt schlecht weg. Sie finden Frau H.’s Ansichten destruktiv.
Frau H. wirft sich hin und her und schreit. „So hab ich’s aber gesehen. Das war mein Eindruck! Gehen Sie weg!“ Aber die Gestalten gehen nicht weg. Die Oderbruchgöttin, die Stumpffachverkäuferin, der Radiomoderator, der Druckerpatronen-Ingenieur, die alte Nachbarin im Rollstuhl – aber die ist doch längst tot? Hier ist sie wieder und verlangt Rechenschaft. Die Gesichter wachsen zu einem einzigen Vorwurf zusammen. „Was hast du gegen uns? Warum diffamierst du uns?“
Frau H. richtet sich auf. „Ihr nennt das Diffamierung, weil es nicht das ist, was ihr hören wolltet.“ Die Gesichter sehen aus wie die Zähne in einem riesigen Mund der sich zu höhnischem Lächeln geöffnet hat. „Du hast nicht einfach eine Meinung über uns, du machst sie, indem du sie verbreitest. Wer gibt dir das Recht, so über uns zu reden?“ Frau H. drückt sich in ihr Kissen. Sie fühlt sich als Opfer. „Inquisition! Zensur!“ denkt sie empört. Das möchte sie der Front vor sich entgegenschleudern. Dann sieht sie die Erregung in den auf sie gerichteten Augen. Es sind die Augen einzelner Gesichter. Das ist keine selbst ermächtigte Instanz, sondern das sind Menschen, die sich getroffen fühlen. Ist es nicht deren Recht zu widersprechen?
Frau H. zieht sich die Decke über den Kopf, um besser nachdenken zu können. Sie hat unverblümt über Menschen geschrieben, die ihre Text nie lesen würden oder die sie nie wiedersehen würde. Warum schreibt sie nicht mit der gleichen Unbedenklichkeit über das, was sich vor ihrer eigenen Haustür abspielt? Sie würde zerrieben werden – von der Scham, sich selbst zensiert zu haben, oder von der Angst, den Reaktionen nicht gewachsen zu sein.
Wer aus sicherem Abstand schreibt, verbreitet seine Vorurteile. Wer aus der Mitte des Geschehens schreibt, verbreitet, was die anderen hören wollen, was ihm nützt oder ihm wenigstens nicht schadet. Das ist doch absurd! Wo bleibt die Wahrheit?
Warum überhaupt schreiben? Frau H. weiß, warum: Sich begrifflich die Welt aneignen, um in ihr vorzukommen – Einfluss also. An der Interpretation der Welt mitwirken, um sich zu verbinden – Kommunikation also. Wo wird die Meinung zur Bedrohung? Wo wird der Einspruch zur Einschüchterung? Macht gegen Macht.
Ist der Feind wirklich der Feind? Frau H. sieht durch einen Spalt ihrer Decke. Die Gesichter haben sich abgewandt, die Köpfe stecken zusammen. Sie kann nicht verstehen, was geredet wird. Was haben sie vor? Frau H.’s Angst wird größer. „Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt. Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen.“ An diesen Spruch erinnert sie sich und das hätte sie gerne den Gesichtern gesagt, um sie abzuwehren, um sie zu öffnen. Aber die hören nicht mehr zu. Haben sie etwas verabredet? Streiten sie? Die einzelnen Gestalten lösen sich voneinander, sie verschwinden in der dunklen Ungewissheit des Traums. Frau H. spürt einen unerträglichen Druck auf ihrer Brust. Das ist der Alb. Der hockt auf ihr. Der grinst sie an. Der weiß ganz genau, dass es zwischen Scham und Angst keinen Ausweg gibt.
Es dämmert. Die Wirklichkeit kehrt ihre helle Seite hervor. Die Heizung knackt. Die Katze zupft an der Decke. Sonne scheint durch die Zweige der Parkbäume. Vom Schlossturm grüßt eine Fahne herüber.
Was hat sie da geträumt? Vom Schreiben und Reden. Frau H. erinnert sich an einen Spruch. Es ist die Inschrift eines Bauernhauses in einem Dorf im Bergell:
„Lascia che pensi ai casi suoi ciascuno
Sagace e scaltro e chiuso il cuor’ conserva
Non scriver’, parla poco, il vito osserva
Credi in Dio solo, ne te fidando alcuno
chi no fa cosi, non puó viver al tempo d’oggi di“.
Eine Freundin hatte ihr den Text übersetzt:
„Wische vor deiner Türe, halte dein Herz verschlossen.
Schreibe nicht, rede wenig, schau das Leben an.
Glaube an den Herrgott und traue keinem.
Wer sich nicht so verhält, kann in der heutigen Zeit nicht leben“
Frau H. denkt an die Familie, die sich das über den Eingang gemeißelt hat. Was haben sie gemacht? Was ist ihnen widerfahren? Und dann haben sie sich eingemauert, sich in der Mitte der Dorfgemeinschaft lebendig begraben.
Nein. Es muss geredet werden. Sprechen und Widersprechen. Frau H. nimmt sich vor, einen Roman zu schreiben.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/09/28/sprechen_und_widersprechen_-_schreiben_und_wieder_schreiben/

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kommentare

  • Hannah Arendt:
    „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt…
    Dieses Risiko, als ein Jemand in Erscheinung zu treten , kann nur der auf sich nehmen, der bereit ist, in diesem Miteinander auch künftig zu existieren, und das heißt bereit ist, im Miteinander unter Seinesgleichen sich zu bewegen…“

    Was ist eigentlich Wahrheit?
    Wem nützt was ich sage/tue?
    Wem schadet es?
    Was stärkt es?
    Was wird dadurch geschwächt?

    und lauter so Fragen, die eine hat, der auch nur Hörensagen und Sagenhören als Informationsquelle zur Verfügung stehen.

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