vonImma Luise Harms 14.10.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Eine Recherche zum Foto (s.u.)
Der Spruch „Für Kinder ist das Beste gut genug“ passt ohne Zweifel auf den Giebel einer Puppenfabrik. Aber die Banderole darunter „Vorwärts immer Rückwärts nimmer“? Das hat doch der Honecker immer gesagt?!
Auf den ersten Blick denkt man: Passt auch – für einen volkseigenen Betrieb, der noch bis 1990 die DDR-Erfolgspuppe „Biggi“ hergestellt hat. Aber darunter steht: „Gegründet im Jahre 1885“ Und ganz oben in der Giebelrundung ist die Jahreszahl angebracht, als diese Fassade gebaut wurde: 1907!
Was stimmt da nicht?
Wäre es möglich, dass das bekannte Honecker-Zitat von einer übereifrigen sozialistischen Belegschaft – vielleicht zu Ehren eines Besuches des Staatsratsvorsitzenden – nachträglich in die Fassade eingearbeitet wurde? Und das im authentischen Jugendstil? Sehr schwer vorzustellen. Und wenn, dann wäre es ein baugeschichtliches Politikum. Was haben die sonst noch alles gefälscht?
Eine Untersuchung der Schrift gibt Anhaltspunkte für und gegen die Theorie. In der Art des Putzes und im Grad seiner Verwitterung sehe ich keine Unterschiede; aber das mit Honecker ist ja auch schon ziemlich lange her. Interessante Hinweise gibt es bei den Schrifttypen. Das „g“ ist in der oberen Zeile genau so jugendstilig verschnörkelt wie in der untersten; die mittlere Honecker-Zeile enthält kein „g“, ist aber sonst schrifttypisch mit der unteren identisch. Einen signifikanten Unterschied gibt es zwischen dem Giebelspruch und den beiden unteren Zeilen: das „n“ ist oben spiegelverkehrt geschrieben. Da müsste mal ein Typograf helfen.
Insgesamt kommt mir diese Theorie aber doch unwahrscheinlich vor: sozialistische Parolen, die architektonisch in die Geschichte eingeschmuggelt werden…
Sollte der Spruch älter sein? Vielleicht ein Sinnspruch der Arbeiterbewegung? Er wird Honecker zugeschrieben, und der hat ihn tatsächlich gerne verwendet, zum letzten Mal wahrscheinlich einen Monat vor dem Mauerfall, nämlich in seiner Rede zum 40. Jahrestag der DDR:
„Soviel steht fest, für uns gilt die in der Gründerzeit der DDR geprägte Losung: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. (Stürmischer Beifall)“
Er sagt nicht „Gründerzeit des Kommunismus“ sondern „Gründerzeit der DDR“. Das war doch 1949! Nun gut, Honecker wusste auch nicht alles. Vielleicht stammt er aus Thüringen und hat den Spruch dort mal gesehen. Fabrikgebäude hat er mit Arbeit und nicht mit Kapital in Verbindung gebracht – was ihn ehrt -, Arbeit mit Arbeiterbewegung, Arbeiterbewegung mit dem Aufbau des realen Sozialismus, der weder von Ochs noch von Esel aufgehalten werden kann, wie er überzeugt war.
Aber erstens stammt Erick Honecker nicht aus Thüringen sondern aus dem Saarland, zweitens ist die Puppenfabrik in Waltershausen eine ganz normale kapitalistische Produktionsstätte. 1885 von Ernst Kämmer und Franz Reinhardt gegründet. 1902 mit der Puppenfabrik Handwerck fusioniert. 1907 der Neubau, der mehrfach erweitert wurde.1916 Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Ab 1958 als VEB „biggi“ verstaatlicht.
Es gab zwar Arbeitskämpfe, so zum Beispiel 1921, als die Augeneinsetzer streikten. Aber es ist nicht bekannt, dass die Kämpfe die Anbringung einer sozialistischen Parole an der Front des Fabrikgebäudes zur Folge hatten.
Was soll das überhaupt heißen: „Vorwärts immer – rückwärts nimmer“? Die Formulierung einer scheinbaren Selbstverständlichkeit verweist auf die darunter verborgene Möglichkeit, das anders zu sehen. Die historische Entwicklung – ob nun kapitalistisch oder sozialistisch – kann also nicht gemeint sein, denn da gibt es keine Wahlfreiheit zwischen vorwärts und rückwärts. Oder soll es die notorischen Ochsen und Esel daran erinnern, dass es Zeitverschwendung ist, wenn man versucht, die Geschichte aufzuhalten?
Der Spruch an der Walterhausener Fabrik ist nicht irgendwo an der Fassade sondern über dem Eingang angebracht. Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die auf dem Weg zu ihrem Broterwerb sind, nähern sich ihm, müssen unter ihm hindurchgehen. Vielleicht fragen sie sich dabei, ob das überhaupt Sinn macht, ob sich die Plackerei lohnt, ob sie nicht doch umkehren und ihren Tag anders verbringen könnten. Da sagt die Arbeitsstätte zu ihnen: Vorwärts! Hier geht’s rein!
Die Arbeiterinnen und Arbeiter bilden eine industrielle Armee unter dem Kommando des Kapitals. Marschierenden Soldaten wird eingehämmert, dass „Vorne“ die richtige Richtung ist, immer nach vorne! Damit werden sie in Tritt gehalten, damit keiner auf die gefährliche Idee kommt, rückwärts wäre eine Option.
Sieben Jahre nach der Anbringung der Parole in Walterhausen marschierten die Arbeiter in die Schützengräben; zurück wurden die meisten getragen. Zur Musik, zu Trommeln und Trompeten marschiert es sich besser; das schweißt zusammen und lässt keinen Raum für Fehltritte und abweichende Gedanken.
1871, nach dem für die Preußen erfolgreichen Frankreichfeldzug, verfügte der frisch gekürte Kaiser Wilhelm I. die Aufstellung einer Militärkapelle im Marinestützpunkt in Wilhelmshaven. Ihre Leitung wurde dem Militärmusiker Carl Latann anvertraut. Schmissige Marschmusik schweißte das Nationalbewusstsein des neuen Deutschen Reiches zusammen. Carl Latann bediente es eifrig. Er schrieb eine Vielzahl von Märschen, die die Kapelle auf Konzertreisen unter die Leute brachte. Einer der Märsche trug den Titel
„Vorwärts immer – rückwärts nimmer!“

P.S.: Die Karriere von Latann endete übrigens 1888 mit einem kurzen Engagement als Kurmusikdirektor in Bad Freienwalde, womit ich dann schließlich doch wieder in meiner Region angekommen bin.

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kommentare

  • “Die Karriere von Latann endete übrigens 1888 mit einem kurzen Engagement als Kurmusikdirektor in Bad Freienwalde …”

    Da wird oderbruch-online.de doch aufmerksam und setzt einen Link zum Beitrag.

    MfG

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