vonImma Luise Harms 10.09.2009

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Zwischen mir und der Fahne auf dem Schlossturm vor meinem Fenster besteht eine persönliche Feindschaft. Ich knurre sie an, wenn ich sie sehe, und sie winkt hämisch zu mir herüber, weil sie weiß, dass ich doch immer wieder gucken muss.
Blöde Herzchenfahne. Was heißt “-chen”? Ein riesiger weißer Lappen mit einem Ampelsignal-roten Industrieherz drauf, so eins wie auf Spielkarten, wie gestempelt, klappsymmetrisch, ohne jede Unregelmäßigkeit. Wie kann man sich sowas nur auf seinen Schlossturm hängen?

“Was hast du bloß gegen ein Symbol, das für zwei Menschen steht, die sich lieben?” wurde ich gefragt? Hah. Ein Herz und eine Seele, was? Das ist kein Symbol, das ist eine Anordnung zur symbiotischen Vereinigung!

Das Schloss ist – ich sagte es an anderer Stelle – ein Hochzeitshotel. Die Paare lassen sich hier trauen; es gibt extra eine Niederlassung des Standesamtes darin. Dann werden Reiskörner gestreut, Baumstämme zersägt, Tauben oder Ballons steigen auf, auch oft in Herzform (die Ballons). Alles wird fotografiert, denn das teure Schloss soll ja im Bild sein, dafür ist ja man extra hergekommen. Und mit drauf ist dann die Ein-Herz-Fahne – wie eine Drohung: vergesst, dass ihr Einzelmenschen seid, die sich selbst gehören; ihr seid jetzt ein “wir”! Und das sieht dann bald so aus: nach außen hermetisch, nach innen in rasende, vor den Kindern und den Nachbarn sorgsam verborgene Kämpfe verbissen, oder im Wir-Krampf immer weiter retardierend, bis alles abstirbt und das rote Herz langsam von innen ganz hohl wird.
Nein, ich habe nichts gegen Familien und Paare, ich bin ja selber Teil von sowas. Aber ich habe was gegen das Diktat der nach außen geglätteten Zweierformation. Bist du schon mal auf einer Hochzeit eigeladen gewesen? Du wirst automatisch im Zweierpack hergebeten (“mit Partner/in”), und da ist weder der Geschäftspartner noch die Doppelkopf-Partnerin gemeint. Die Botschaft ist: Wenn du nicht zu zweit bist, bist du nicht vollständig. Das wiederum ist Psychoterror gegen den Versuch, dem Leben auch allein schöne Seiten abzugewinnen.

Früher hatte das Schloss eine orange Fahne mit Krönchen drauf. Das war auch ein bißchen geschmacklos, aber ging mich nichts an. Sollen sie sich doch selbst blamieren! Für Hochzeiten wurde eine weiße Fahne mit zwei überlagerten, unterschiedlich farbenen Herzen aufgezogen. Das fand ich noch irgendwie stilvoll und angemessen: ein Symbol für den Versuch, sich in Deckung zu bringen!
Der Wind zerschliss erst die Krönchenfahne. Als Ersatz kam eine einfarbige Fahne, ganz dunkel-orange, im Morgen- und Abendlicht könnte man sie für rot halten. Mit der konnte ich mich gut anfreunden. Die Doppelherzfahne was dann aber auch bald hin, an ihrer Stelle wurde dieses schreckliche Herz-Ass aufgehängt. Und weil so viele Hochzeiten da sind, wird sie jetzt gar nicht mehr abgenommen. (Wahrscheinlich gibt es immer mehr Hochzeiten, weil die Leute sich immer öfter scheiden lassen. Und wahrscheinlich lassen sie sich so oft scheiden, weil es so schön ist zu heiraten. Immer romantischer, immer pompöser. Davon lebt das Schloss!)

Einmal hatten sie eine Manager-Tagung drin, die hatten sich ihre eigenen Fahne mitgebracht, da wehte dann das Audi-Symbol überm Turm. Und vor drei Wochen war ne Schwulen-Hochzeit, die hatten eine Regenbogen-Fahne mitgebracht, das war auch schön. Aber am Montag war das Herz-Ass wieder draußen. Da konnte ich aus meinem Schlafzimmer so viel knurren, wie ich wollte, Säure- oder Farbei-Anschläge planen. Die Fahne ist am längeren Hebel.

Letzte Woche habe ich beobachtet, dass die Herz-Ass-Fahne am mittleren Rand auszufransen beginnt. Das Weiße ist schon ganz weggerissen; das rote Herz steht auf einer Seite schon im Freien. Ein paar Tage später hängt die dunkel-orangene wieder draußen. Ich jubiliere, begrüße sie wie eine alte Bekannte, lade zum Bleiben ein. Aber heute morgen:ein weißer Zipfel am oberen Fensterrand! Das blutige Betttuch hängt wieder draußen!
Der Ausriss am rechten Rand ist deutlich zu erkennen. Wer will sich denn vor so einem Bild der durch äußere Kräfte zum Zerreißen bedrohten Einherzigkeit noch fotografieren lassen? Ich freu mich schon auf die Herbststürme!

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