vonImma Luise Harms 21.03.2010

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Im Theater am Rand zeigte Thomas im Rahmen der Ökofilmtour den Film “science under attack”, der darstellt, unter welchem Druck Wissenschaftler stehen (und auch -Innen, aber von denen war im Film nicht die Rede), um ihnen die für die industrielle Entwicklung günstigen Ergebnisse abzumelken.
Ich war als Referentin eingeladen. Zur Beantwortung der Frage: was ist, was kann, was darf, was soll Wissenschaft? Ich hab ein bisschen Popper, Kuhn, Feyerabend und Wikipedia gelesen und einen kleinen Bogen konstruiert, meine Gedanken dann mit meinem Sohn abgeglichen, der gerade eine Hausarbeit zu Wissenschaftstheorie abgegeben hatte.

Leider bin schlecht im Referieren, da mach ich mir dann vorher die Gedanken schriftlich. Und dann wirds noch schwerer, nicht am Text zu kleben. Frei vortragen ist nicht meine Stärke. Deshalb hinterlasse ich es hier als Schriftstück. In eine Flasche stopfen, Korken drauf und ab die Post. Vielleicht findet jemand ein brauchbares Körnchen darin:

Nutzen der Wissenschaft
Verfahren zum systematischen und nachvollziehbaren Gewinnen von Erkenntnissen, die eine solide Grundlage für Entscheidungen sein können. Nach Mach: einfach ausgedrückte Erfahrungen.

Dreipunkt-Klettertechnik für gesicherte Erkenntnis.
1. Benennen der Ausgangsannahme 2. Einbeziehung von nachprüfbaren Beobachtungen 3. Schlussfolgerungen nach nachvollziehbaren Regeln.
Qualität einer wissenschaftlichen These: dass sie falsifiziert werden kann, aber (bisher) nicht ist. Dass sie widerspruchsfrei ist. Dass sie zur Vorhersage besser taugt als andere Theorien. Dass sie bisherige Theorien, die sie ersetzt, mit erklärt.

kohärente Theorien können nicht falsch sondern höchstens bedeutungslos sein
Eine wissenschaftliche Theorie ist wie ein Gebäude. Es wird ständig daran gebaut, sie ist mehr oder weniger prächtig oder nützlich. Ein Gebäude kann zwar unnütz sein, aber nicht falsch. Wenn es zusammenstürzt, heißt das, dass es schecht gebaut war oder nicht mehr gebraucht wird. So wurde nach dem Sieg der Aufklärung die Wissenschaft der Hexenverfolgung bedeutungslos. Der wissenschaftliche Sozialismus ist ein imposantes Gebäude, in dem aber keiner mehr wohnen will.

Wissenschaftliche Theorien brauchen den Widerspruch
Jede wissenschaftliche Arbeit ist Kontext-bezogen. Sie liefert ein Argument in einer komplexen Struktur von Thesen. Zitate und Quellen werden gekennzeichnet. Beides ist zunächst nicht eine Frage des Eigentumsanspruchs, sondern für die Nachvollziehbarkeit. Denn die Diskussion über wissenschaftliche Ergebnisse ist ein wichtiger Beitrag zu ihrer Erhärtung. Erst im Widerspruch zeigt sich, ob die Idee was taugt. Es müsste deshalb ein Anliegen aller Wissenschaftler sein, ihre Ergebnisse so breit wie möglich zugänglich zu machen, gerade auch dem nicht-wissenschaftlichen Publikum. Denn von hier kann der Widerspruch kommen, der hilft die eigene Betriebsblindheit zu überwinden.

Wissenschaft als Herrschftstechnologie
In hochzivilisierten, hochtechnisierten, auf Ressourcen-Ausbeutung beruhenden Gesellschaften ist Wissenschaft aber selbst Herrschaftstechnologie. Wer einen funktionierenden Wetterfrosch besitzt, wird ihn nicht öffentlich ausstellen sondern geheim halten, um aus dem Vorwissen einen Vorteil zu ziehen. Und um zu Vorwissen zu gelangen, hält man sich einen Wetterfrosch.
Machtausübung begründet sich auf die Verfügung über Herrschaftswissen. Natürlich sind die wissenschaftlichen Ergebnisse zur kriegsrelevanten Nanotechnologie-Forschung nicht frei zugänglich. Und die Einhaltung streng wissenschaftlicher Vorgehensweisen ist hier nicht für die allgemeine Nachvollziehbarkeit von Bedeutung sondern für ihre Verwertbarkeit für den Auftraggeber.

Wissenschaft als Legitimationstechnik
In einer offenen Gesellschaft dient Wissenschaft als Legitimierung. Wo sich gesellschaftliche Konflikte entwickeln, werden Wissenschaftler ins Feld geführt. Ihre Aufgabe ist nicht mehr zu untersuchen, sondern zu rechtfertigen. (Beispiel Gentech, CCS) D.h. die Ausgangsannahme ist durch den Auftraggeber vorgegeben; ihre Aufgabe ist nun, die Richtigkeit der Ausgangsannahme durch Untersuchungen und tadellose logische Schlussfolgerungen abzusichern. Ein von Vattenfall bezahlter und zu Podiumsdiskussionen geschickter Wissenschaftler, der öfentlich nachweist, das ein Drittel aller Elektro-Energie ohne jeden Gebrauchswert verpulvert wird, ist sofort seinen Job los: er hat schlicht an der falschen Prämisse gearbeitet.

Zurichtung der Fragestellungen
Es wird viel unternommen worden, um bereits die Neugier nachfolgender WissenschaftlerInnen in eine funkionalisierbare Richtung zu lenken und Kontrolle über die Fragestellungen auszuüben. Der neoliberale Geist in den Hochschulen kommt dem entgegen: 1. Hochschul-Rankings unter dem reduzierten Gesichtspunkt der Verwertbarkeit. 2. enge Kooperation mit den wirtschaftlichen Interessen über die Verschulung des Studiums 3. Verschiebung der Finanzierung von staatlichen Geldern auf Drittmittelforschung. Schon halten sich Konzerne eigene Hochschulen. Da sie über mehr Kapital verfügen, können sie ihre wissenschaftliche Arbeit besser ausstatten. Die Wissenschaftler laufen ihnen zu, weil sie auf Veröffentlichungszahlen und Rankings angewiesen sind.

Das Dilemma der Betroffenen
Das Dilemma des Publikums, also der Betroffenen: Thesen und Zusammenhänge, die über den Horizont der eigenen Erfahrungen hnaus gehen, können nicht ausschließlich mit „gesundem Menschenverstand“ beurteilt werden. Letzten Endes muss man sich immer wieder entscheiden, wem man glauben will. Das führt zu der paradoxen Situation, dass Kritikerinnen mit der Wissenschaft gegen die Wissenschaft kämpfen.

Wie kritisch sind kritische WissenschaftlerInnen?
Sind kritische WissenschaftlerInnen verlässliche Anwälte? Nicht zwangsläufig. Denn 1. Auch für WissenschaftlerInnen gilt das „Stockholm-Syndrom“: wenn sie sich in der Minderzahl lange zwischen den ExpertInnen mit gegenteiliger Auffassung bewegen, wird deren Anerkennung für sie zum Schluss wichtiger als die aus der kritischen Gemeinde. Das „Stockholm-Syndrom“ könnte eine der Ursachen für Paradigmenwechsel in den wissenschaftlichen Schulen sein. 2. Auch kritische WissenschaftlerInnen operieren auf dem gleichen Zeichensatz. D.h. grundsätzliche Vorannahmen und Methode, die Bestandteil der tragenden Ideologie sind, werden meist nicht in Frage gestellt, z.B. statistische Methoden, Quantifizierbarkeit, Qualitätskriterien.

Spielraum für die sience user / Betroffenen
Wie können Betroffene das Dilemma gegenüber der Wissenschaft überwinden?
1. Genau nach den Prämissen fragen, nach der Fragestellung und nach ihrer Relevanz für den/die ForschendeN.
2. Stets auf einem „fairen Prozess“ bestehen, also alle Interessengruppen brauchen Anwälte, die den vertretenen Meinung mit wissenschaftlicher Sorgfalt nachgehen. Entscheidungen fallen dann immer außerwissenschaftlich.
3. Auf der Relevanz der eigenen Wahrnehmungen und vor allem der eigenen Interessen bestehen. Sie sind es, die letztlich auch der Wissenschaft die notwendigen neuen Impulse zur Veränderung ihrer Fragestellungen verleihen.
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Diese letzte Aussage ist eine der Kernaussagen von Feyerabend und Kuhn und wird in dem Film sehr schön von einem der Wissenschaftler bekräftigt.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2010/03/21/wissenschaft_am_rand/

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kommentare

  • Die Schlussfolgerungen finde ich sehr gut. Ich habe gerade unsere Thesen zur Landschaftskommunikation noch einmal kommentiert und bin zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Die Wissenschaft muss ihr Monopol auf anerkanntes Wissen aufgeben, was relevant ist, entscheidet sich in einem Aushandlungsprozess, in dem alle verschiedenen Aneignungsweisen zunächst ein Recht haben. Als Instanz in so einer Auseinandersetzung ist die eigene Wahrnehmung unverzichtbar. Das führt nicht automatisch zu einem Diskurs, in dem die geltenden Machtprinzipien durchbrochen werden, aber es erzeugt Bewegung und ermöglicht Lernprozesse.

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